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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

darauf angewiesen, die Schwindsucht dadurch zu be= kämpfen, daß wir den Körper kräftigen und unter­stügen. Wird die Krankheit in frühen Stadien erkannt, so sind für den Vermögenden die Aussichten auf Heilung günstig; er fann aufs Land, ins Ge­birge, nach dem lieblichen Davos   oder nach Aegypten  reisen, der kann sich in der Heilanstalt Görbersdorf im Waldenburger Gebirgskessel, mitten im Walde und rings von Bergen eingeschlossen, bei bester Pflege Ruhe und Erholung suchen.

Anders der, den die Natur stiefmütterlich in die Wiege des Proletariers gelegt. Ihm bietet sich die helfende Hand erst dar, wenn er so frank und schwach ist, daß wenig Hoffnung mehr vorhanden; dann kommt er ins Krankenhaus, um es oft nur auf furze Zeit oder garnicht mehr zu verlassen. Hier ist der Punkt, wo wiederum die Gesetzgebung eingreifen muß. Was nüßt es, dem armen Schiver­fraufen noch ein paar Monate das sieche Leben zu fristen? Früher muß die Hülfe kommen, so lange noch Zeit ist; große, öffentliche Heilanstalten müßten entstehen, in die der Schwindsüchtige im Beginn der Krankheit umsonst aufgenommen wird; mitten im Walde, unter bester ärztlicher Leitung, mit Bädern, Turn- und Spielpläßen, müßten diese Ansiedelungen liegen; ein Aufenthalt von wenigen Monaten oder einem Jahr würde meistens genügen, um die be= ginnende Schwindsucht fast völlig zum Ausheilen zu bringen. Es ist die Frage, ob sich das viel kostspieliger stellen würde, als das jezige Verfahren; denn der schwindsüchtige Proletarier reift doch all­mälig dem Krankenhaus entgegen und ist auf die öffentliche Wohlthätigkeit angewiesen. Wir müssen unseren geplagten Arbeiterstand kräftig und gesund erhalten!

Vorläufig ist das noch ein schöner Traum der Zukunft. Was soll also jetzt der mittellose Schwind­süchtige thun? Er soll selbst seinen Körper stählen! Wenn er bis spät in die Nacht in staubigen Kneipen sitzt und sich womöglich die Woche zweimal betrinkt, so wird sich dies bald schwer an ihm rächen. Er muß möglichst lange Schlaf haben, an schönen Tagen jede freie Stunde zum Spazierengehen bennzen und sich auch durch falte Tage nicht abhalten lassen; in rauhem, feuchtem Wetter soll er dagegen sehr vorsichtig sein. Jeden Morgen und Abend reibe er sich die Brust falt ab, nehme öfters ein fühles Bad und härte sich ab. Noch schwieriger ist die Frage Noch schwieriger ist die Frage der Ernährung; es fehlt dem Arbeiter meistens die genügende Eiweißzufuhr; als eiweißreiche und dabei sehr billige Kost ist zu empfehlen: der gewöhnliche Käse, die abgerahmte Milch( Magermilch), von der der ganze Liter nur fünf Pfennige fostet, und der grüne Hering. Von pflanzlichen Nahrungsmitteln find am eiweißreichsten die Erbsen, die man sich allerdings sehr leicht zum lleberdruß ißt.

Der Schwindsüchtige muß sich Stunde für Stunde bewußt sein, daß eine Schwächung des Körpers, cine mangelhafte Ernährung, eine Ausschweifung sehr oft gleichbedeutend ist mit einer Wendung zuni Schlimmeren; daß dagegen eine vernuftgemäße Be­töftigung, frische Luft und kaltes Wasser den Körper dem Siege entgegen führen. Diesen Grundsätzen Verbreitung in den weitesten Volksschichten zu ver schaffen, ist Aufgabe jedes wohlwollenden Menschen und vor Allem der Presse. Immer und immer wieder sollten Belehrungen ausgehen, immer wieder den billigen Forderungen der Gesundheitspflege Aus­druck verliehen werden.

Schnihel.

Manchem König, groß und mächtig, Schuf man Säulen, hoch und prächtig, Zu verkünden seine Stärke, Seine Thaten, seine Werke,

Doch die Säulen sind gebrochen;

Lüge war, was sie gesprochen,

Und was lügenhaft und schlecht

Stürzt die Zeit sie ist gerecht.

Dede sind die Königsgräber heute, Niemand fand sich, der den Bau erneute. Doch, ja doch! Es drückt durch aller Zeiten Lauf Ihres Landes Fluch als dunkle Säule drauf. Petöfi  .

Deutsche Sprachbeluftigungen.

Sechste Hampfel.

Von Manfred Wittich.

achträglich zu dem in der letzten Plauderei Vorgebrachten über die höher gewertheten Personen und die ihnen zuerkannten ehrenden Bezeichungen trage ich hier noch Eins nach. Im 12. Band der Germanistischen Forschungen brachte Franz Schroller eine Arbeit: Zur Charakteristik der schlesischen Bauern. Darin findet sich folgende höchst interessante Darlegung:

"

, Eheleute gelten für jüngere lluverheirathete selbst­verständlich als Respektspersonen, denen man das ehrenvolle Ihr zuerkennen muß. Diese Auffassung ehrenvolle Ihr zuerkennen muß. Diese Auffassung der, ich möchte sagen, höheren Würde der Ver­heiratheten ist überhaupt dem Landvolk eigen. Wie man ein unverheirathetes Weibsbild noch bis vor einigen Jahrzehnten als das Mensch bis das Wort einen verächtlichen Beigeschmack erhielt- be­zeichnete, so will man einer unverheiratheten Manns­person heute noch nicht die Bezeichnung Mann zu­erkennen, auch wenn sie schon im Greiſenalter steht und Haus und Hof, Amt und Würden hat. Man will sie Herr nennen, aber nicht Mann, denn Mann kann nur ein Verheiratheter sein. Ueber diese Auf­fassung gerieth ich vor einigen Jahren mit einer Bauersfran beinahe in Streit, als ich einen 50jährigen Junggesellen, der seine 80 Morgen Land bewirth schaftete und Gemeindeschöffe war, als Mann be zeichnete. Dos is ka Moan," fiel die Frau rasch ein. Was, fein Mann? Nun, was ist er denn, er ist doch keine Frau?"" Na, a Kalle( Kerl) is a, aber fa Wioan, wenn där a Moan wär, müßt ha a Weib hoan. War ka Weib hot, is ka Moan. Sulche Leute nenna mir ledige Kalle." Es liegt aber in dieser Auffassung mehr als tie Achtung vor dem Verheiratheten, es liegt darin die dem Bauern. unbewußt innewohnende Anerkennung und Werth­schätzung der Familie, die für ihn ohne die Ehe schätzung der Familie, die für ihn ohne die Ehe garnicht denkbar ist. Daher stehen der Kalle" und das Mensch" als familienlos eine Stufe tiefer als die Chelente und werden mit Du angeredet, während man diesen das Ihr zukommen läßt."

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Heute wollen wir uns mit einem anderen Gegen­stand, der den Anredeformen am nächsten verwandt ist, mit dem Anreden in Hauptwortform, beschäftigen. ,, Guten Tag, Herr Müller!"

So sprichst Du, lieber Leser, nimmst höflich den Hut ab und nickst dem Nachbar Müller freundlich zu und neigst dazu Dein Haupt ein wenig, oder vielleicht sogar ein Stück des Rückgrats mit.

Du bist ein Sohn des 19. Jahrhunderts wie nur Einer aber mit Wort und Geberden hast Du da eben ein Stück mittelalterliches Nitterthum auf­geführt oder, wenn Du lieber willst: mimisch- plastisch­rhetorisch zum Vortrag gebracht und aufgeführt.

Das Abnehmen des Hutes ist ein verblaßtes und verlümmertes Zeichen der Unterwerfung einem stärkeren, siegreichen Feind gegenüber. Nach uraltem Kriegsrecht gehörten alle Schuß- und Truzwaffen, die ganze Rüstung des Unterliegenden dem Sieger. Der Helm, der Sturmhut war nicht das unwesentlichste Stück; mit seiner Hingabe entblößte man das Haupt, den wichtigsten, edelsten Theil des menschlichen Leibes, den Wohnsitz des Verstandes, an den zugleich die Werkzeuge von vieren der fünf Sinne: Gehör, Ge­ficht, Geruch und Geschmack, örtlich gebunden sind. Diesen Theil gab der Besiegte wohl zuerst der Macht und Willfür des Siegers preis. Er sagte mit dem Abbinden des Helmes: Ich bin in Deiner Gewalt, Du darfst und kannst mir den Schädel einschlagen, und ich muß Dir sogar den Weg dazu frei machen! Thu, was Rechtens!

Auf Entwaffnung und Unterwerfung deuten alle Formen von Grüßen und Ehrenerweisungen hin. Das Anlegen der Finger der Rechten an den Helm, wie es bei den heutigen Soldaten üblich ist, dürfte eine Bewegung sein, welche das alte Abnehmen des Helmis ritterlicher Zeit nur in der bequemsten Verkürzung fiibildlich andeuten soll. Auch das Präsentiren des Gewehrs ist eigentlich ein Waffenstrecken, Andentung

der Abgabe der Waffe an den Sieger( hier an jeden Höhergestellten), dem sie einst von Faustrechts wegen gehörte. Die alte Art zu präsentiren" bestand darin, daß man mit der Rechten das Gewehr faßte und den Arm wagerecht seitlich ausstreckte, indent der Kolben auf dem Voden stand; auch das ist offensichtlich eine Selbstentwaffnung.

Von den Persern erzählen die alten griechischen und römischen Autoren, wenn sie ihrem Schachinschah sich nahten, hätten sie die Pflicht gehabt, den rechten Arm in den linken, den linken Arm in den rechten der beiden langen Aermel ihres Hofgewandes zu stecken, und so hätten sie die Arme fest über der Brust verschränkt halten müssen. Das ist eine sinn bildliche Fesselung der Arme, wie sie einem Kriegs­gefangenen zukommit, und dem Selbstherrscher Persiens  gegenüber war jeder Interthan nichts mehr.

Eine sprachliche Andeutung der Unterwerfung ist das Wörtlein Herr, ebenso wie das Abnehmen des Hutes. Ursprünglich ist dasselbe die Steigerungs­form zu dem alten Eigenschaftswort her, das dem neuhochdeutschen hehr entspricht; und es bedeutet demnach hehrer; althochdeutsch hêroro und dann hêrero, mittelhochdeutsch hêrro. Formelhaft redete man den Anderen an: hêrro min. d. h. eigentlich: Du, der Du höher bist, als ich. Auch diese sprach­liche Wendung fuüpft an das Bild an, welches ein Kämpferpaar nach dem Siege des Einen gab: der Unterliegende am Boden, der Sieger aufrecht stehend oder, wenn sie Leide zu Falle gekommen sind, wenigstens über ihm liegend oder sich schon wieder aufrichtend, so daß er höher in ganz sinnfälliger Bedeutung des Wortes ist als der Andere.

Aber man gab den Herrentitel auch Leuten, bei denen man nicht erst die Probe machte, ob man ihnen unterliege an Strast, um damit höflich an= zudenten: wenn wir kämpfen wollten, so würdest Du nach meiner Ueberzeugung siegen. Es ward Anrede des Jüngeren allen Aelteren, des auf der Stände­stufenleiter niedriger Stehenden allen Höherstehenden gegenüber. Wenn Alters- und Standesgleiche sich Herr anredcten, so traten sie aus Höflichkeit mit dem Munde" aus der rechtlichen und sozialen Standes­gleichheit heraus, um dem Auderen etwas Angenehmes, eine Schmeichelei zu sagen.

Im Hildebrandsliede heißt es, wo Vater und Sohn zusammentreffen:

Hildebrand redete( nämlich zuerst, denn), er war der hehrere Mann.

Hadubrand überläßt also seinem Vater das Wort zuerst, wie es dem Höheren gegenüber die Sitte erforderte. Ein Dienstverhältniß findet zwischen den Beiden nicht statt, eine Straftmessung hat zwischen ihnen auch noch nicht stattgefunden, und da Hadu­brand in seinem Gegner auch nicht seinen Vater kennt, ist diese Anrede auch nicht findliche Unter­ordnung, sondern einfach die unter das höhere Alter.

Diese Vorstellung, daß das Alter an sich höheres Ansehen verleihe, weil Erfahrung und llebung in allen Lebensfertigkeiten muthmaßlich mit ihm ver­bunden angenommen werden, herrscht auch in dem Gebiete der romanischen Sprachen. Das französische  Seigneur, das italienische   Signore, das spanische Señor gehen auf lateinisch Senior; d. i. älter, zurück, das schon im frühen Mittelalter den Sinn: Herr, Gebieter, Herrscher hatte. In dem Berichte eines lateinischen Chronisten über die Absetzung Karls des Einfältigen heißt es: Die Vornehmen der Franken vertrieben ihn, daß er nicht ferner ihnen wäre senior, d. h. eben, daß er nicht ferner über sie ein Herr wäre.

Wie das französische   Seigneur beim llebergang ins Englische zu Sire zusammenschrumpfte, so ver­fümmerte im Mittelhochdeutschen die Anrede oder Bezeichnung Herr vor einem Eigennamen zu er. Aus diesem in der Schrift unverstandenen Wortwrack machte man später, indem man es fälschlich mit êre, b. i. Ehre, zusammenbrachte, Wendungen wie: Ehren Voß, Ehren Stieber, Chren Tausch, mit humoristisch= satirischem Anklang.

Herr ist in mittelhochdeutscher Zeit die allgemeine Anrede au Leute ritterlichen, adeligen Stantes: Die ritterbürtigen Sänger und Dichter, Wolfram   von