Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
septe, auf ein geradezu unerträgliches Niveau der Lebenshaltung herabgedrückt. Doch wie Parzivals Speer die Wunde heilte, die er schlug, trug auch dieselbe Entwickelung in ihrem Schooße das revolutionäre Element.
Die Neubildung Deutschlands aus einem reinen Ackerbaustaat in ein vorwiegendes Industrieland, die Mitte unseres Jahrhunderts einsetzt und in immer schnellerem Tempo fortschreitet, hatte nicht nur an sich der Bevölkerungsvermehrung einen starken Aufschivung gegeben, sondern speziell auch die Vertheilung der Bevölterung fundamental verändert. Die Großindustrie saugte an Arbeitskräften auf, was irgend frei wurde, und zog die Bevölkerung in die riesig anwachsenden großen Städte. Die Folge war, daß das ehemalige Getreideausfuhrland bald seinen Vorrath an Brotkorn vom Ausland ergänzen mußte. Die Die Konkurrenz der ausländischen Getreideausfuhrländer, die größtentheils unter günstigeren Naturbedingungen produziren, übt andauernden Druck auf die Getreidepreise aus, und troß aller Kornzölle fann die deutsche Landwirthschaft sich nur aufrecht erhalten, wenn sie den intensivsten und rationellsten Betrieb einführt oder aber zur agrarindustriellen Produktion von Zucker, Spiritus 2c. übergeht. Wo es dem Junter dazu an Willen, Vermögen oder Fähigkeit fehlt, da wird er eben entsetzt durch den bürgerlichen Agrarfapitalisten, ein Vorgang, den wir in der Gegen wart bereits allenthalben beobachten können.
Diese Umwälzung hat aber, welchen dieser Wege sie auch einschlage, für die ländliche Arbeitsverfassung die eine unabwendbare Konsequenz: Sie macht die Landwirthschaft zu einem Saisongewerbe im schärfsten Sinne des Wortes. Der Arbeitsprozeß, der früher in ziemlich gleichmäßiger Intensität über das ganze Jahr vertheilt war, ist jetzt zusammengedrängt auf vier bis fünf Monate, verlangt in diesen aber auch die drei- und vierfache Anzahl au Arbeitskräften, wie ehemals im Jahresdurchschnitt. Und nicht nur das. Dadurch, daß die Landwirthschaft zum Maschinenbetrieb übergegangen ist, stellt sie ganz andere Anforderungen an die Qualität des Arbeiters. Wir sehen hier dieselbe Entwickelung, wie ein halbes Jahrhundert früher in der Industrie, vor uns: Einerseits ersetzt sie den gelernten landwirthschaftlichen Arbeiter infolge Vereinfachung der erforderlichen Leistungen durch die ungelernte Arbeitsfraft. Andererseits muß diese eine bedeutend höhere förperliche wie intellektuelle Qualifikation aufweisen, als sie der leiblich und geistig verkommene Komornik zu bieten im Stande ist.( Die Unzulänglichkeit der heute vorhandenen Arbeitskräfte ist mindestens ein ebenso starkes Hinderniß für die Durchführung moderner Landwirthschaft in Ostelbien, wie die der meisten Unternehmer.)
( Fortsetzung.)
utter begann schon Pläne für meine Zukunft zu schmieden. Studiren könnte ich nicht, das wäre flar: denn ich müßte früh zeitig etwas verdienen. Ich müßte ein reicher Mann werden und da bliebe doch nichts Anderes wie Staufmann übrig. Sie erzählte mir von leuchtenden Beispielen, die mit wundgelaufenen Füßen und zwölf guten Groschen hier angefangen, und es bis zu Millionären und Kommerzienräthen gebracht hätten. Sie sagte mir täglich, daß Geld, sobald man es besäße, der Gipfel der irdischen Glückseligkeit, ja beinahe der himmlischen gleichzustellen wäre; daß alle Klugheit ohne Geld nur eine Dummheit wäre. Daß man aber fleißig, tüchtig und„ solide", sonders solide" sein müßte, um es zu erwerben. Ich sollte jezt für's Erste danach streben, zu Michaeli mein Klassenziel zu erreichen, dann wäre mein Bildungsgang beendet, und ich ginge aus der einen Schule in die andere des Lebens über. Sie würde den Aristokraten auch ihn wies sie mir als strahlendes Vorbild bitten, mir eine Stelle zu
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verschaffen. Mit Hülfe seines Ansehens und seiner Empfehlung würde ich sicherlich in einem der ersten hiesigen Häuser" ankommen.
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Mit Vaters Gesundheit, die sich lange auf gleicher Höhe gehalten hatte, ging es plöglich rapide bergab. Das Gehen fiel ihm schwer, und bald konnte er nicht mehr das Zimmer verlassen. Den ganzen Tag saß er nun am Fenster, rauchte und schaute hinaus. Lesen strengte ihn an, und auch wenn man ihm etwas vorlas, war es ihm nicht angenehm. Er wurde autheillos, seine geistigen Kräfte waren wohl etwas ummachtet, aber sie verließen ihn doch nie gänzlich. Er war ruhig und freundlich, fast zärtlich, bedankte sich liebevoll für jede Handreichung; mir ist es, als verspüre ich wie eine Liebkosung immer noch den Druck seines Armes, so oft er meinen Hals um= klammerte, wenn ich ihn mit dem Stuhl, auf dem er saß, vom Fenster an den Tisch oder sogar bis in sein Schlafzimmer trug. Nur manchmals loderte es in ihm auf, wie alte Kraft und alter Zorn, aber dann, wenn er die mageren Hände zu Fäusten ballte und ohnmächtig die kraftlosen Arme emporstreckte, dann sah man erst, wie entfeßlich schwach und kindisch willenlos er geworden war. Er klagte viel, daß es uns schlecht ginge, und daß er nun doch nicht mehr wie früher verdienen könnte.
Mutter hatte glücklicherweise von einer alten Dame unerwartet ein paar tausend Thaler geerbt, sonst hätten wir den Kranken garnicht pflegen können. Troßdem er selbst sah, daß es von Tag zu Tag schlechter mit ihm würde, und er sich vollkommen über seinen Zustand flar war, redete er doch nie davon, daß er sterben müsse, nur einmal sagte er ganz traurig, als ihm Mutter Wein brachte:„ Laß doch, Annchen, es hat keinen Zweck, bei mir schlägt doch nichts mehr an!"
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Ein Abend Ende Mai: die Luft dringt wie schmeichelnd durch das geöffnete Fenster, als ob sie sagen wollte, komm hinaus, komum hinaus! Der Himmel ist weißblau und Alles ist von Wärme und Feuchtigkeit es hat am Nachmittag ein wenig geregnet gesättigt. Es ist, als sähe man das Wachsen der Pflanzen. Drüben in dem großen Garten trillert und gluckst schon eine frühe Nachtigall.
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So lange hatte ich hinter meinem Herodot und Homer gehockt, da plößlich hielt es mich nicht mehr. Ich mußte fort, in die frische Luft. Ich fühlte so Ich fühlte so einen unbestimmten Drang nach Alleinsein, eine eigen= thümliche Unruhe; ich hatte eine Vorahnung, als ob sich heute noch etwas ganz Besonderes ereignen würde, ereignen müsse. Planlos irrte ich durch die schon menschenleeren Straßen. Planlos, und doch war es, als ob eine unsichtbare Macht mich triebe. Planlos, aber in zuversichtlicher Erwartung dessen, was sich unbedingt ereignen müsse. Doch es geschah nichts, durchaus nichts. Meine Freudigkeit schwand und eine nervöse Mißstimmung begann sich meiner zu bemächtigen. Ich ging schneller und schneller, und es sah aus, als ob ich vor mir selbst fortliefe. „ Georg, Georg!"
Ich wandte mich um. Ein schlankes, junges Das galt doch nicht Mädchen, zierlich gekleidet. mir? Doch! Sie kommt auf mich zu.
" Lies!" Beinahe hätte ich sie nicht erkannt, so groß war sie geworden und so hübsch.
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sie au Jedem etwas auszusetzen. Der ging über den linken Zeh und rieb sich fortwährend mit dem Handrücken die Stirn, der schielte ein wenig und sprach etwas durch die Nase:" Fräulein Waise , kommen Sie doch' mal her" Alles verstand sie nachzuahmen, selbst das Stirnrunzeln ihres Prin zipals; überhaupt war sie ungemein lustig und gesprächig, sprang von einem Gegenstand zum anderen über, lachte viel und sehr hell, zuckte mit den Schultern, wiegte sich in den Hüften und fuhr mit den Händen durch die Luft.
Ich sprach endlich garnichts mehr, ich sah sie nur immerfort von der Seite an. War das Mädchen schön! Daß sie hübsch war, wußte ich, aber daß sie so schön war, so berauschend schön! Ich erinnerte mich nicht, je etwas Aehnliches gesehen zu haben. Ich hatte das Gefühl, als klängen mir Verse in den Ohren, die mit ihrem Wortschwall mich fast trunken machten.
Ich ließ sie plaudern, ohne sie zu unterbrechen. Es war mir ja auch ganz gleich, wovon sie sprach. Ich lauschte dem süßen Unsinn, als ob es Offenbarung wäre. Eigentlich hörte ich auch garnicht mehr auf das, was sie redete, ich schwelgte nur im Klang ihrer Sprache, der mir plößlich so wunderbar weich erschien. Ich wußte auch garnicht mehr, wo ich mich befand, nur manchmal gewahrte ich in irgend einent Vorgarten einen gespenstig- weißblühenden Magnolienstrauch, oder sah festlich erleuchtete Fenster. Dann war es mir auch, als hörte ich einmal eine Damenstimme das Schubertsche Ständchen" singen.
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Noch war Lies unbefangen, lustig, voll überschäumender Lebenskraft. Doch mit der Zeit wurde auch sie stiller, und endlich verstummite sie ganz.. Sie schmiegte sich mehr und mehr beim Gehen an mich und drückte meinen Arm fest gegen ihre Seite.
Ich sprach immer noch nichts, sondern pfiff nur leise vor mich hin. Vergebens versuchte ich, eine Unruhe und Erregung, die mich ergriffen, zu unterdrücken.
Wir gehen und gehen. Die Luft so satt und schwer! So still die langen Straßenfluchten, der Himmel weißblau über uns und meergrün am Horizont. Die Sterne funkeln und blizen, als ob sie heut frisch gepußt wären. Die blühenden Rubinien duften betäubend. In der Ferne schlägt eine Nachtigall. Schwermüthig flingen ihre langgezogenen Triller herüber.
Plötzlich umfängt uns der Park. Ein farbiges. Dunkel; ein Rauschen und Knistern über uns; ein Dämmern vor uns. Niemand begegnet uns mehr, Niemand! Wir sind allein, ganz allein! Wir gehen und gehen, Reins spricht ein Wort. Lies athmet schwer und tief, sie preßt meinen Arm, als ob sie ihn zerbrechen wolle. Judeß war es so dunkel ge= worden, daß wir faum noch zwei Schritte sehen konnten. Plößlich stieß ich unsanft mit dem Schenkel gegen einen harten Gegenstand. Es war eine Bant, und in schweigendem Verstehen ließen wir uns auf ihr nieder.
Ich schlang meinen Arm um ihre Hüften und tüßte sie. Ich spüre es noch, wie ihr glühender Athem mir entgegenschlug.
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Ich kam gegen ein Uhr Nachts heim.
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Das also war sie, die Sünde!
Ich empfand keine Reue, fein Schamgefühl vor irgend Jemand auf der Welt; ich erkannte nur, das
Wie gehts Dir?" und sie streckt mir die Hand ich mit einemmal ein Anderer geworden war. Ich entgegen.
und Dir?"
„ Danke ,, Gut, gut, Georg!" und sie lachte hell auf. Wo gehst Du hin, Georg?" „ Spazieren!"
"
" Da fannst Du mich ein wenig begleiten." " Ja, gern."
„ Komm!" Sie nahm meinen Arm.
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Wie gehts Dir denn im Geschäft?"
Nun öffneten sich die Schleusen ihrer Beredsamfeit. Sie begann mir die Einzelheiten ihrer Thätigfeit herzuzählen, die Leute zu beschreiben, mit denen sie zusammen arbeitete. Nicht ohne Geschick und mit jener feinen Beobachtung, die Frauen eigen, fand
fam mir ernſter und gesezter vor und doch so frei und glücklich.
Ich liebte Lies, wie sie mich liebte. Jezt wußte ich es. Wir gehörten ganz einander, mit Leib und Seele, mit Seele und Leib.
So schlief ich ein, glücklich, ruhig und frei, wie ich lange nicht eingeschlafen war.
" Georg, steh auf! Ich glaube, mit Papa ists nicht guter athmet so eigenthümlich, so schwer!" Im Augenblick war ich aus dem Bett. Im Augenblick war ich angezogen. Es mochte fünf Uhr. sein. Es war schon ganz hell.
Ich stürze in das Nebenzimmer. Mutter stand am Kopfende des Bettes und flößte dem Vater mit