"

"

bis zwanzig Jahren in bürgerlichen Familien mit gutem Ge­schmack als eine Albernheit verachtet; nur Offiziere und über­schnappte Kaufgesellen"( Kommis) machten auch die bürgerlichen Damen gnädig". Der bäuerliche oder kölmische Guts besizer hieß geehrter Herr" oder auch bloß Herr"( platt deutsch meistens Herrke"), die Frau Madam"," Madamke", die Tochter Mamsell"," Mamsellfe". Hauslehrer, namentlich Kandidaten, zeichneten sich in der Regel dadurch aus, daß sie die Frau Ma Dame"( dreisilbig) und die Tochter mit fünf deutlichen langen Silben Mademoiselle" nannten. Hatten die Herren noch eigene Titel, wie Graf, Baron, Rittmeister, Landrat 2c., so wurden diese angefügt. Lieutenant" wurde von adeligen Herren verschmäht, von bürgerlichen dagegen gern benuzt. Den Bauer nannten die Dienstleute Wirt", die Frau Wirtin", in manchen Gegenden auch Bur" und Bürsche". Der Gärtner ( Instmann) wurde vom Scharwerker, den er halten mußte," He", " Hei"( Er), dessen Frau Se"," Sei"( Sie, das weibliche Wort zu Er") genannt. Daß ein Bauer Herr" genannt werden könnte, habe ich erst in den fünfziger Jahren in der Memel Niederung und zwar zu meinem großen Erstaunen er­fahren. Als ich im Seminar war( 1850), adressirte ein etwas stolzer" Seminarist die Briefe an seinen Vater, einen Bauer: An den Herrn Besizer B." Ein Seminarlehrer benuzte dieses Vorkommnis, um uns in einer Stunde höchst ernsthaft aus einanderzusezen, daß es sehr unschicklich sei, einen Bauer Herr" zu tituliren; auch der Sohn dürfe es nicht tun. Die Titular­cs Ordnung wurde den Dienstleuten vorgeschrieben. Ende der dreißiger Jahre faufte ein adeliger Lieutenant ein Rittergut von einem Herrn Meyer, welchen die Leute hochgeehrter Herr" titulirt hatten. Als der neue Besizer eingezogen, wurden sämmt­liche zu dem Gute gehörigen Leute zusammengerufen und ihnen mit eindringlicher Rede eingeschärft: ihren neuen Herrn hätten sie nicht hochgeehrter Herr", sondern gnädiger Herr", seine Frau gnädige Frau", ihre Schwester( Kinder hatte die neue " Herrschaft" noch nicht) gnädiges Fräulein" und die Mutter der gnädigen Frau, eine Generalswittwe, Exzellenz" oder

"

"

Charles Dickens , sein

" 1

Nach dem großen Erfolge, welchen Dickens mit der Ver­öffentlichung der Pickwickier erzielt hatte, gab er zu Anfang des Jahres 1836 seine Tätigkeit als parlamentarischer Bericht­erstatter auf und widmete sich von nun an ganz der Schrift stellerei. Am 21. April 1836 verheiratete er sich mit State Hogarth, der ältesten Tochter seines Mitarbeiters am Morning Chronicle" George Hogard. Im Januar 1837 ward ihm der erste Sohn geboren; ihm März desselben Jahres verließ er seine etwas unbequeme Wohnung in Turnivals Inn und zog nach Doughty Street Nr. 48. Jm März 1838 fam hier seine älteste Tochter, Mary, zur Welt, im Oktober 1839 seine zweite Tochter Kate; furz nach deren Geburt bezog die Familie ein schönes Haus mit großem Garten in Devonshire Terrace und hier erblickte am 8. Februar 1841 sein viertes Kind, ein Sohn, das Licht der Welt; diesem folgten im Laufe der Jahre noch vier Geschwister. Dickens war ein höchst zärtlicher Vater, er liebte besonders seine Töchterchen leidenschaftlich, ging ganz auf ihre Ideen ein und bot alles auf, ihnen eine heitere, glückliche Jugend zu bereiten. Er erzählte einst einem Freunde, daß seine beiden kleinen Töchterchen sich einen ganzen Abend lang ab­gemüht hatten, ihn Polka tanzen zu lehren, weil am anderen Tage ein Kinderfest war, wo sie mit ihm tanzen wollten. In der dazwischen liegenden Nacht wachte er auf und machte sich Gedanken darüber, ob er wohl den Tanz noch könne, und troz der im Zimmer herrschenden Winterkälte ſteht er mitten in der Nacht auf und probirt, Polka zu tanzen, Doch diese und siehe, am anderen Tage ging es vortrefflich!- häuslichen Freuden beschränkten ebensowenig als die Leiden späterer Jahre seine literarischen Arbeiten. Mit frischem Mute

was tut er?

-

-

601

"

Frau Exzellenz", ich weiß das nicht mehr genau, zu nennen. ( Die Leute nannten sie in der Regel gnädige Frau Exzellenz".) Das gab lange Zeit großen Wirrwarr unter den Leuten und Stoff zu boshaften Bemerkungen. Es wurde auch von Strafen gesprochen für diejenigen, welche nicht richtig titulirten; ob solche wirklich angedroht oder gar vollzogen worden, weiß ich nicht. Und diese Anordnungen wurden getroffen und für wichtig ge= halten von einem Manne, der schon nach wenigen Jahren als einer der liberalen" Edelleute Ostpreußens berühmt geworden ist. Aehnliches habe ich später von einem bürgerlichen Guts­besizer erlebt. Er war immer nur geehrter Herr" gewesen. Eines Tages fiel es ihm ein, er müsse eigentlich ein hoch­gechrter Herr" sein; er sagte das den Leuten, aber sie wollten es nicht glauben, und erst, als er einen ziemlich vollständigen Wechsel durchgeführt, konnte er sich ohne Aerger des neuen Prädifats erfreuen.

"

-

-

das

Ob die Lust zu solchen Schrullen sich verloren hat? Die Stufen mit hochgeehrter" und gechrter" sind wohl ver­schwunden; aber alles schwunden; aber alles ich möchte fast mit dem wiener will jezt gnädig" Droschken- Kutscher sagen a jed Lump" sein. Die Herren Gutsbesizer, auch die liberalen" Wort kann anständigerweise ohne Gänsefüßchen gar nicht mehr gebraucht werden sind neuerdings auf militärische Titel ver­sessen, und der Leutnant" oder Reserveleutnant " präsentirt sich heutzutage überall im Ochsenstall und in der Torfgrube, als Schweinezüchter und Kuppscheller( Roßtäuscher), beim Klatsch und in der Schlafstube, und in seiner Gegenwart muß die Kindsmargell" zur gnädigen Frau Tante" sagen: 3' schön, dem Herrn Leutnant sein Kleinstes! Die gnäd'ge Frau Leutnant ach, da schimpft sie ja schon!" Was ist's? Sie hat eben die Geburtsanzeige in der Zeitung gelesen, und da steht unter dem Namen ihres Mannes nicht bloß ,, Leutnant," sondern ,, Res.- Lieut." Wohin hat mich das Preußische Wörterbuch" geführt?- Man sieht, es ist mehr darin, als der Titel verheißt, und manches- Wort gibt zu bedeutsamen Erinnerungen und auch zu ernsten Betrachtungen Anlaß.

-

Leben und seine Werke.

( Schluß.)

fämpfte er weiter gegen die moralischen Mißbräuche seiner Zeit, und dies stets mit dem Stachel seines wohlwollenden Humors und mit seinem erschütternden Patos!

Der Roman Oliver Twist ", welcher im Jahre 1838 er schien, schilderte die Lebensgeschichte eines Knaben, der im Armenhause geboren wird; von hartherzigen Gemeindeaufsehern erzogen, wird er in die Welt hinausgestoßen, aber es ist herr­lich geschildert, wie das Gute in diesem armen Kinde, troz aller Versuchung, immer wieder siegt; es bleibt rein inmitten des Lasterpfuhles, in welchen man ihn stieß. Meisterhaft ist die Schilderung der Verbrecher und der Untaten derselben; hierin liegt der Hauptwert dieses Buches: das Laster wird nie be­mäntelt oder gar anziehend geschildert, sondern scharf und klar gezeichnet und in seinen richtigen Konsequenzen dargestellt. Oliver Twist hat der Welt einen großen Dienst geleistet! Es würde zu weit führen, auf einzelne Szenen hier näher einzu­gehen; nur eine mit erschütternder Naturwahrheit gegebene Schil­derung wollen wir hervorheben; es ist das die Szene, in welcher die edle Rosa, eine Dame in glücklichen Lebensverhältnissen, die Diebin Nancy aus ihrer schlechten Umgebung erretten und in ihr Haus aufnehmen will; allein die Diebin will sich nicht aus ihrem Sündenpfuhl erheben lassen, weil sie den Verbrecher und Mörder Sikes liebt. Sie sinkt der edlen Dame zu Füßen und ruft im tiefsten Schmerze:

Sie sind die erste, die mich mit solch erbarmenden Worten beglückt, und hätte ich diese vor Jahren gehört, so wäre mir ein Leben voll Sünde und Elend erspart geblieben. Aber jezt iſts zu spät, es ist zu spät!"

" Reue und Buße kommt niemals zu spät!" entgegnete Rosa.