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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Als ich nach acht Wochen zurückkehrte, fuhr ich sofort vom Bahnhof zu ihr. Denn man hatte mir zwar Lies' Befinden mehrmals als gänzlich hoffnungs los dargestellt, mich aber bisher noch nicht von ihrem Ableben benachrichtigt.

Diese Angst und Ungewißheit während der langen Fahrt, ob ich sie noch lebend sehen würde!

O, vielleicht traf ich sie noch lebend, um ihr zu sagen, daß ich sie immer

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Ich stürmte die breite Treppe hinauf. Eilte durch die langen, zugigen Gänge. Saal einundsiebenzig. Im Augenblick überflog ich die Reihen der Betten. Ja dort dort dort hinten mußte es sein. Mehrere junge Aerzte drängten sich um ein Bett und lauschten aufmerksam den Worten des Abtheilungs­chefs. Strankenpflegerinnen liefen geschäftig hin und her.

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Lies! Eine Pflegerin rieb ihr die Schläfen. Der Arzt fühlte ihr den Puls.

Sie lag da mit großen offenen Augen und es schien, als ob ihre Blicke etwas suchten, denn sie irrten unstät von Gesicht zu Gesicht.

Plötzlich verlief eine kaum merkliche Bewegung, ein ganz mattes Lächeln über ihre Züge sie hatte mich erkannt.

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Möglich auch, daß dieses Lächeln nur der Todes­kampf in den Mundwinkeln war, und ihr überhaupt nicht mehr das zum Bewußtsein kam, was sie erblickte.

Der Abtheilungschef ließ die Hand fallen, die schwer auf den Bettrand schlug.

" Der Eritus( Tod) ist soeben eingetreten, meine Herren", sagte er näselnd, indem er sich höflich zu seinen jüngeren Kollegen wandte.

Und dann war plötzlich Alles dunkel. Vorüber!

Nach wort.

Weiter!

Ich lasse sie noch einmal an mir vorüberziehen, all diese kleinen und großen Spielfinder.

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Keiner, der die Kraft und den Muth hatte, trozig und still seinen Weg zu gehen; Keiner, der sich zur Klarheit rang, Reiner! Alle nur Spielfinder, ihr Leben lang; Spielkinder, ohne Ernst, ohne Streben.

Und nun verzeiht mir. Ich hätte diese Geschichte nicht erzählen sollen. Es verlohnte sich wirklich nicht. Ihr Lebenden, ihr Schaffenden habt und behaltet Recht! Nicht wir Todten!

Männern gehört das Jahrhundert nicht Spiel­kindern!

Dieser Nachahmungstrieb schlummert in allen Menschen, und wie unsere Jugend immer und immer wieder an den Mauern und auf den Fliesen der Straße die kleinen Ereignisse ihres Daseins zu verewigen sucht, so üben noch heute fast alle Natur­völfer solche Bilderschrift.

In allen Ländern der Erde hat man derartige primitive Malereien angetroffen, theils auf Felswänden ( wie bei den Buschmännern, den Australiern u. s. f.), theils auf hölzernen oder knöchernen Geräthschaften ( z. B. bei den europäischen   Ureinwohnern, den sibi­rischen Völkerschaften u. s. f.), auf den Zaubertrommeln der Lappländer u. dergl.

Beabsichtigt man nun durch Aneinanderreihen mehrerer solcher Bilder eine Folge von Ereignissen darzustellen, einen Gedanken auszudrücken, so ent­steht die ursprüngliche Form der Bilderschrift.

Auf dieser Stufe steht die Schrift noch heute vornehmlich bei den Indianern und den Estimos von Alaska  . Auf die Bilderschrift der Letzteren hat neuerdings Adrian Jacobsen   unsere Aufmerk­samkeit gelenkt und sehr werthvolles Belegmaterial dem Museum für Völferfunde" in Berlin   über­wiesen. Die im Zeichnen so geschickten Eskimos pflegen ihre Knochengeräthe, besonders den zum Feuerdrillen benutzten Bogen,* mit Bilderinschriften zu schmücken, indem sie mit einen scharfen Stein die Bilder in den Knochen rißen und die Malerei dann mit Fett und Ruß überwischen, damit die Bilder deutlicher hervortreten.

Betrachten wir einmal zum besseren Verständniß eine solche Inschrift, wie sie sich auf einem der von Jacobsen mitgebrachten Feuerbogen vor, indet.

Der aus Walroßfnochen gefertigte Bogen ist vierkantig, jedoch nur auf den beiden Breitſeiten mit Schildereien versehen. Diese sind in einer An­zahl von Feldern( fünf und sechs) angeordnet und von rechts nach links jede ursprüngliche Schrift ist so geschrieben, vermuthlich weil die rechte Hand des Schreibers der linken Seite des zu beschreibenden Gegenstandes am nächsten ist zu lesen.

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Auf dem ersten Felde ist eine Tanzszene dar gestellt. Die Männer stampfen mit dem Fuß die Erde und stoßen die Faust in die Luft, indeß ihr Gesang von der Handtrommel begleitet wird. Doch einer der Festgenossen schleicht sich heimlich davon und belauscht( auf dem zweiten Felde) vom Dache einer Schneehütte aus ein zärtliches Tête- à- tête im Innern derselben. Diese Entdeckung muß ihn wohl irgendwie näher angehen; denn auf dem

Ueber die Entstehung der Buchstabenschrift. nächsten Felde ſehen wir ihn im Kampfe mit dem

A

Von Dr. Adolf Heilborn  - Berlin  .

nter all den Errungenschaften des mensch lichen Geistes ist für die Entwickelung der gefanımten Kultur keine von so weit­tragendster Bedeutung geworden, wie die Erfindung der Schrift, ja, man kann getrost behaupten, ohne Schrift sei jede höhere Kulturstufe garnicht denkbar. Denn nur schriftliche Ueberlieferung vermag alle jene Erfahrungen und Entdeckungen aufzubewahren und zu vererben, die der Mensch im Laufe der Jahrtausende gemacht hat, und deren Gesammtheit wir eben Kultur nennen.

Was dem Ohre die Sprache ist, das ist für das Auge die Schrift. Aber noch weit vollkommener als jene, ermöglicht die Schrift uns eine Verstän­digung mit Leuten, von denen uns Tausende und aber Tausende von Meilen trennen, giebt sie uns Kunde von Menschen, die Tausende von Jahren vor uns gelebt haben.

Waren wir bei der Frage nach der Entstehung der Sprache auf bloße Vermuthungen angewiesen,* so kennen wir dagegen den Ursprung der Schrift genau und können sämmtliche Stufen ihrer Ent­wickelung deutlich verfolgen. Als erstes Gesetz gilt hier der Grundsay: Jede natürliche Schrift ist aus einer Bilderschrift hervorgegangen. Um Begeben heiten, die für den Einzelnen oder ein ganzes Volk eine gewisse Bedeutung haben, dem Gedächtniß zu überliefern, stellte man sie bildlich dar.

* Vergl. den Aufsatz über Ursprung und Entwickelung der Sprache" in Nr. 3 der Neuen Welt".

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Insassen der Hütte. Beiden eilen Verwandte zu Hülfe, ein heftiger Strauß hebt an und fordert bald blutige Opfer. Unser Eskimo kommt jedoch mit dem Leben davon, und um der drohenden mit dem Leben davon, und um der drohenden Blutrache zu entgehen, wandert er aus. Er packt sein Hab und Gut, vor Allem den kostbaren Kajak ( einfißiges Boot) auf den Schlitten und zieht nun ( Feld 4) hinaus in die unbekannte Fremde. Auf dem nächsten Felde erblicken wir ihn im Kajat auf hoher See, der neuen Heimath zueilend. Jetzt labt sein Auge ein erfreuliches Schauspiel: weidende Rennthierheerden, viele, viele Renuthiere und anderes Jagdwild( Feld 6 und 7). Er erlegt ein Walroß und die Beute an Fellen ist eine reiche( Feld 8 und 9). So beschließt er denn, sich hier nieder­

* Es sei bei dieser Gelegenheit gestattet, ein paar kurze Worte über das Feuermachen der Wilden zu sagen. Die einfachste Methode ist die in der Südsee geübte, wo man auf einer hölzernen Unterlage einen etwa fingerdicken Holz­stab so lange unter einem Winkel von 45 drückend hin und her bewegt, bis sich der sich loslösende, verkohlende Holzstaub in einem Funken entzündet. Die Indianer und Neger quirlen" Feuer, indem sie den aufrecht stehenden Die Stab quirlend zwischen den Handflächen bewegen. sibirischen Völker drillen" Feuer, d. h. sie schlingen um den aufrecht stehenden, mit Hülfe einer hölzernen Handhabe fest gegen die Unterlage gedrückten Stab eine Schnur, und setzen durch wechselnden Zug den Stab in rotirende Be­wegung. Die Eskimos endlich befestigen die Enden der ledernen Schnur an einem fnöchernen Bogen, der sägend hin und her bewegt wird. Statt der hölzernen Handhabe bedienen sie sich eines knöchernen Mundstückes, das mit den Zähnen gefaßt und gegen den in einer Höhlung laufenden Stab gedrückt wird. Bei ihnen vermag also eine Person den Feuerapparat zu handhaben, während bei den sibirischen Völkern zwei dazu nöthig sind.

zulassen und schreitet zum Bau der Hütte. Und er ist vom Glück sehr begünstigt, denn eines schönen Tages erscheint, wohl durch die reichen Jagdgründe angelockt, das Schiff des weißen Mannes, und dieser Besuch führte dann vielleicht zur Gründung einer Handelsstation.

So redet der Bogen für Jeden, der nur einiger= maßen mit dem Leben und Treiben der Eskimos vertraut ist, eine leicht verständliche Sprache.

Auch die alt- merikanischen Malereien sind zum großen Theil solch primitive Bilderschriften und unterscheiden sich von denen der Eskimos nur da­durch, daß sie mehrfarbig( wie die indianischen) und sorgfältiger ausgeführt sind.

Diese Art der Bilderschrift kann naturgemäß aber nur so lange bestehen, als der Ideenfreis eines Volkes noch ein beschränkter, das Bedürfniß nach Mittheilung und Ueberlieferung noch ein ge­ringes ist. Mit der Erweiterung der Anschauungen macht sich das Verlangen immer fühlbarer, die Er­eignisse möglichst genau und ausführlich nieder­zuschreiben, und dieses Verlangen führt zur Schöpfung der Zeichenschrift.

Eine Zwischenstufe, oder vielleicht richtiger Ueber­gangsstufe hierzu, bildet die sogenannte sym= bolische" Schrift, bei der ein Gedanke, be= ziehungsweise ein Satz durch ein Symbol aus­gedrückt wird.

Solcher Art ist noch heut beispielshalber die Schrift der Jebu- Neger( an der Sklavenküste), von der das Berliner   Völkerkunde- Museum gleichfalls ein paar sehr interessante Proben besitzt. Es han delt sich hierbei um sogenannte Arofes, d. h. sym­bolische Briefe, die aus einem Stückchen Bast bestehen, auf welches nebeneinander bestimmte Gegen­stände gereiht werden. So zeigt einer dieser Briefe nebeneinander befestigt einen rothen Lappen, einen Knochen, ein Stückchen Leinewand, nochmals einen Knochen und endlich eine Feder. Sein Inhalt ist folgender: folgender: Krieg( rothe Farbe); wir haben Todte ( Knochen), so viele Todte, daß wir sie nicht einmal alle haben begraben( in Leinewand hüllen) können; kommt daher eilends( Feder) zurück.

Diese Schrift ist natürlich nur Demjenigen ver­ständlich, der den vereinbarten Werth der einzelnen Symbole genau kennt, und vermag deshalb vor= trefflich als Geheimschrift zu dienen.

Auch die berühmten Quipus oder Knoten­schnüre der alten Peruaner waren eine derartige symbolische Geheimschrift, die nur bestimmte Beamte zu entziffern vermochten. Sie glichen in ihrem Aeußern vollkommen einem Fransengürtel und waren von verschiedener Länge und Farbe; man bediente sich ihrer vornehmlich bei Berechnungen, Steuer­erhebungen und dergl. Ein einzelner Knoten be­deutete meist zehn, ein doppelter hundert; je nach der Farbe handelte es sich um Getreide( grün), Soldaten( roth), Gold( gelb) u. f. f.

Ganz ähnlicher Knotenschriften bedienten sich auch die alten Chinesen; ein Quipu war auch jener Lederriemen, den der Perserkönig Darius dem jonischen Feldherrn gab, als er über den Helles­ pont   nach Europa   sezte, und in den er sechzig Knoten für sechzig Tage des Wartens geknüpft hatte, ein Quipu ist es endlich, wenn wir uns zum Ge­denken einen Knoten ins Taschentuch knüpfen, nur uns verständlich, eine symbolische Geheimschrift.

Auch die Zeichenschrift ist anfangs nur das Besitzthum einiger Weniger, meist der Priester des betreffenden Volfes; denn es bedarf zu ihrer Deutung nicht nur mehr sozusagen des Errathens der einzelnen Bilder, man muß die Bedeutung eines jeden Bildes genau kennen. Jedes Bild entspricht ja einem Wort, und seine Bedeutung ist ein für allemal durch Vereinbarung festgesetzt.

Allein zur Schreibung aller Wörter, zumal der Eigennamen und der Wörter einer fremden Sprache, reicht diese Methode nicht hin. Da fand der menschliche Scharfsinn einen merkwürdigen Ausweg, der für die Entwickelung der Schrift von der größten Bedeutung geworden ist. Man vernachlässigte all­mälig die Bedeutung der Bilder, und betrachtete sie nur noch ihrem Lautwerth nach, ganz so, wie wir es heute bei unseren Bilderräthseln thun.