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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Vertheilung der Schlafmarken. Ein Sänstling" crster Garnitur fostete fünfzig, einer zweiter Gar­nitur dreißig Pfennige. Ich wählte aus Sparsam­leit einen der letzteren Gattung und erstand eine Karte zu dreißig Pfennigen. Wollten in einem Sänft­ling" zweiter Güte zwei Mann gemeinsam schlafen, so hatten sie jeder nur zwanzig Pfennige zu zahlen.

Während des Kartenverkaufs hatte sich ein Mensch eingefunden, der aussah, wie ein zur Arbeit schrei tender Metzger. Er benahm sich auch so. Wie eine zum Schlachten bestimmte Hammelheerde überblickte und überzählte er schweigend die Schaar der Kunden, rieb dabei seine wulstigen Hände mit der schunßigen Schürze, die seinen Vordertheil zierte, und streifte die Hemd­ärmel noch höher. Dann begann er die Kunden nach den Karten zu sortiren. Er schob sie, je nach der Karte, mit rauher Hand an bestimmte Plätze und bildete so drei Abtheilungen; bei dieser Ve­schäftigung verfor er fein einziges Wort, r furrte er fortwährend wie ein verdrießlicher Pudel. Wir mußten ihm unsere Legitimationspapiere aus­händigen.

Der Verkauf war beendet, die Abtheilungen standen geordnet da. Der Vater öffnete die Thür und kommandirte Instig: Erste Eskadron marsch!" Seinem Winfe folgend gingen die zwei oder drei Mann, die Karten zu fünfzig Pfennigen gelöst hatten, hinaus; die Herbergsmutter folgte ihnen nach. In der nächsten Minute traf uns Dreißigpfennigsleute das Kommando, und, den Herbergsrater an der Spitze, marschirten wir hinaus und eine Treppe empor. Vor einer Thür wurde Halt gemacht. Der Schneider stellte die Lampe auf einen alten Tisch und rief: Es wird gebient!" Augenblicklich rissen die Kunden Nöcke und Westen herunter, und wer Vorhemd und Kragen trug, entfernte in Eile anch diese Dinge vom Leibe. Ich folgte dem Beispiele der Anderen und erkannte bald, daß es sich um eine pein­

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Ich komme doch aus der Arbeit, nicht von der Reise!"

Ganz egal! Bei mir gehts sauber zu! Wenns bei Ihnen anders is, kann ich nicht dafor!" ,, Vei mir gehts auch sauber zu!" rief ich erregt. Nu da, da! Man sollte nicht for möglich halten!"

Er lachte über diese Verhöhnung, die komisch wirfen sollte, und die Kunden lachten mit.

" O, Du erbärmlicher Filz! Du dummer Holz­floß, was bist Du mir gegenüber! Mich fannst Du garnicht bele digen!"

Diese unfeinen Worte sprach ich nicht laut; ich dachte sie nur zu meiner Beruhigung; denn mir war, als müsse mir die Galle überlaufen. Der rohe Mensch untersuchte mich so eingehend, wie er die Anderen untersucht hatte, und es schien, als wollte er in meinem frischen Sonntagshemd durchaus eines der nichtswürdigen Thiere ermitteln, denen sein heißer Ich mußte alle Kraft zu Forschungseifer galt. fammennehmen, um standhaft zu bleiben bei dem Gefühl schmachvoller Erniedrigung, das mich über­mannen wollte. Heimgelehrt aus dem angesehenſten und elegantesten Gesellschaftskreise der Stadt, ward ich, wie ein Haderlump, auf Ungeziefer untersucht! ich, wie ein Haderlump, anf Ungeziefer untersucht! Ein König im Reiche der Kunst, die Seele geschwellt von erhabenen Empfindungen und Gedanken, und hier in den Augen des christlichen Schneiders und der Kunden ein elender, gemeiner Hausnarr! In solchen Augenblicken lernt man begreifen, daß der Mensch im Leben allemal so hoch steht, als er Wer diese Pfennigweizheit zur sich selbst stellt. rechten Zeit zur Hand hat, dem ist sie plöglich hundert Kronen werth; sie verleiht ihm die hohe Kraft, seine Widersacher zu verachten, oder zu bemitleiden.

Als endlich der Bienenjäger seine Krallen von mir abgelassen hatte, trat ich in das niedere Schlaf­zimmer, in das die Lampe nur spärliches Licht warf.

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Da mein Mitschläfer entseßlich aus dem Munde roch, wandte ich ihm den Rücken zu, lauschte einigen Kunden, die von ihren Fechterfolgen erzählten, und schlief bald ein. Als der Vater" am anderen Morgen weden kam, hatte ich bereits mein Bündel zurecht­Ich geschnürt und meine Reisetoilette vollendet. ging hinunter und forderte meine Papiere. Die müssen erst eingeschrieben werden," erwiderte mir die Mutter; trinfen Sie nur erst Kaffee!"

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Eigentlich war es meine Absicht, so rasch als möglich und ohne Frühstück aus der mir verhaßten Bude zu entrinnen, doch die Mutter" brachte mir Kaffee, und ich nahm ihn an, obgleich ich ihn nicht bestellt hatte. Dringend bat ich sie, mir die Papiere schnell zu besorgen. Troß dieser Bitte mußte ich noch eine lange Weile warten.

Noch konnte ich nicht zur Stadt hinaus mar­schiren noch gab es einen schweren Gang zu thun. Mein Arbeitsbuch mußte die polizeiliche Weihe em­pfangen, und ich scheute mich, nochmals vor den Stadtsekretär hinzutreten. Doch dieses lugemach blieb mir erspart; nachdem ich eine ganze Stunde gewartet hatte, da die Herren noch nicht zur Stelle waren, wies mich endlich ein Boli eidiener in eine Kanzlei, in der ein mir unbekannter Beamter saß. Er drückte den Polizeistempel in mein Buch, frizelte unleserlich seinen Namen darunter, und ich eilte er= leichterten Herzens von dannen- über den Markt hinweg, zu einer schmalen Gaffe hinaus und auf einem Feldwege nach der Chaussee. Keine mir be= fanule Seele traf ich unterwegs, und das erschien mir als ein Glück.

Die Trümmerstadt meiner zerschellten Hoffnungen, meines zerfallenen Glaubens liegt hinter mir. Thalungen, leb wohl!

( Fortsetzung folgt.)

liche Leibesvisitation handelte. Der erste der Kunden zu beiden Seiten des Raumes standen Betten, auf der Streifzüge durch das Reich der bildenden Kunst.

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stellte sich an das Licht, und der Herbergsvater durch forschte mit großer Sorgfalt den Hemdkragen und die Näthe des Hemides; er forschte nach dem Vor­handensein jener ungeflügelten Insekten, von denen in meiner Heimath die Sage ging, daß sie für uns Menschen gesund seien, da sie das Blut reinigen, so wie eine Kröte den Wassertümpel reinige, nach jenen zarten Thierchen, die wahrscheinlich ihrer rastlosen Thätigkeit wegen von den Kunden als Bienen" bezeichnet werden, und die ich später unter dem prunkenden Namen Deutsche Reichsfäfer" persönlich fennen lernte. Bei Zweien meiner Vordermänner wurden Bienen entdeckt. Leben Sie recht hübsch wohl!" spottete der Herbergsvater bei der ersten Ent­deckung und schubſte den unreinen Kunden zur Seite. " Uf'm Stroh finden Ihre Gäste Gesellschaft!"

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Der Kunde ließ sich die Zurückweisung schweigend gefallen; doch aus seinem Gesicht sprach ein erbar­mungswerther Jammer. So mag einem Sünder zu Winthe sein, wenn er am jüngsten Tage bei dem großen Scheidungspro esse auf die Seite der Böcke verwiesen wird.

Sein Schicksalsgenosse erhob Widerspruch gegen die Zurüdwei ung; er meinte, wenn er Bienen hätte, so müßte er doch zu allererst etwas davon gemerkt haben. Aber der Visitator ließ sich nicht irre machen.

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Wollen Sie mich Bienen kennen lernen,?" fragte er stolz und beleidigt. Da kommen Sie bei mir zu spät! f'n ersten Blick sah ich, daß bei Ihnen was los is. Das Bett versauenna wissen Sie, da gicbts nischt bei mir! Da müssen Sie schon ins Hotel gehn!"

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Aber wie sollt' ich denn zu Bienen kommen!" Vielleicht sein sie zu Ihnen gekommen!" lachte der christliche Herbergsvater, dem solche Antworten bereits geläufig zu sein schienen.

Die sauberen Kunden lachten pflichtschuldig mit, und der Schneider fühlte sich sichtlich geschmeichelt in dem Bewußtsein, daß er ein großer Wizbold sei.

Die Reihe war an mir. Ich wollte, da bei mir das Bienen überflüssig war, am Schneider vor­beigehen und meinem Hintermanne Plaz machen, doch er packte mich an der Hosenschnalle und zog mich mit den Worten zurück: Halt nur, Bruder, halt! Wir wollen uns erst Dein Hemd mal ansehn!"

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einen Seite langhin an der Wand, auf der anderen quer über das Zimmer. In dem sehr schmalen Gange, den die beiden Bettreihen bildeten, standen wartend die als rein" befundenen Kunden; durch wiederholte Zurufe untersagte ihnen der Vater" streng, selbst= ständig eine Lagerstatt zu wählen.

Die Visitation ist beendet; er tritt mit dem Lichte in den Raum, zählt die Betten ab, die uns zur Ver­fügung stehen, und ermahnt uns, nichts zu ruiniren; ,, denn die Betten sein nicht gestohlen, sie kosten Geld:"

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Nicht einmal ein Stuhl ist vorhanden, auf den man seine Sachen legen kann! Kein Rechen an der Wand, fein Nagel! Die Kleider müssen unter das Bett auf den Fußboden gelegt werden. Aber der Fußboden ist reene", wie uns der Herbergsvater belehrt; er wird alle Tage ausgekehrt."

Während wir uns entkleiden, kommt die Zwanzig pfennigkolonne aumarschirt, und sie wird von ihrem Der Vater unterstützt hierbei Führer gebient". seinen Assistenten, und so geht die wichtige Arbeit flott von statten. Auch diese Kunden legen sich zu Bett, allen Weisungen folgend, die ihnen der Her­bergsvater im Befehlshabertone ertheilte. In jedes Bett zwei Mann. Aber die Ruhestätten reichen nicht aus; zwei Mann sind überzählig. Der Schneider weiß Rath. Einer hierher, der Andere dorthin!" befiehlt er, und sogleich schiebt ein bereits entkleideter Kunde seine Habselig eiten unter mein Bett, drängt mich ungestüm zur Seite und legt sich zu mir.

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Ich richte mich auf und will mein erworbenes Aurecht auf die Alleinbenuzung des Bettes wahren; allein der Herbergsvater erwidert grob, daß er feinen Skandal dulde und daß Jeder zu gehorchen habe, und mein fremder Bettgenoß offenbarte seinen liebens­würdigen Charater, indem er mir einen Puff ver= setzte und sagte: Halts Maul, ich will Ruhe haben!"

Der andere Dreißigpfennigmann, dem ein Zwan­zigpfennig ollege zuertheilt worden war, proteſtirte gleichfalls gegen die Maßregel und forderte außerdem den zuviel gezahlten Betrag zurück; doch es crging er ward einfach zur ihm nicht besser als mir Ruhe gewiesen; wenn es ihm nicht passe, fönne er draußen auf der Wiese schlafen. Es ging wirklich sehr christlich zu in der christlichen Herberge!

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der

Von Scotus.

I.

Sascha Schneider  .

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m Einzelnen Vieles lernen, am Kleinen das Ganze erkennen: dies sollte das Motto bei der Betrachtung von Kunstwerken sein. Von bildenden Kunst der Vergangenheit bis zu der der Gegenwart ist ein ungeheurer Weg, und dem Einzelnen ist es kaum möglich, ihn völlig zu durch­wandeln. Aber diese oder jene Etappe auf dem Wege ist Jedem zugänglich und an diesem oder jenem Künstler oder Kunstwerk aus der bunten Neihe kann man oft leichter und unbeeinflußter das Gebiet der gesammten Kunst beurtheilen, als bei dem mühsamen und langwierigen Durchackern des ungeheueren Jeldes. Den Lesern der Neuen Welt" ist der junge Künstler Sascha Schneider   nicht mehr ganz unbekannt. An einigen seiner in schneller Folge erschienenen Bilder: Das Gefühl der Abhängigkeit,"" Judas Jicharioth"," Der Gedanke an das Unendliche" und " Der Triumph der Finsterniß" haben sie Gelegen­heit gehabt, sich annäherud ein Urtheil über die Eigenart und den künstlerischen Werth Sascha Schnei= ders zu bilden. In unserer heutigen Nummer bringen wir nun zwei neue Werke Schneiders: Eine Vision" und Um eine Seele". Bei diesem Anlasse seien uns einige Worte zur Einführung in die Persön­lichkeit des Künstlers und die Art seines Schaffens gestattet.

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Vor Kurzem ist in einem vornehm und geschmack­voll ausgestatteten, veroienstvollen Sammelwerke: Meisterwerke der Holzschneidekunst"* auch eine Mappe mit zwölf Holzschnittkartons von Sascha Schneider   erschienen. Außer den bereits augeführten Arbeiten enthält sie noch:" Der Anarchist," Eins iſt noth,"" Ein Wiedersehen,"" Jesu in der Hölle," " Der Mammon und sein Sflave,"" Der Gram" und Der Herr der Erde  ".

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Was uns an allen Bildern Sascha Schneiders am ersten in die Augen fällt, das ist das All­gemeine und Typische seiner Stoffe. Wir

* Bei J. J. Weber, Leipzig  .