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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
und blickte auf die Karte. Sie war nicht von der Kleinen. Aergerlich warf ich sie fort, ohne mich um den Inhalt zu kümmern.
Dann holte ich ihr Bild von Schreibtisch, wo es seinen Ehrenplaß hatte, trat ans Fenster und betrachtete lange die lieben Züge, und eine Sehn sucht nach der Geliebten ergriff mich. Doch die allgemeine Wüdigkeit ließ sich so schnell nicht meistern. Ich warf mich wieder aufs Sopha.
Alle die alten, lieben Erinnerungen tauchten jetzt in mir auf, aber auch bange Sorgen um unsere Zukunft mischten sich drein. Ihr Vater war ein gut fituirter Beamter und würde nicht gelitten haben, daß seine Tochter einen sozialdemokratischen Agitator Heirathete. Ueber kurz oder lang mußte es zum Konflikt kommen. Ich konnte nicht nachgeben. Und cr nun, wenn er nur das materielle Interesse seiner Tochter ins Auge faßte, hatte er ein gewisses Recht, mir ihre Hand zu verweigern. Was konnte ich seinem Kinde bieten? Ein wildes, bewegtes Leben lag hinter mir vielleicht auch vor mir. Armes Klärchen, unser Glück wirst Du mit mancher Thräne besiegeln müssen.-
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Eine innere Unruhe ergriff mich. Ich konnte nicht mehr auf dem Sopha liegen. Ich mußte irgend etwas in der Nichtung der Beunruhigung thun. Ich wollte Klärchen sprechen, heute noch. In fünf Minuten war ich auge ogen. Plößlich fiel mir die Karte wieder ein. Ich las sie schnell. Es war eine äußerst freundliche Einladung zu einer Versammlung im Diskutirflub Lessing", die noch am selben Abend stattfinden sollte.
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Vor Jahren war ich dort Mitglied gewesen, war seitdem von Zeit zu Zeit dort erschienen und hatte manchen gennßreichen Abend verlebt. Mein Plan war schnell gefaßt. Klärchen durfte dort erscheinen. Denn die Mitglieder des Vereins waren größten theils Söhne und Töchter aus ,, anständiger Familie", d. h. aus bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kreisen. Das genügte dem Herrn Papa. Daß auch diese Leute Sozialisten und Freidenker waren, hatte er nie erfahren, ging auch über sein Begriffsvermögen.
Ich rief Vor, meinen alten, treuen Neufundländer, aus seiner Schlummerece, denn ich bedurfte seiner, und machte mich auf den Weg zu Klärchens Wohnung.
Liebende sprechen ihre eigene Sprache, die nur fie verstehen. Sie würden sie sonst nicht sprechen. Am Ziele angelangt, gab ich Bor dreimal einen Wink und dreimal bellte der kluge Kerl laut und vernehmlich. Bald öffnete sich ein Fenster und Klärchen blickte freudestrahlend und lächelnd heraus. Sie nickte zum Zeichen, daß sie mich verstanden und zum Lessing" kommen werde. Schnell und unauffällig verschwand ich um die nächste Straßenecke.
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Langsam schlenderte ich mit Vor durch die Straßen, suchte noch einen alten Bekannten auf und begab mich schließlich zur rechten Zeit zum„ Lessing ".
Vicle Vereine habe ich in meinem Leben kennen gelernt, aber keiner konnte ein so geschmackvoll ausgewähltes Lokal aufweisen wie der„ Lessing ". An anderen Tagen hatten die Klosterbrüder" dasselbe inne, eine Kneipverbindung junger Künstler, die dasselbe mit vielem Geschmack dekorirt hatten. Man glaubte sich in das Refektorium eines Klosters versetzt. Eintönig grau waren die Wände. Historische Fenster mit altmodischen Gittern waren hineingemalt. Wohl konservi te Mönche mit vollen geistlichen" Gesichtern, den unvermeidlichen Humpen in der Hand, blickten auf uns nieder. Aus der Ecke grinste dem Eintretenden ein Todtenkopf entgegen nebst dem zugehörigen klapperuden Gebein. Die Beleuchtung war, wenn auch aus anderen Gründen, eine entsprechend spärliche. Der Saal stieß an einen großen, schönen Garten. Direkt hinter demselben brauste von Zeit zu Zeit ein Eisenbahnzug vorüber.
Bor und ich waren die Ersten am Play. Bor streckte seine alten Glieder an der Thür aus. Er kannte als ehemaliger, langjähriger Vereinshund seinen Platz und auch seine Pflicht. Sobald sich ein Bekannter sehen ließ, hatte er seine breite Pfote zum Willkommengruß hinzuhalten. So harrten wir der Dinge, die da kommen sollten. Wer zuerst kam war Klärchen.
Heute achtete sie nicht das Willkommen des Hundes, der sonst ihr erklärter Liebling war. Sie sprang froh lächelnd auf mich zu, und unter feurigen Küssen schloß ich den kleinen Schelm in meine Arme. Dann bestürmte fie mich mit tausend Fragen, von denen ich keine drei beantwortet hatte, als wir durch neue Ankömmlinge gestört wurden. Schnell füllte sich der kleine Saal.
Alte und Junge, Arme und Gutfituirte, Deutsche und Juden, Polen und Russen, Männer und Frauen aus den verschiedensten Gesellschaftsfreisen, Künstler und Studenten, Kaufleute und Volksschullehrer, Literaten und Schriftsezer, Alle waren hier vertreten. Dabei fanden sich wenig typische Züge, überall Originalität, oft gesuchte Originalität. Nur das Ganze war typisch, eine Gesellschaft bürgerlicher Sozialisten.
Nicht die unerbittliche Logik ökonomischer Thatsachen hatte sie geradeswegs zum Sozialismus ge= führt, sondern es war vielmehr ein schöngeistiges Interesse. Damit wurzelte aber ihr Sozialismus nicht auf so festem Boden wie der des Arbeiters. nicht auf so festem Boden wie der des Arbeiters. Nur zum geringsten Theile pflegten sie ihren historischen Reflexionen die materialistische Geschichtsauffassung mit allen ihren Konsequenzen zu Grunde zu legen. Sozialisten waren sie zumeist durch die Leftüre Bellamys," Ein Rückblick aus dem Jahre 2000", geworden. Mit jugendlich warmem Herzen hatten sie das Aufsehen erregende Buch geradezu verschlungen. Sie hatten sich einen gewissen Idealismus bewahrt, der kräftig genug war, um nicht perdu zu gehen, so lange die materiellen Konflikte ausblieben. Mit bürgerlichem Scharfsinn wußten sie denselben sehr geschickt aus dem Wege zu gehen. So waren sie ihrer ganzen Natur nach genugsam prädestinirt, daß der soziale Nothschrei: Kain, was hast Du Deinem Bruder Abel gethan?" in ihrem Herzen immerhin widerhallen konnte. Ihre Sinne hatten einen neuen Reiz gefunden. Der Sozialismus bot ihnen eine gewisse ästhetische Befriedigung. Ihre atheistischen Gemüther wurden von einer neuen Religion erfüllt. Sie schwelgten jetzt in Freiheit, Sie schwelgten jetzt in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit oft bis drei Uhr Nachts im Caf. Sie fraternisirten in Zigarren und Bier. Sie blickten mit Verachtung auf ihre„ degenerirten" Klassengenossen, mit vornehmen Mitleid auf die große Menge ihrer proletarischen Genossen". Sie pflegten zu lächeln, wenn sie das Wort auss rachen. Sie glaubten, berufen zu sein, der darbenden Mensch heit die Erlösung zu bringen. Sie betrachteten sich, die Gebildeten und Besitzenden, als die berufenen Führer des Proletariats in dem großen, bevor stehenden Kampfe.
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So war der Kern der Gesellschaft beschaffen, in der ich mich befand. Dazu kamen unruhige Geister, die abenteuernd die ganze Welt durchzogen hatten, sich nirgends länger als einige Monate aufhielten. Ferner waren eine ganze Reihe junger Herren und fogenannter emanzipirter Damen anwesend, die überall in der Großstadt zu finden sind, wo etwas Neues, Interessantes zu genießen ist, die nur gekommen waren, sich zu amusiren, die weder Neigung noch Fähigkeit zu ernster Arbeit besaßen.
Jeder Einzelne hatte wiederum seine besonderen Schrullen. Denn Schrullen machen interessant, und wer interessant ist, kommt in diesen Kreisen zur Geltung.
Die Gesellschaft war so bunt und in ihren geistigen Saltomortalen so drollig, in ihrem erzentrischen Wesen so anormal, daß Einem das Herz im Leibe lachen mußte ob all der freiwilligen und unfreiwilligen Komit, die hier entfaltet wurde. Ich pflegte diese Bildungsstätte" nur zu besuchen, wenn ich von langer Arbeit müde und abgespannt war und einer gewaltsamen Erheiterung bedurfte, die mir hier auch stets in reichem Maße zu Theil wurde.
Die Sigung begann. Ein fleiner, beweglicher Mann mit unruhigem Blick und etwas abgelebten Zügen ersuchte den Schriftführer, das Protokoll der lezten Sigung zu verlesen. Ich gewann Muße, mir die Gesellschaft in einigen Prachte emplaren näher zu betrachten.
Da saß ein großer, starfer Mann mit graumelirtem Bart, schauerlich wildem Haarwuchs und finsteren Augen. Ein wild bewegtes Leben schien
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diesen starren Nacken etwas gebeugt zu haben. Er sekundirte jede Aeußerung seiner Umgebung mit grimmigem Lachen, während er mit größter Gemüthsruhe seine Kalfpfeife stopfte. Mit wilden Gesten pflegte er seine hastig, oft leidenschaftlich hervorgestoßenen Worte zu begleiten. Erschreckt fuhr seine Umgebung empor, wenn er an einer besonders fräftigen Stelle mit seiner nervigen Fauft auf den Tisch schlug. Die Fama wußte aus seiner VerEr selbst gangenheit Wunderdinge zu berichten. sprach nie über seine persönlichen Verhältnisse. Jahre lang sollte er als Freibeuter sich in den Er war Sundagewässern herumgetrieben haben. Freidenker und Anarchist. Namentlich das Nonventionelle haßte er bis aufs Blut. Er selbst ging stets ohne Vorhemd und Slips, prinzipiell, wiewohl es ihni nach seinem sonstigen Auftreten nicht an den Mitteln zu fehlen schien. Mitteln zu fehlen schien. Wovon er lebte, wußte Niemand. Unter uns Sozialdemokraten, die sich hin und wieder im Klub sehen ließen, ging das dumpfe Gerücht, daß er Polizeispiel sei; ob mit Recht oder Unrecht, habe ich bis heute nicht erfahren können.
Neben ihm saß ein anderes Unifum, mit Gesichtszügen, in denen Vieles zum Ausdruck kam, aber niemals das, was den Besitzer dieser Pysiognomie augenblicklich bewegte. Alles schien er mit der gleichen Ruhe spurlos an sich vorüber gehen zu lassen. Er war einer von Denen, die fertig sind, fertig mit sich und der Welt. Er hatte sich mit dem Leben abgefunden. Illusionen gab er sich nicht hin. Nach seiner eigenen Fa on wollte er selig werden. Er war Anarchist, nicht nur in der Theorie, sondern auch praktisch, nicht einer, wie er im Polizeibericht vorkommt, sondern ein echter, wahrer Alltagsanarchist. Er warf nicht mit Bomben. Aber er lebte nur sich selbst, sich ganz allein. Alles Andere war ihm gleichgültig, sofern es ihn nicht unterhielt. Er machte durchaus kein Hehl aus dieser Gesinnung. dieser Gesinnung. Arbeiten that er nur, wenn es dringend nothwendig war. Er hatte wenig Bedürfnisse. Zu vielen Arbeiten besaß er Begabung und Geschick. Wenn es sein mußte, wußte er viel Geld zu verdienen. So wurde es ihm leicht, recht selten zu arbeiten. Das größte Vergnügen für ihn war, irgendwo fern vom Lärm der Städte sich ins Gras zu werfen, zum Himmel aufzuftarren und dann zu dichten, in bunter Folge, was ihm gerade einfiel, was er in seinem wechselvollen Leben wahrgenommen hatte. Die ganze Tonskala menschlicher Empfindungen fam in diesen Gedichten zum Ausdruck, von schwärmerischer Begeisterung bis zur Kaltwasserdouche des grausamsten Spottes. Er dichtete nur für sich selbst. Selten las ein Anderer seine Verse. Wozu auch für Andere arbeiten? Was hatte er davon? Er brauchte Niemand und wollte von Niemand gebraucht werden.
Weiterhin saß ein hübscher, blonder Lockenkopf mit intelligenten Zügen und lebhaftem Blick. Er war begeisterter Anhänger Kants, eine verfehlte Existenz, die des Morgens als Hausknecht funktionirte, des Abends in Dingen an sich und kategorischen Imperativen machte.
Am anderen Ende des langen Tisches saß ein Taubstummer, ein blasser, junger Mann mit schwärmerischen Zügen und dunklen Augen, ein bekannter lyrischer Dichter meiner Vaterstadt. Er verfolgte Alles mit der gespanntesten Aufmerksamkeit, bald hier, bald dort mittelst eines Zettels schriftliche Auskunft erbittend.
Neben mir hatte sich ein moderner Pessimist auf den Stuhl geflegelt. Er verpaffte mit vielem Behagen eine Zigarre nach der anderen und tranf einen Schoppen Münchner nach dem anderen. Er war fein Sozialist. Sein Lebenszweck schien darin zu bestehen, mit allen möglichen Narkotika den ungeheuren Weltschmerz, an dem er zu laboriren schien, zu betäuben, bis endlich der große Augenblick fommen würde, in dem er den Muth fassen würde die einzige Konsequenz des effimismus zu ziehen: sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Vorläufig aber schien er mit diesem irdischen Jammerthal noch ganz gut auszukommen. Und dann so etwas sagt eine Kugel durch den Kopf jagen man wohl, aber man thut es doch nicht.
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