Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

einer überaus schwierigen, eigenartigen Klaviertechnik und ein gereiftes und geläutertes musikalisches Ver­ständniß voraus, wie es heute fast ausschließlich nur bei Berufskünstlern zu finden ist. Die in Allem tief= innerliche, urdeutsche, aber herbe und spröde Kunst des Meisters wird stets dem im Geiste der viel gestaltigen, abwechselungsreichen neuen Musik Auf­gewachsenen ein Buch mit sieben Räthseln bleiben. Dasselbe gilt von dem weitaus größten Theile der sonstigen Touwerke Bachs. Wenn nichtsdestoweniger von ihm in weiten Kreisen nicht nur mit der ehr furchtsvollen Scheu vor einer großen, verdienten, aber unbekannten Persönlichkeit gesprochen wird, sondern zahlreiche seiner Kompositionen noch heute fortleben und Hörer finden, so erklärt sich dies vor Allem aus dem firchlichen Charakter der Bachschen Kunst. Sie hat vielleicht ihren vollendetsten Aus­druck in den Passionen und Messen und jenen un­zähligen Kantaten und Motetten gefunden, die vor= nehmlich der protestantischen Kunst auf dem Gebiete der Kirchenmusik ein startes Gegengewicht gegen die katholische Kunst zu geben vermögen. Namentlich aus diesem Grunde ist der Bachschen Kirchenmusik alle Zeit ein Ehrenplatz in dem musikalischen Theil des protestantischen Gottesdienstes und stete Auf­nahme in die Programme unserer Stirchen- und Fest­konzerte gewiß.

Ob Christoph Ritter von Gluck, der vielgenannte Reformator der Oper, noch nach einem Menschen alter auf dem Repertoire unserer Opernbühnen er= scheinen wird, ist zum Mindesten zweifelhaft. So gewaltig dieser geniale Künstler den Entwickelungs­gang der neueren Oper beeinflußt hat, und so zahl reiche Fäden von ihm zum modernen Musikdrama herüberführen, so schwer ist es für den an der modernen Musik herangebildeten Geschmack, in den Geist des Gluckschen Kunstwerks einzudringen.* Die heute zumeist nur sporadisch auftauchenden Wieder­einstudirungen Gluckscher Opern pflegen zwar bei den Premi ren ein zahlreiches Publikum zu finden, aber wie bald ist nicht das Interesse erfaltet! Für die große Menge des heutigen Publikums sind die musikalischen Linien der Gluckschen Melodik trop alles Adels zu einfach und schmucklos, ist die In­strumentirung zu dürftig und mager, entbehrt die dramatische Handlung zu sehr der erregenden und leidenschaftlichen Momente. Eine bedauerliche, aber feststehende Thatsache!

Haydn lebt nur noch durch seine Sinfonien und seine beiden bekannten Oratorien; seine Sonaten werden leider längst mehr von den Klavierpädagogen geschäßt, als im deutschen Hause gekannt und ge­spielt. Auch von seinen Sinfonien verschwindet be= reits ein großer Theil allmälig von den Konzert­programmen, und zwar gerade die, in denen die ungetrübte Freude am Dasein, das froye Sichaus leben einer naiven, glücklichen Natur so köstlichen must­kalischen Ausdruck findet. Das nervöse Gebahren, das unruhige Haften und Drängen der Zeit ist dem Charakter dieser schlichten, harmlos freudigen Kunst abhold und verlangt nach stärkerer Würze und er­regenderen Reizmitteln. Einer günstigen Aufnahme erfreuen sich diejenigen Sinfonien Haydns, aus denen der schalkische Humor, die liebenswürdige Ausgelassen heit des Meisters spricht.

Derjenige Toudichter des vorigen Jahrhunderts, dessen Kunstschaffen heute noch am Ersten einer allsei­tigen starten, packenden Wirkung sicher ist, ist Mozart . Freilich weit weniger durch seine Schöpfungen auf dem Gebiete der Liedkomposition, der Kammer- und Instrumentalmusik, von denen ein großer Theil be­reits bedenkliche Spuren eines rasch herannahenden Alters trägt, denn als Opernkomponist. In Mozarts Oper fluthet zuerst das bunte, abwechselungsreiche, vielgestaltige Leben, wie es das gesammte moderne

* Es sei an dieser Stelle ausdrücklich bemerkt, daß dieses wie alle früheren Urtheile lediglich von der Popula­rität der genannten Künstler in der breiten Volksmasse unter den obwaltenden Verhältnissen gilt. Dem Musiker und Wiusitkenner, dem Entwickelung und Richtung der musikali­schen Entwickelung in lebendigen Zügen vor Augen steht, und dem sich die Musikgeschichte als großes, wohlgefügtes Ganzes darstellt, wird es freilich stets ein Leichtes sein, in den Geist einer fernen Kunst einzubringen und sich ihrer Schönheit zu erfreuen.

Musikdrama erfüllt, findet zuerst eine stattliche Reihe individueller, scharf ausgeprägter Charaktere die tref= fendste musikalische Verkörperung, die im Rahmen der Gesangsmelodie möglich ist. Mozart hat nach Gluck und vor Wagner den entscheidendsten Einfluß auf die Ausbildung einer Kunstform ausgeübt, die als Vereinigung einer Reihe von Einzelfünften zu einem großen, organischen Ganzen den größten Neichthum großen, organischen Ganzen den größten Reichthum poetischer, musikalischer und szenischer Momente in sich schließt, und die darum die machtvollste Wirkung auf die weitesten Kreise auszuüben im Stande ist.

Beethoven endlich steht an der Schwelle einer gänzlich neuen Zeit in der Musik. Seine Kunst be­zeichnet eine Scheidewand in dem Charakter zweier Kunstperioden, von denen sich die erste längst als eine fertige, in sich abgeschlossene Epoche darstellt, während in der zweiten die Keime, die er gepflanzt hat, noch immer im Wachsthum begriffen sind. Wir charakterisiren die ältere Epoche am besten mit dem Hinweis darauf, daß in ihr die Musik lediglich als Kunst, als Ausdruck des ebenmäßig formell Schönen gilt, während sich seit Beethoven immer mehr das Bestreben geltend macht, Bereich und Ausdrucks­vermögen der Musik ins Ungemessene zu erweitern, sie zur Sprache auszugestalten. Beethovens subjek­tives Pathos bezeichnet den ersten und, wie wir hinzusetzen dürfen, heute noch nicht erreichten, ge= schweige denn übertroffenen Versuch, in Tönen die Geschichte einer kraftvollen, dem Höchsten zustrebenden Individualität mit all ihren Leiden und Wonnen zu schreiben. Der subjektive Charakter der Beethoven­schen Kunst ist für den modernen Menschen längst der Maßstab für die Beurtheilung des musikalischen Kunstwerks überhaupt geworden; es unterliegt keinem Zweifel, daß er auch unser Urtheil über die früheren Perioden der Musik erheblich beeinflußt hat. Es ist für uns schwer, Manchem vielleicht sogar unmöglich, sich in den Geist der Musik der vergangenen Jahr hunderte hineinzuverseßen und an ihre Kunstwerke mit der voraussetzungslosen Unbefangenheit heran­zutreten, die sie zu ihrem Verständniß und ihrer Würdigung unabweislich verlangen. Nur eine sorg­fältige musikalische Bildung und ein eingehendes, liebevolles Studium der älteren Musik kann das Verständniß für die reichen Schönheiten einer von der unserigen so grundverschiedenen Kunst erwecken.

Das verkaufte Kind.

Soziale Studie aus unserer Zeit. Von 7. Thieme.

ohlhabendes, kinderloses Ehepaar wünscht

einen gefunden Knaben( nicht unter drei Jahre und nicht über fünf Jahre alt) gegen einmalige, gute Entschädigung anzunehmen. Gefl. Offerten unter A. Z. 22 durch die Erped. d. Bl. erb."

Dergleichen Annoncen kann man alle Tage in den Berliner Zeitungen finden. In unserem Falle sind die Urheber der Nentier Berthold Türk und Frau. Sie handeln in bester Absicht, sie sehnen sich nach einem Kinde, da ihnen das Schicksal eigenen Kindersegen versagt hat, und wünschen eins der armen, bedauernswerthen Geschöpfe des Elends seinem Verhängniß zu entreißen, es zu einem edleren Dasein zu erziehen.

Die Zahl der eingehenden Offerten ist nicht groß, aber doch viel größer, als für die Beurtheilung un­serer sozialen und wirthschaftlichen Verhältnisse wün­schenswerth erscheint. Man bietet die Kleinen an, umsonst sogar, wenn es gewünscht wird, man bittet um Gotteswillen, sie zu nehmen.

" O, was es doch für Mütter giebt!" ruft Frau Türk entrüstet. Wie grausam und lieblos sie sein müssen, sich so von ihren Kindern zu trennen!"

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Oder wie elend!" erwidert ihr verständigerer Gatte. Sollte nicht gerade in den meisten Fällen die Liebe die Triebfeder ihres Handelns sein? Eine Mutter vermag Alles für ihr Kind, sogar seinen Besiz missen. Gott behüte uns vor dem Stadium der Verzweiflung, das aus vielen dieser schlecht ge­schriebenen und stilisirten Offerten spricht."

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hat nie des Lebens Sorgen kennen gelernt und ver­mag sich in das Loos und die Empfindungen einer solchen Mutter nicht hineinzudenken.

Eilig werden die geeignet erscheinenden Briefe beantwortet, gespannt sieht das Ehepaar der Vor­stellung der angebotenen Kinder entgegen. Keins von allen gefällt, bis auf eins, einen reizenden Knaben von vier Jahren, mit großen, blauen Augen, hoher Stirn, weißer Haut, blonden Locken.

Warum erhält gerade dieser den Vorzug? ,, Er ist so entzückend", sagt Herr Türk. " Zum Anbeißen!" sagt Frau Türk.

Sind die anderen Kinder darum minder würdig, weil sie weniger schön sind? Sind sie weniger ver­heißungsvoll deswegen? Wer weiß, vielleicht ist ihr innerer Kern sogar edler und besser, vielleicht schlummern Keime in ihnen, einer herrlichen Ent­wickelung fähig!

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Einer der Knaben hat eine verkrüppelte Hand ,, um Alles in der Welt nicht!"

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seine Mutter trägt ihn bitter lächelnd hinweg. Und Herr Türk und Frau sind noch wohlwollende Leute- wer aber kann von ihnen verlangen, daß sie eine Miß­geburt zu sich nehmen? Die Natur mag das ver­antworten, sie können nichts dafür.... So beginnt für diese beklagenswerthen Produkte der Armuth schon im zarten Kindesalter die große Preiskonkurrenz des Daseins, in welcher leider noch immer die äußeren und am wenigsten werthvollen Eigenschaften des Kämpfers den Sieg entscheiden.

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Der auserwählte Knabe heißt Jakob Jakob Helbig. Seine Mutter ist arm, von Allem entblößt, sie geht fast in Lumpen einher. Der Knabe aber ist sauber und für ihre armseligen Verhältnisse fast luxuriös gekleidet. Er ist ja ihr Ein und Alles! Aber der Vater starb wenige Wochen nach der Ge­burt, Arbeit ist schwer zu finden, wenn die Zeit zwischen ihr und einem Kinde getheilt werden muß. Entweder müssen Beide verkommen oder die Mutter wählt zwischen dem Kinde und sich selbst. So faßt sie den verhängnißvollen Entschluß. Mag aus ihr werden was will, wenn nur das Kind einmal glücklich wird. Hier hier ist es mein Liebling nehmt ihn hin!"

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Ihr Liebling! Wie hängt er sich angstvoll an sie fest, wie schluchzt er und will sie nicht verlassen. Was hat er an ihr, die kaum seinen Hunger stillt.

Auch ihre Thränen strömen- und doch trium­phirt sie, daß er ausgewählt worden ist.

Es muß sein. Sie nimmt das Geld, da man es ihr aufdrängt, dann reißt sie sich los.

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Aber sie darf ihn nie wiedersehen, sich nie mehr um ihn kümmern, das ist die Bedingung!" Ein schwerer Kampf, doch sie sagt Ja". Noch eine lebte Umarmung, dann verläßt sie das Haus. Der Knabe bleibt schreiend zurück. Mutter, Mutter, ich will zu meiner Mutter!" Man sucht ihn zu trösten, giebt ihm Zuckerwerk und Spielzeug.

"

So gehen Tage hin, an jedem erneuern sich seine Klagen, an jedem auch werden sie schwächer, endlich verstummen sie ganz. Nur etwas still ist er noch und mißtrauisch. Fast scheint es, als dulde er nur die Liebkosungen seiner neuen Eltern, ob­gleich sein Auge auf den schönen Kleidern, die er nun trägt, den blendend weißen Betten, in denen er schlummert, den kostbaren Spielsachen, die man ihm schenkt, mit sichtbarem Wohlgefallen ruht....

Wochen sind verflossen. Das Kind fängt an, sich an seine neue Lage zu gewöhnen. Der Mensch gewöhnt sich leicht an neue Verhältnisse, wenn sie angenehmer als die alten sind; Kinder vergessen überhaupt schnell. Und rasch genug betrachten wir die Spenden eines gütigen Zufalls als ein uns zu­stehendes gutes Recht, während der Unglückliche Alles schwarz um sich sieht und an fein Glück mehr zu glauben wagt.

Eines Morgens vernimmt Herr Türk lauten, erregten Wortwechsel im Vorsaal. Er geht hinaus und erblickt seine Frau in eifriger Unterredung mit der Mutter seines Pflegesohnes.

Frau Türk weist heftig zurück, indeß die Mutter flehentlich bittet.

Die arme Frau ist noch immer blaß und mager,

Frau Türk schüttelt ungläubig den Kopf. Sie aber sie ist anständiger als früher gekleidet.