man einwenden, begegnen wir auf unsern öffentlichen Pläzen nicht auch oft Darstellungen von Göttern und Göttinnen und allegorischen Figuren, die zumteil treffliche Kopien anerkannter Meisterwerke sind? Wohl wahr, aber volkstümlich sind diese Gestalten nicht. Ein Zeus, eine Venus, ein Bacchus und die andern mytologischen Herrn und Damen waren in Griechenland  und Rom   durchaus populäre Idealwesen, sie waren die reli­giösen Ideale des Volks, das mit ihrer Persönlichkeit und Geschichte innigst vertraut war. Heutzutage haftet ihnen der Staub der Gelehrsamkeit und Bücherbildung an, und so hoch auch ihr poetischer und künstlerischer Wert unstreitbar ist, volks­tümlich sind sie nicht.( Gewiß würden auch die klassischen Werke unserer poetischen Heroen Goethe und Schiller an Volkstümlich feit viel gewonnen haben, wenn sie den mytologischen Apparat weniger in ihren Dichtungen verwertet hätten.) Der christliche Legendenkreis aber bot zwar der Malerei viel, der Plastik aber nur sehr geringe Ausbeute, und so war es natürlich, daß sich die Künstler, wollten sie bekannte Idealfiguren meißeln, immer wieder auf die Götter- und Heroenwelt der Griechen angewiesen sahen. Ja, das Christentum war vermöge seiner Sinnenfeind lichkeit, seiner Auffassung des Fleisches als teuflisch und seiner Prüderie eine geschworene Feindin der Plastik, sofern sie die Darstellung schöner Körperformen sich zum Ziele sezt, was in der Tat ihre eigentlichste Aufgabe ist. War doch das Nackte dem Christentum so sehr anstößig, daß noch nach der Blütezeit der Renaissance ein bigotter Pabst die nackten Figuren auf dem Jüngsten Gericht des Michelangelo   in der sirtinischen Kapelle zu Rom   von einem Maler mit Kleidern übermalen ließ, der dafür den Spiznamen der Hosenmacher" einheimste.

Und dies führt uns auf eine weitere Ursache, weshalb die Plastik in unserer Zeit sich so geringer Popularität erfreut. Die Plastik ist eine nachahmende Kunst, sie bringt die Schön­heit des Menschenleibes in idealer Vollendung zur Anschauung.

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Wie will man aber das Kunstwerk begreifen und würdigen, wenn man die Natur, die in dem Kunstwerk ihre ideale Ver­klärung finden soll, nicht kennt! Wie recht hat Goethe, wenn er in seinen Briefen aus der Schweiz   flagt: Ein bemooster Fels, ein Wasserfall hält meinen Blick so lang gefesselt, ich kann ihn auswendig; seine Höhen und Tiefen, seine Lichter und Schatten, seine Farben, Halbfarben und Widerscheine, alles stellt sich mir im Geiste dar, so oft ich nur will, alles kommt mir aus einer glücklichen Nachbildung ebenso lebhaft wieder entgegen; und vom Meisterstück der Natur, vom menschlichen Körper, von dem Zusammenhang, der Zusammenstimmung seines Gliederbaues, habe ich nur einen allgemeinen Begriff, der eigentlich gar kein Begriff ist. Meine Einbildungskraft stellt mir diesen herrlichen Bau nicht lebhaft vor, und wenn mir ihn die Kunst darbietet, bin ich nicht imstande, weder etwas dabei zu fühlen, noch das Bild zu beurteilen." Wie soll es aber in dieser Hinsicht besser werden, wenn das ästetische Orakel unserer Zeit, der übrigens sonst recht vernünftige Vischer, vulgo Scharten­mayer, sich darüber entsezt, daß Frauen auf Bällen ihre Arme so weit entblößen, daß man zuweilen horribile dictu!- die Haare in den Achselhöhlen sehen kann! Schauderhaft für­wahr!

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Wenn die Plastik volkstümlich werden soll, so müssen die Künstler, wie der Schöpfer der Loreley  , volkstümliche Sujets wählen; sodann muß dahin gestrebt werden, daß die plastischen Kunstwerke an hiezu geeigneten öffentlichen Pläzen aufgestellt, nicht aber in Museen wie in einer Trödelbude zusammengepfercht werden, wo sie ohnehin ihre volle künstlerische Wirkung nicht entfalten können. Vor allem aber erhebet euch über jene philister­hafte Brüderie, welche es als ,, unmoralisch" betrachtet, sich an der herrlichsten Manifestation der Schönheit, am Menschenleib, seinen rhytmischen Formen und Linien und dem Schmelz des Inkarnats, ästetisch zu erquicken.

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Unsere Illustrationen.

Der Rattenfänger von Hameln.( Seite 609.) Ob diese merkwürdige Geschichte eine Sage ist oder nicht, darüber streiten sich heute noch die Gelehrten. Unserer Ansicht nach ist sie eine Sage mit historischen An­fnüpfungspunkten. Der lezteren sind viele und wir überlassen dem Leser diejenigen auszusuchen, die ihm am besten zusagen. Nach der Sage war die gute Stadt Hameln   im dreizehnten Jahrhundert der­maßen von Ratten und Mäusen geplagt, daß die Bürger es innerhalb ihrer Wohnungen kaum mehr aushalten konnten. Da tam ein fremder Gesell", phantastisch gekleidet, nach Hameln  , trat vor den Rat und erbot sich, gegen eine Summe Geldes das Ungeziefer zu beseitigen. Man sagte zu, und der fremde Gesell zog, auf einer Pfeife wundersame Weisen spielend, durch die Straßen. Da stürzte aus den Häusern der ungeheure Schwarm der Ratten und Mäuse und zog, wie von einem Zauber erfaßt, hinter dem geheimnisvollen Mann drein, der in die Weser   sprang und dort auf seiner Pfeife weiter spielte. Die Ratten und Mäuse sprangen nach und eitranken sämmtlich. Ob die Hamelner   nun den Fremden für den leibhaftigen Satan hielten oder für etwas anderes furz, sie verweigerten ihm den versprochenen Lohn. Diese Schäbig­keit erbitterte den Pfeifer und er rächte sich auf eine furchtbare Weise. Am Sonntag darauf, am 26. August 1284*), zog er wieder durch die Stadt, während die Bürger sich im Gottesdienst befanden. Er blies auf seiner Pfeife wiederum seltsame Weisen, und sogleich kamen alle Kinder aus den Häusern und liefen hinter dem Pfeifer drein. Er führte sie aus dem Ostertor nach dem Koppelberg, der sich öffnete; der Pfeifer Schritt hinein, die Kinderschaar ihm nach. Darauf schloß sich der Berg, und man sah von den Kindern niemals etwas wieder. Ein Kind, das zurückgeblieben war und erst an den Berg ankam, als sich die Kluft wieder geschlossen hatte, erzählte den jammernden Eltern die Rache des Pfeifers; nach Andern sah eine Wärterin die Sache mit an. Die Kinder sollen nach einer anderen Wendung in Siebenbürgen   wieder zum Vorschein gekommen sein, wo man dann die Hamelnsche Mundart gehört haben will. Das ist die Sage, die die verschiedensten Ausle­gungen und auch ihren Dichter gefunden hat. Julius Wolff   hat den Rattenfänger zum Helden seines trefflichen Epos, Der Rattenfänger von Hameln" gemacht. Die Stadt hat den Dichter geehrt, indem sie *) Dies ist das gewöhnliche Datum, das angegeben wird. Andere, darunter der Hameln  'sche Geschichtschreiber Sprenger, gaben den 26. August 1259 au.

ihm jüngst ein großes Fest gab und ihn zum Ehrenbürger von Hameln  machte. Aber wie mag diese Sage entstanden sein? Am neuen Tor befindet sich ein Stein, auf dem eine Inschrift sich befindet, die 1556 angebracht ist und von dem Auszug berichtet, der am 26. August 1284 ( 1259) stattgehabt haben soll. Gleichzeitige Chronisten berichten indessen nichts davon. Dann hat man die Bungelose- Straße( Bummellose, Trommellose Straße), durch die der Auszug vor sich gegangen sein soll und in der wegen dieses traurigen Ereignisses feine Bunge( Trommel) mehr ge­rührt wurde. Am Koppelberg standen zwei Kreuze, die den Eingang bezeich neten; sie sind nicht mehr da. Eine Menge Gemälde und Inschriften bezogen sich auf die Sage; sie sind bis auf wenige Inschriften gleich­falls verschwunden. Man hat die Sage auch mit der Schlacht von Sede­münder( 1259) in Verbindung gebracht, wo die Hamelner   gegen den Bischof von Minden   kämpften und wo die Blüte ihrer Jugend fiel. Man nimmt an, ein Pfeifer habe die Jugend zum Kampf angefeuert und zum Auszug gegen den Bischof gebracht. Sie famen in Siebenbürgen  wieder heraus"- d. h. die Ueberlebenden kamen über die sieben Berge, die zwischen Hameln   und Minden   liegen, zurück. Leibniz, der große Denker, hat sich auch mit der Sache beschäftigt und unserer Meinung nach die scharfsinnigste Erklärung gegeben, indem er die Sache mit den gleichzeitigen ,, inderkreuzzügen" in Verbindung brachte, jenen Aus­geburten eines heute unbegreiflichen Fanatismus, welcher dazu verführte, arme Kinder in den sicheren Untergang zu schleppen. Uebrigens können auf diese Weise sehr leicht Hameln  'sche Kinder nach Siebenbürgen   ver­schleppt worden sein. Schließlich sei erwähnt, daß ähnliche Sagen in Frankreich   und Irland vorkommen. In Frankreich   soll ein Pfeifer aus einem Dorfe bei Paris   aus Rache sämmtliches Vieh weggebracht haben. Die irische Sage ist von Dr. Kirkpatrik in Verse gebracht worden. Wir sezen den Schluß seines Gedichts nach einer alten Uebersezung- hierher:

Der Berg( wer hört dies wohl, wer denkt dies ohne Grauen?) Springt in der Mitte auf und läßt in tiefen Gründen Des Schreckens und der Nacht gar keine Grenzen finden. Der Böswicht, dem das Herz mit Satansfreuden lacht, Springt in die Gruft hinein, weil noch aus neuer Macht Der Pfeife Ton erschallt und der betörte Haufen Im gleichen Freudensprung sich drängt, ihm nachzulaufen, Der Höhlen trumme Wand erschüttert ob dem Schall Und schickt durch Nacht und Graus den ersten Widerhall. Drauf schließt sich schnell und fest ihr kaum gestillter Nachen Und Tausend müssen hier ihr End' und Grabstätt' machen.