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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

den verschiedensten Klassen und Lebenskreisen ange­hörigen Einwohnern eine Welt im Kleinen bilden. Das Haus lag ganz dunkel, es schien schlafend nach Luft zu schnappen, denn alle Fenster standen weit offen.

Plößlich aber, als Alfons seine zerstreuten Blicke über das schwarz und flobig daliegende Gebäude hinschweifen ließ, in das nur die zuckenden Flammen der Straßenlaternen ein paar gelbe Flecken hinein malten, bemerkte er, daß im obersten Stocke unter dem beinahe dicht aufliegenden Dache eines der Fenster erleuchtet war.

Ein ganz schwacher Lichtschein war es, der da herausblinzelte. Das Lämpchen mußte im Hinter­grunde des Zimmers stehen, und ein dünner, weißer Vorhang hing vor der Fensteröffnung.

Alfons beschlich ein neugieriges Verlangen, zu wissen, wer da oben wohnte. Ein Student mochte es sein, der sich auf das Eramen vorbereitete. Er sah ihn im Geiste vor sich, den wackeren jungen Mann, wie er, über dickleibige Folianten gebeugt, die todten Buchstaben mit seinem lebendigen, frischen Geiste erfüllte, in die Schäße des Wissens eindrang, wie er seine ganze Jugendkraft einsetzte, um bei der bevorstehenden Prüfung mit Ehren zu bestehen und so das Vertrauen zu rechtfertigen, das seine Eltern in ihn gesezt, die Opfer zu lohnen, die sie ihn um seiner Zukunft willen gebracht. Jezt ihre Hoffnung, wird er bald zu ihrem Stolze werden, Stüße ihrer alten Tage, die von ihren Silberscheiteln Noth und Sorge fernhält.

Oder ein Dichter ist es, der in der Stille der Nacht die Gestalten seiner Phantasie zu sich lädt. Flammenden Auges läßt er die Feder über das Papier hingleiten, in glühenden Versen giebt er den Ideen Ausdruck, die seine Seele schwellen. Nicht vermag die Dürftigkeit seiner Lebenslage die frohe Schwungkraft seines Gedankenflugs zu lähmen. Hoch über die nüchterne Wirklichkeit seines engbeschränkten Daseins sich erhebend, schwebt sein Geist, poesie­beflügelt, fessellos im goldenen Zauberlande jauchzen= der Schaffenslust. Und er träumt und dichtet, dichtet und träumt, träumt von einem Tage, wo die Welt da unten, die weite, große, von seinen glückbringenden Ideen zu befruchtende Welt staunend auflauscht, wenn sein Wort, getragen von diesen weißen, kleinen Blättern, über die seine Hand fiebernd hingleitet, hinausschallen wird über die wogenden Fluthen der Menschheit.

Ja, siegessichere, frohe Hoffnung auf Glück, auf Verwirklichung wunschgeborener Traumgebilde, auf Gelingen eines fühnen Strebens und Ringens er­füllt diesen bescheidenen Raum, aus dem der ruhige Lichtschein in so anspruchsloser Milde herunter grüßt.

Oder ist es nicht blos Hoffnung auf Glück, ist es das Glück selber, das sich dort eben ein Nest gebaut?

Die dunklen Umrisse einer männlichen Gestalt wurden hinter dem dünnen, weißen Gewebe des Vorhanges sichtbar. Nun wurde das Fenster heller, das Licht mußte ihm genähert werden, und ießt zeigte sich ein zweiter, etivas kleinerer Schatten, sie bewegten sich hin und her und verschwanden wieder. Das Licht aber war dicht neben das Fenster ge= stellt worden, so daß Alfons es ganz deutlich sehen konnte. Ueber der schwarzen Hausmauer schwebend, sah es aus wie ein vom Himmel gefallener Stern.

Alfons lächelte. Jezt wußte er, wer da oben wohnte. Ein Liebespärchen war es oder ein junges Ehepaar. Bis zum Abend von den tausend Lasten und Mühen des Tages in Anspruch genommen, wachten sie so lange, um sich die färglichen Stunden nicht zu kürzen, da sie sich ungestört angehören durften. Er glaubte sie zu sehen, wie sie in dem engen Stübchen saßen, Hand in Hand, sie den Kopf an die Schulter des Mannes gelehnt, plau­dernd, lachend, oder auch ihre Sorgen tauschend, und trotz aller Dürftigkeit so glücklich,- weil sie sich liebten.

Das Lächeln erstarb Alfons auf den Lippen. Ein Gefühl grollender Beflemmung froch in seinem Junern empor. Neid packte ihn, indem er mit selbstquälerischer Gestaltungsluft sich das Bild trau­lich- inniger Gemeinsamkeit in leuchtenden Farben ausmalte und es mit der öden Verlassenheit ver­

glich, die auf ihm lastete. Plötzlich fiel ihm ein, es sei eigentlich wenig rücksichtsvoll von seiner Frau gewesen, von ihm wegzugehen. Da sie wußte, wie unbehaglich ihm das Alleinsein wäre, hätte sie wohl bei ihm bleiben können, bis auch er fort konnte. Die da oben dachte sicher nicht daran, ihren Mann zu verlassen, weil sie glaubte, in der stickigen Luft der Großstadt es nicht länger aushalten zu können. Ihre Mittel erlaubten ihr wohl auch nicht, sich diesen Lurus zu gönnen. An eine reiche Frau durfte man freilich das Ansinnen eines solchen Opfers nicht stellen.

Er seufzte. Die Erinnerung an eine Andere war ihm jäh durch die Seele gehuscht. Sie wäre nicht von ihm gegangen, weil es ihr anderswo besser behagte, als an seiner Seite. Das gute, liebe Wesen, wie sie an ihm hing! Auch er hatte sie von Herzen lieb gehabt. Einen Augenblick dachte er sogar daran, sie zu heirathen. Aber glücklicher weise war er zur Vernunft gekommen, bevor es zu spät gewesen wäre. Er hätte sich damit ja seine ganze Eristenz ruinirt. Nicht nur eine Mesalliance wäre es gewesen er hätte die kleine Agathe, die frühere Goldstickerin, doch garnicht in seine Kreise führen können. Was für ein Leben hätte er in diesen erbärmlichen Verhältnissen führen müssen! Nein, ein Glück war es, daß er sich noch rechtzeitig auf sich selbst besann. Für ein auf alle Behag­lichkeiten des Wohlstandes verzichtendes Liebesidyll war er auf die Dauer nicht geschaffen.

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Und doch, dort oben wohnte ein solches. Ganz sicherlich. Und dieses Pärchen, dessen Schatten er soeben mit neidischen Blicken verfolgt, war in all feinen Entbehrungen vielleicht glücklicher, als er sich jezt fühlte...

Immer noch hielt Alfons seinen Blick festgebannt auf das Licht am Fenster und wob phantastische Bilder hinter den Vorhang, der ihm ein füßes Geheimniß zu verhüllen schien.

Da öffnete sich das Thor des Hauses, ein Mann trat heraus, durchquerte die Straße und schritt auf das Restaurant zu, wo Alfons saß. Und als jener näher fam, freute er sich, in ihm einen ehemaligen Schulkollegen zu erkennen, der sich vor Kurzem hier als praktischer Arzt etablirt hatte. Er rief ihn an, sie begrüßten sich und der Doktor nahm neben Alfons Plaz. Sie waren einander lange nicht begegnet und hatten sich so viel zu erzählen, daß sie nicht merkten, wie die Zeit verrann, und erst der Auf­bruch der anderen Gäste und das Gähnen der müde umherschleichenden Kellner sie daran mahnte, wie spät es geworden war.

Der Doktor zog seine Uhr.

"

Schon Eins!" sagte er." Da muß ich ent= schieden nach Hause, um ein paar Stunden zu schlafen. Denn ich habe mehrere Schwerkranke, die ich mit dem Frühesten heimsuchen soll." Und er rief nach dem Kellner.

Die lebhafte Unterhaltung hatte Alfons seine trübe Stimmung vergessen lassen. Als er sich aber vom Tische erhob, um seinem Freund das Geleite zu geben, wanderte sein Blick, wie von einer heim­lichen Macht angezogen, wieder zu dem auch jetzt noch erleuchteten Fenster hinauf. Und wieder packte ihn die Neugierde, zu erfahren, wer dort oben lebe.

Du wohnst diesem Hause gegenüber?" fragte er den Doktor.

Dieser bejahte und zeigte ihm die Fenster im zweiten Stock, die zu seiner Wohnung gehörten.

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,, und dort oben, wo das Licht brennt- Du Es ist weißt wohl nicht, wer dort wohnt? recht albern von mir, aber die ganze Zeit über, als ich da saß, bis Du tamst, mußte ich auf dieses Licht im Fenster starren und darüber nachdenken, wer es sei, der dort wache."

Der Doktor folgte mit dem Auge der von Alfons gewiesenen Richtung.

"

O, dort!" antwortete er. Von da kam ich gerade, als ich Dir begegnete. Eine Goldstickerin wohnt da. Sie ist eben gestorben. Ich war bei ihr, als sie starb. Die arme, kleine Agathe, sie soll sehr hübsch gewesen sein. Als ich sie zum ersten Mal sah, war sie freilich nur mehr ein bleicher Schatten, der sich kaum die fünf Treppen zu threm

Zimmer hinaufschleppen konnte. Dann besuchte ich sie öfters, da sie mir so leid that. Zu helfen war freilich nicht mehr, denn sie befand sich im letzten Stadium der Lungenschwindsucht. Aber sie war so dankbar für alle Freundlichkeit. Und einmal schüttete sie mir ihr Herz aus und erzählte mir, wie Alles gegangen. Eine alltägliche Geschichte, wie wir Aerzte sie nur zu oft zu hören bekommen. Ein junger Mann aus den besseren Gesellschaftskreisen, in den sie sich verliebte und dem sie glaubte, als er ihr versprach, sie zu heirathen. Natürlich hielt er sein Versprechen nicht. Der Kummer über seine Untreue und dazu die übermäßige Arbeit bis in die Nächte hinein, da sie nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihr Kind zu sorgen hatte, für dessen Unterhalt die kleine Abfindungssumme, mit der sich der Vater losgekauft, nicht ausreichte, waren zu viel für ihre Kräfte. Erst hielt sie sich noch eine Zeit lang tapfer aufrecht, als ihr aber das Kind starb, brach sie zu­sammen. Und dann ging es rasch abwärts."

Die beiden Männer waren am Hausthore an­gelangt. Jest drückte der Doktor zum zweiten Mal auf die Klingel.

Ich werde eine gute Weile warten müssen, bis mir der Hausmeister Einlaß giebt," bemerkte er. Er schläft wie eine Natte und seine Frau ist oben bei der Verstorbenen, bis die Leiche abgeholt wird."

Aber schon hörte man einen schlürfenden Schritt im Flur und das Thor ging auf.

Der Doktor reichte Alfons die Hand: Gute Nacht für heute. Sobald ich etwas Zeit habe, suche ich Dich auf, um Dir in Deiner Strohwittwer­einsamkeit ein bischen die Langeweile zu vertreiben." Und er verschwand in der Thür, die hinter ihm ins Schloß fiel.

Alfons blieb einige Augenblicke reglos stehen. Dann richtete er sich mit einem hastigen Ruck in die Höhe, und ohne nochmals sein Auge zu dem erleuch­teten Fenster emporzuheben, ging er heimwärts.

Seine über das Granitpflaster rasch hineilenden Schritte flangen wie kleine, harte Hammerschläge durch die nächtliche Stille der menschenleeren Straße.

Drei Kraftproben.

Eine kulturhistorische Skizze aus dem Leben Jwans des Schrecklichen.

Mit Benutzung authentischer Mittheilungen Th. v. Lengenfelds. Von Josef Maertl.

m Palaste des Zaren wurde zur Abendmesse geläutet, und in die geräumige, reich vergoldete Kirche, in der bereits die Günſtlinge des Kaisers versammelt waren, trat eine riesige Gestalt in der Uniform der donischen Kosaken. Es war Kudejar, ein wegen seiner außerordentlichen Stärke berühmter Soldat aus der Ukraine , der mit seinem Hetmann Wischnewezki in den Dienst Jwans ge­treten war, der ihn als Anführer einer Heeres­abtheilung gegen die Krimschen Tartaren geschickt hatte. Von diesen gefangen genommen, gelang es ihm, seinen Wächtern zu entwischen und eine gegen das Leben des Khans Dewlet- Girei von den Mursen angezettelte Verschwörung zu entdecken, infolge dessen er von diesem Fürsten reich beschenkt nach Rußland entlassen worden war, wo er sein junges, über Alles geliebtes Weib unter dem Schuße des Zaren zurück­gelassen hatte.

Als er jetzt im Schiff der Kirche erschien, stand Jwan der Schreckliche selbst im Mönchsgewand vor den feinen Höflingen, neben ihm sein Sohn, ein breitschulteriger Jüngling mit rabenschwarzen Haaren und einem bösen Blick in den Augen.

Der Zar betete mit lauter Stimme und machte die üblichen Verneigungen mit dem Kopfe, wobei er mit der Stirn so stark auf den Boden schlug, daß es in der Kirche widerhallte.

Die Günſtlinge bemühten sich, auf gleiche Weise ihren religiösen Eifer an den Tag zu legen, denn sie wußten wohl, daß das scharfe Auge des Ge­bieters jede ihrer Bewegungen streng überwachte.