Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
Eine der interessantesten Redensarten des 15. und 16. Jahrhunderts lautet:" Einem den armen Judas blasen." Es ließe sich an Dußenden von Beispielen zeigen, wie das Aufblasen dieses Liedleins, denn um ein solches handelt es sich, allemal da stattfindet, wo frohlockende Schadenfreude einem überwundenen Gegner nachdrücklich und empfindlich ausgesprochen werden sollte. In einem Volkslied über ein Ereigniß des deutschen Bauernkrieges vont Jahre 1525, eine Niederlage der Bauern, heißt es: Der Thürmer blies den Judas : „ Ach, was hast Du gethan,"
Es waren seltsam Laudes( Lobgefänge)
Es lacht nicht jederman( es lachte keiner), Er blies:„ Hats dich gereuet,
So ziehe wieder heim."
Ihr Lied ward erst erneuet,
Ihr( er) wurden viel gebleuet usw.
Dieses Judaslied wird in den Chroniken und Geschichtsliedern älterer Zeit sehr häufig erwähnt. Es wird allemal zu Spott und Hohn dem Gegner aufgespielt, wenn ihm ein Anschlag total mißlungen und zu eigenem schweren Schaden ausgefallen ist. Dafür sollen noch einige Beispiele angeführt werden.
Schon im Jahre 1490 ließ König Marimilian, als er zu Schiffe an ihrer Stadt vorüberfuhr, den Regensburgern die Melodie des armen Judas auf spielen, um sie zu verhöhnen für ihren Verrath am Kaiser.
An diesem Beispiel ist die enge Beziehung noch vollkommen klar in ihrer Treffsicherheit, denn Kaiserliche Majestät sah ja in den Regensburgern, die wider sie gehalten hatten, lauter ebensolche Erzschelme, wie der treulose Judas Ischariot , der Verräther seines Herrn und Meisters, einer war.
Das ursprüngliche Judaslied gehört nach Wort und Weise dem Kirchengesang des 15. Jahrhunderts an. Dasselbe beginnt folgendermaßen:
O du armer Judas, Was hast Du gethan, Daß Du Deinen Herrn Also verrathen hast! Darum mußt Du leiden In der Hölle Pein, Lucifers Geselle
Nach der jetzt allgemein gültigen Annahme ist das Lied einem Osterfestspiel entnommen, einem jener firchlichen Theaterstücke, in welchen die ganze
Leidensgeschichte Christi nach der Bibel dramatisch vorgeführt wurde. Auch die Szene vom Verrath des Judas durfte da nicht fehlen. Wenn da der Verräther in voller Erkenntniß des Unheils, welches er angerichtet hat, mit verzweifelten Selbstver= wünschungen von der Szene eilte, um zum Selbstmörder zu werden, sang der Chor, das zuschauende Volt mit einbegriffen, das Judaslied. So ward dasselbe zum allgemein bekannten Volkslied, welches dann wieder Anlaß gab zu der sprüchwörtlichen Redensart.
So heißt es in der Historia von Doktor Johann Fausten( Frankfurt 1587):" Als nun der Geist Fausto, den armen Judas genugsam gesungen', ist er wiederum verschwunden und hat den Faustum allein ganz melancholisch und verwirrt gelassen."
In dieser Stelle heißt den Judas singen" so viel, wie ganz allgemein Jemand furchtbar verhöhnen; es wird also ganz davon abgesehen, daß wirklich das Judaslied angeſtimmt wird.
Für dieses traten auch sehr bald eigens für bestimmte Fälle gedichtete besondere Hohnlieder ein, die weder im Tert noch in der Weise sich an das Judaslied anschlossen. Und trotzdem sagte man auch von ihnen, wenn sie gesungen oder geblasen wurden, man habe den Ueberwundenen den armen Judas gesungen oder geblasen.
Als der Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen 1547 seine liebe getreue Stadt Leipzig belagerte und beschoß, dichtete man ein Hohulied auf den Landesherrn, dem es zwar gelang, den Henkersthurm einzuschließen, aber nicht die Stadt zu er= obern! Die Belagerten hatten nämlich das Hülfsmittel gebraucht, durch Ketten, die man an den Thurm anlegte, zu verhindern, daß dieser nach außen stürzte und eine Brücke für die Stürmenden bildete.
Johann Friedrich mußte also mit langer Nase abziehen. In dem Spottlied der Leipziger , das man auf den Kurfürsten sang, hieß es im letzten Verse:
" Zieh hin, zieh hin mit Deiner Beut',
Ich halt( glaube), dich hat der Schimpf gereut, Ließ man den Feind hofiren."
Das heißt in schlichte Prosa überseßt: man ließ dem abziehenden Kurfürsten den Hof machen oder aufwarten, indem man ihm das Lied vorblasen ließ: " Zieh hin, zieh hin usw.
In einem zweiten auf denselben Vorgang ab= zielenden Liede werden die verhöhnten Kurfürstlichen selbstredend eingeführt mit den Worten:
Nun ziehen wir davon,
Den Spott zum Schaden müssen wir han, Das Liedlein hören wir singen:
"
Wenn Dich der Schimpf gereuet hat,
Zeuch heim zu Deinen Kindern!"
-
In anderen Liedern findet sich die Wendung: ,, Hat Dich nun der Schimpf gereuet, So zeuch Du wieder anheim
Und flag es Deiner Frauen."
In der Zimmerschen Chronik wird erzählt, wie Landgraf Wilhelm von Hessen den Pfalzgrafen Philipp arg geschreckt hat mit Schießen aus etlichen Falkonetlein( kleinen Feldgeschüßen), deren Kugeln den Pfalzgrafen nöthigten, sich in die Kellergewölbe seines Heidelberger Schlosses zu flüchten. Nach diesem Schabernack ließ der Landgraf, wie die Chronik berichtet, seine„ Trommeter" das Liedlein blasen:
" Hat Dich der Schimpf gereuet."
Sehr zahlreich aber sind im 16. Jahrhundert die politischen Hohn- und Spottlieder, welche das Versmaß und die Melodie des armen Judas beibehalten. In Luthers Streitschrift:„ Wider Hans Worst"( der Hauswurst ist der Herzog Heinrich von Braunschweig) findet sich folgender Vers: Du armer Heinze,
Was hast Du gethan,
Daß Du viel frommer Menschen
Durch Feuer haft morden lan!
Du wirst in der Hölle
Leiden große Pein;
Mußt Du ewig sein.
Auf Luthers begabtesten Gegner, den von den protestantischen Literaturgeschichtschreibern arg unter
schäzten Thomas Murner , gab es bei den Luthe= rischen auch einen Hohnspruch im Judaston:
Du armer Mur Narr Was hast Du gethan, Daß Du also blinde
In der heilgen Schrift bist gahn! Das mußt Du in der Kutten Leiden Pein,
Aller Gelehrten MUR NARR Mußt Du sein.
Ohe ho, lieber Murnarr!
Solcher Umdichtungen des Judasliedes könnten wir noch eine ganze Menge aufzählen, wir lassen es aber bei den gegebenen Proben bewenden. Wir hielten es für nothwendig, deren mehrere anzuziehen, um zu zeigen, wie sprüchwörtliche Redensarten aus dem vollen, blutwarmen Leben der Völker hervor= wachsen; und von der Lebenslust dieses Daseins älterer Zeit müssen wir wenigstens eine blasse Ahnung bekommen, wenigstens einen Hauch ver= spüren, wenn wir die Schöpfungen des sprach bildenden Volksgeistes verstehen wollen.
Zugleich wollten wir mit der ausführlicheren Behandlung der Nedensart vom Aufspielen oder Singen des armen Judas einmal zeigen, welche gesellschaftliche und politische Bedeutung die volksmäßigen Lieder und Sprüche in alter Zeit besaßen. Sie vertraten ganz genau die Stelle, welche heut zutage die Presse einnimmit; sie stellten dar und beeinflußten die öffentliche Meinung jener älteren Zeit, die schon Jahrhunderte vor Napoleon I. , der die Presse die sechste europäische Großmacht genannt hat, ja wohl zu allen Zeiten eine solche ersten Ranges gewesen ist, wenn es auch hier und da einmal irgend ein Brausewetter nicht halshaben wollte.
Spielkinder.
( Fortsetzung.)
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aft als Familienmitglied war Louise jetzt zu rechnen; sie kam oft zu uns, denn sie hatte viel unter der brutaleu Behandlung ihres Mannes zu leiden. Es entwickelte sich zwischen uns eine Freundschaft merkwürdiger Natur, eine reine Freundschaft, wie sie bei Menschen verschiedenerlei Geschlechtes nur ein großer Altersunterschied hervor= bringen kann. Wo Louise irgend etwas erübrigen konnte, steckte sie es mir zu, und ich dankte ihr dafür, indem ich rückhaltlos mit ihr Alles besprach, was mich und sie anging. Auf ihren Rath, den sie oft in pußiger, treffender Weise mir ertheilte, gab ich viel; ja ich weihte sie sogar in meine sogenannten lite= rarischen" Arbeiten ein, welchen sie aber als Weltkind recht fühl und skeptisch gegenüber stand.
Louise verstand es, sich überall nüßlich zu machen. Sie wusch, puzte Scheiben, stopfte Strümpfe, ohne daß man sie dazu aufforderte oder daß sie irgend welchen Dank oder Entgelt dafür annahm. Es war stets ein Freudentag für die Familie, wenn Louise zu uns kam. Aber plößlich blieb ihr Besuch einige Wochen aus, bis sie eines Tages unerwartet wieder erschien.
"
,, Ach Louise, Louise ist da!" Wir liefen nach der Küche. Guten Abend, Louise.' n Abend, Louiseken, na wie geht es Dir?" und ich strich ihr über die noch braunen Haare. Du bist lange nicht mehr hier gewesen, heute Nacht bleibst Du doch bei uns, Louise? Du siehst ja so verweint aus, was fehlt Dir denn? Ist Bergemann immer noch so?"
"
,, Ach Jotte doch, mit ihm ist's auch jez jarnich mehr auszuhalten, von Tag zu Tag wird er verrückter; arbeiten thut er nu schon lange nischt mehrun frant is er auch immer. Neulich hat er wohl wieder an die sechs Wochen in die Charité gelegen. Als Dienstmann verdient er erst recht nischt, na ja, wenn's das nur allein wär! Ne, er schlägt mir immer zu, nicht Tag noch Nacht ist man vor ihm sicher. Die Thür hat er ausjehoben, damit er immer in mein Zimmer fann, und dann haut er mir so lange, bis ich ihm Geld zu Schnaps jebe. Ein Messer trägt er auch immer bei sich, damit will er mir morden, hat er jesagt."
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Sieh' nur' mal, dieser gemeine Kerl, ganz blaue Flecke hat Louise da, sieh' nur' mal, pfui, der gemeine Kerl; Du thust ihm doch gewiß nichts." , Er ist verrückt," sagte Mutter, wie um uns zu beschwichtigen.
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„ Ja- also, da neulich bin ich nicht zu Hause, auf Stelle jegangen, und da nimmt er all meine Wäsche und Kleider aus't Spinde, trägt den Waschzuber auf den Hof und weicht meine sämmtlichen Sachen ein, und dann behauptet er nu, weil ich nischt wasche und er nich ein reines und janzes Hemde hätte und dabei habe ich ihm erst legten Hemde hätte Weihnachten ein halbes Dußend gekauft, da be= hauptet er nu, er muß waschen und weicht mir meine ganzen Sachen ein, wie find't man das?"
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" Der Mensch ist total verrückt," drückte Mutter noch zur Beruhigung Louises ihren Petschaft auf und ging aus der Küche.
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,, Und jetzt hat mir der Wirth gekündigt, weil er immer Tag und Nacht mit mir zankt und so' n Lärm macht, daß sich alle Miether beschwert haben. Meine ganzen Sachen hat er auch nach und nach versetzt, nur um Schnaps zu kriegen. Mit Mühe und Noth habe ich jrade noch die Pfandscheine von ihm' raus gekriegt. Dreimal habe ich' s schon mit ihm versucht, nu mag er diesmal sich' ne Wohnung suchen, wo er will, ich kümmere mir um den Menschen nich mehr."
Die ganze Zeit hatte sie mit thränenerstickter Stimme gesprochen, jezt beugte ich mich zu ihr nieder: " Ja, Louiſeken, Du hast ganz recht. Für's Erste wirst Du eine Zeit lang bei uns wohnen
Ne, ne"
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„ Ach was, für's Erste schläfst Du bei uns." Ich blieb einen Augenblick mit Louise allein. Da tam Mutter wieder herein und sagte mir, ich möchte einmal zusehen; es sei ein junger Herr da,
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