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Ich kann nicht, ich kann nicht," rief die Diebin im Herbsten Seelenschmerze. Wenn Mädchen, wie ich, die kein sicheres Dach haben, als dereinst den Deckel ihres Sarges, keinen Freund in der Stunde der Krankheit oder des Todes, als die Spitalwärterin, wenn solche Mädchen ihr verderbtes Herz an einen Mann hängen und ihn darin die Stelle der Eltern, der Heimat, der Freunde ersezen und die Leere ausfüllen lassen, welches es ein ganzes, nichtwürdiges Leben über fühlte, wer kann da hoffen, solche Geschöpfe zu bessern! Bemitleiden Sie uns, beklagen Sie uns, daß uns nur dies einzige weib­liche Gefühl geblieben ist, und daß dies eine Gefühl, statt unser Trost und Stolz zu sein, durch Gottes schwere Richterhand eine neue Duelle des Fluches und der Leiden für uns werden muß. Nein, nein, ich kann nicht mehr zurück, ich bin mit chernen Banden an mein früheres Leben gekettet, ich bin zu weit ge­gangen, um umkehren zu können! Gott   segne Sie! Gute Nacht!" Nach Oliver Twist  " erschien bald Nicholas Nickleby  ". Nebst den scharfen Seitenhieben auf die damaligen schlechten Schulen ist auch in diesem Buche die freie Detailmalerei be­wunderungswürdig. Der Humor ist frischer und naturwüchsiger als in Oliver Twist  ". Thakeray erklärte den Brief der über­spannten affektirten Schullehrerstochter Fanny Squeers an Ralph Nickleby, worin die Schilderung der Rache Nicklebys an ihrem Vater, dem grausamen Schullehrer, enthalten ist, für das beste, was jemals in diesem Genre geschrieben wurde, und versicherte einen Freund, er sei, als er diesen Brief zum erstenmale las, vor Lachen von seinem Stuhle gefallen.

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Rasch nacheinander erschienen nun Master Humphreys Wanduhr", der Raritätenladen und Barnaby Rudge". Von diesen sand der Raritätenladen" den größten Beifall. Einer der besten englischen Kritiker sagte hierüber:" Ich kenne keine Erzählung, welche geeigneter wäre, all' dasjenige im Menschen­herzen zu stärken, was der Hilfe und Aufmunterung am meisten bedarf." Ueber den Tod der kleinen Nell sagt Dickens   selbst: Als ich zuerst anfing, meine Gedanken auf diesen Schluß zu richten, beschloß ich etwas zu schreiben, was von allen Leuten, denen der Tod schon nahe getreten, mit besänftigendem Gefühle und mit Trost gelesen werden könnte."

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Um diese Zeit traf Dickens   selbst ein großer Kummer, der Tod seiner Schwägerin Mary Hogarth. Dieselbe war eine jüngere Schwester seiner Frau und lebte ganz bei der Familie Dickens  . Sie war nicht nur sehr schön, sondern auch höchst begabt und von edlem Karakter. Ihr Freundschaftsverhältnis zu Dickens   war im schönsten und besten Sinne des Wortes eine Gemeinschaft edler Seelen. Sie war würdig, das Ideal eines Dichters zu sein, und übte nicht nur auf Dickens  , auf dessen Frau und Kinder, sondern auf alle, welche sie näher kannten, einen wohltuenden Einfluß aus. Kaum siebzehn Jahre alt, starb sie plözlich, ohne eine Stunde krank gewesen zu sein, an einem Herzschlage. Der furchtbare Schrecken sowie der un sägliche Schmerz warfen Dickens   so darnieder, daß er frank wurde und monatelang nicht arbeiten konnte. Noch nach Jahren schrieb er hierüber an einen Freund: Ich glaube nicht, daß es je eine Zuneigung gab, wie die, welche ich zu ihr fühlte! Ihr Tod wirft einen furchtbaren Schatten über mich, und ich fann mich faum fortbewegen. Niemand wird sie mehr ent behren, wie ich. Ihr Verlust ist so tief schmerzlich für mich, daß ich meinen Kummer nicht auszudrücken vermag."

Und dieser Kummer war nicht der einzige, der Dickens Leben verbitterte. Noch grellere Dissonanzen machten sich fort­während in seinem Hause fühlbar. Trozdem ruhte die fleißige Feder nicht. Er entschloß sich sogar, eine Reise nach Amerita anzutreten, und schildert die Eindrücke, welche ihm dieser Aus­flug machte, in meisterhafter Art in seinen Notizen über Amerika  ". Bald nach seiner Rückkehr erschien auch das lieb­liche Weihnachtslied" und" das Heimchen auf dem Herde", welche beide reizende Geschichten dem Verfasser viele Freunde erwarben.

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In dem 1844 erschienenen Roman Martin Chuzzlewitt" finden wir oft Spuren von Uebermüdung, welche sich durch eine

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gewisse Unnatürlichkeit einerseits, durch Manierirtheit in Durch­führung der Karaktere anderseits kennzeichnen. Die Gestalten dieses Romans sind nicht mit der gewohnten Sorgfalt ausge­arbeitet; viele Szenen sind übertrieben und lassen deshalb kalt. Allein diese Mängel dürfen uns nicht Wunder nehmen, wenn wir bedenken, wie viel Dickens   im Laufe weniger Jahre ge­schrieben hatte, auch gönnte er seinem Geiste zu wenig Ruhe, und war, infolge trauriger Familienerlebnisse, in heftigem, inneren Kampfe und mit sich selbst nicht im klaren.

Während dieses quälenden Seelenzustandes schrieb er Bleak­ House  " und" Little Dorritt". Beide Werke zeigen viele Eigen­tümlichkeiten seiner Muse, aber troz vieler Schönheiten wirkt bei beiden der Schluß enttäuschend. Das wunderbare Buch Dombey und Sohn" erscheint wie ein Uebergang in eine reinere Region. Wir fühlen beim Lesen dieses Buches, wie es in dem Dichter wogt und gährt, aber der geistige Horizont klärt sich wunderschön auf, die Sprache wird immer klarer, immer edler, die Lösung ist versöhnend und milde; allein an ergreifender Echtheit und Wahrheit der Empfindung steht doch der Roman David Copperfield" am höchsten. Bei dem Lesen dieses Meister­werkes vergißt man, daß man nur liest; man erlebt alles mit. Der Dichter belehrt und ermahnt nicht mir, er erschüttert den Leser ins tiefste Herz hinein! Welch ein liebevoller Geist durch­weht dieses Buch! Wie weiß Dickens   rege Teilnahme zu er­wecken für die, welche vom Unglück verfolgt, dennoch demselben nicht unterliegen, sondern mutig weiter kämpfen im Vertrauen auf die ewigen Grundsäze der Wahrheit und Rechtschaffenheit, welche auch Ungebildeten nicht fremd sind und in den niedrigsten Hütten eben so lebendig gefunden werden, wie in den Palästen der Reichen! Keines seiner früheren Werke ist so bewun dert worden, wie David Copperfield", feines hat dem Dichter wärmere Teilnahme in allen Kreisen erworben, als dieses Buch, denn man vermutete damals schon, daß es zum größeren Teil eine Selbstbiographie sei. In welcher Beziehung und in welchem Grade dies der Fall war, erfuhr die Welt erst nach seinem Tode.

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Wir wissen aus Goethes Leben, daß er Werthers Leiden  schrieb, um sich von einer unglücklichen Liebe zu heilen. Dickens  schrieb David Copperfield  ", um über sich selbst und seine unglücklichen Verhältnisse ins Klare zu kommen. Es ist nötig, darauf aufmerksam zu machen, daß die Annahme, David Cop­ perfields   Schicksale seien mit denen von Dickens   durchaus iden­tisch, eine irrige ist; dem ist denn doch nicht so; die traurigen Erfahrungen im Knabenalter sind in David Copperfield  " natur­und wahrheitsgetreu wiedergegeben, allein das gilt nur teilweise von den schmerzlichen Täuschungen des reiferen Mannesalters. Dickens   schrieb kurz vor seiner Scheidung von seiner Gattin an einen Freund: So seltsam es auch ist, daß der Mensch nie in Ruhe und nie befriedigt sein kann und immer nach etwas strebt, welches nie erreicht wird, so daß man immer mit Plänen und Sorgen und Mühe beladen ist, so ist es doch klar und unumstößlich, daß es so sein muß und daß man durch eine unwiderstehliche Macht getrieben wird, bis die Fahrt vollendet ist. Aber es ist viel besser, vorwärts zu gehen und sich zu grämen, als stehen zu bleiben und zu verzweifeln." Dann kommen Andeutungen über die Enttäuschungen des Her zens," welche er in dem Roman David Copperfield" so aus­drücklich als den Schatten seiner ersten Ehe bezeichnete, und am Schlusse des Briefes sagt er: Wie kommt es, daß, wenn ich jezt in trübe Stimmung falle, immer ein Gefühl über mich kommt, wie bei dem armen David, von einem Glücke, daß ich im Leben verfehlt, und von einem Freund und Genossen, den ich nie gefunden habe?"

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Dieser innere Konflikt wird in" David Copperfield" durch den Tod gelöst, die kindische, fleine Dora, welche bei aller Liebenswürdigkeit doch ihrem Gatten nicht geistig ebenbürtig war, stirbt, und David findet in seiner langjährigen Freundin Agnes eine Seele, welche ihn ganz versteht und würdigt. Mit diesem schönen, seltenen Bilde einer reinen Seelenharmonie in der Ehe schließt das Buch.