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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

zu erhöhen. Eine andere Frage ist die, ob der äußerlichen Abstufung auch die innerliche Armuth gleiche. Sehen wir also einmal zu, ob nicht auch die Kryptogamen- Proletarier der Pflanzenwelt" hat sie ein großer Naturforscher bedeutungsvoll ge= nannt troß ihrer förperlichen Kleinheit und un­auffälligen äußeren Erscheinung, troß ihres fümmer lichen, verborgenen, zum Theil schmarozerhaften Daseins, in ihrem Inneren nach Bau und Bildung gleiche Vorzüge aufweisen, wie die höheren Pflanzen gebilde. Speziell nun die Flechten und Pilze, die, ebenfalls zur Nachtseite der Natur gehörend, von allen niedersten Gattungen fast ausschließlich in unseren Wintern die überlebende Pflanzenwelt ausmachen.

Ihrem Wesen, mehr ihren Lebensbedingungen nach, stehen die Flechten, denen wir uns zunächst zuwenden, selbst noch unter den Pilzen. Man schätzt die Zahl der bekannten Flechtenarten auf tausend bis zwölfhundert. Schon Mancher hat, wenn er einen Wald betrat, oder einen Felsen, die vor ihm sich ausbreitenden Flechten für Moose gehalten. Was aber sind sie anderd. die younen Bärte an Sadelhölzern, die Champagnergläschen" auf alten Lehmmanern, die pomeranzengelben, laub­artig ausgebreiteten Nefter an feuchten Bretter­planken, an der Rinde alter Bäume, vornehmlich Pa pelu, als Flechten? Besonders aber bilden sie in feuchten Gebirgswaldungen im Verein mit den Moosen , Haide- und Heidelbeerbüschchen die so wohl thätige bleich- hell, grün- grau gefärbte Bodendecke für die Waldbestäude. Im Gegensatz zu höheren Pflanzen ermangeln sie alle der Wurzeln, Blätter und Blüthen. Von den einzelnen Arten nennen wir zuerst die gergraphische Scheibenflechte. Sie bedeckt oft Sie bedeckt oft ganze Felsenwände mit ihrem Schwefelgelb und ist eine der genügsamsten Flechten. Sie kann Monate lang, nur mit Nachtthau getränkt, des Regens entbehren. Von anderer Art ist die bräunliche Schüsselflechte, welche nicht nur auf Brettern, Baumrinden, Steinen, sondern sogar auf Moos lebt. Der Körper oder Thallus derselben ist grau­weißlich und körnig- warzig. Auf diesem stehen die fleinen, hellrostbraunen Knöpfchen mit grauweißlich erhabenem Rande gleichenden, großen und kleinen Früchte, Apothecien genannt. Diese Flechte gehört zu der großen Ordnung der Krustenflechten. Die gemeinste unter ihnen ist die Schriftflechte, die man auf den glatten Stämmen unserer meisten Laub­und Nadelhölzer findet. Ihre Früchte gleichen graden oder krummen Schriftzeichen, welche in die außer ordentlich feine Kruste eingesenkt sind. So einfach und unscheinbar diese Flechte ist, giebt es doch noch niedrigere Arten, wie etwa die an Baumrinden oder Felsen zumeist grauweißlich, schwefelgelb oder rost braunen pulverartigen Anflüge, welche sich mit der Hand leicht abreiben lassen und, wie neuere Forschung ergeben hat, entweder einen Zersetzungsprozeß höherer Flechtengebilde oder unvollkommene, auf niedrigster Stufe verharrende Flechten darstellen. Die pome­ranzenfarbige Schild flechte, deren Standort wir schon angedeutet haben, stellt bereits eine höhere Stufe im Reiche der Flechten dar. Ihre Schwester, die Felsenschild flechte, unterscheidet sich nur durch das freier aufsteigende, tiefer geschlitte Laub und durch dessen oben grün- oder grauweiße, unten braunschwarze Farbe. Diese Schildflechten sind es, welche einer Ruine, einer Felsenpartie, einem alten, vernachlässigten Garten recht nachdrücklich das Ge­präge des Alten, Verfallenen und somit der Land­schaft einen besonderen Charakter geben. Auch die Becherflechten haben Antheil an der Ausschmückung des Bodens. Noch höher stehen die Stielflechten, und zwar sind sie die höchsten der Flechten auf dem aufwärtssteigenden Stamme der Entwickelung. Nadel­wälder sind ihr Aufenthalt, zu deren Füßen sie oft nicht minder dichte bleich gefärbte zierliche Wäldchen bilden oder von den Zweigen als lange, graue Bärte herabhängen. So erhält ein Tannenwald ein eigen thümlich greisenhaft ehrwürdiges Aussehen. Diese Flechten haben ein ungemein zähes Leben. Sie können Monate lang ohne Wasser sein, wie ausgedörrte Mumien erscheinen, und dennoch wird sie irgend ein flein wenig Feuchtigkeit zum Leben erwecken. Die bedeutendste unter ihnen ist übrigens die Renn

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thierflechte; man kann ihr, wenn auch mit Be­schränkung, nutzbare Bedeutung, ähnlich dem Noggen und der Kartoffel, zuerfeunen. Sie macht die unwirthlichen Landstriche des höchsten Nordens be­wohnbar. Auch das sogenannte Jsländische M003 hat hieran Antheil. Es gilt nicht blos als vor­treffliches Mittel gegen Bruſtleiden es giebt sogar dem Menschen eine ziemlich nahrhafte Speise. In früheren Zeiten, erzählt eine tirolische Sage, wuchs die isländische Flechte auch in den Thälern und war so reich an nährenden Stoffen, daß die Kühe, welche davon fraßen, außerordentlich viel Milch gaben. Als nun Christus anf einer seiner Wanderungen auch nun Christus anf einer seiner Wanderungen auch durch Tirol fam, gelangte er, als Bettler verfleidet, durch Tirol kam, gelangte er, als Bettler verkleidet, zu einem Gehöfte, in welchem die übermüthige Bäuerin soeben ein Milchbad nahm und den bittenden Herrn schnöde abwies. Da erzürnte dieser und verbannte die nüzliche Flechte aus den Thälern, indem er rief: Iseré , wachs unterm Schnee," und seitdem wächst die Pflanze, die früher here hieß, nur auf den Höhen; freilich nicht stos in Jsland, wie ihr Name Höhen; freilich nicht stos in Island , wie ihr Name andeuten möchte, sondern auch auf unseren hohen wuidbergen. Bemerkenswerth sind noch die schlanke Becherflechte, die stets truppweise beieinander lebt und kleine Säulchenwälder bildet, und die schön knallrothe Tausendschönflechte. Wenngleich die Flechten im Ganzen genommen wenig nügen, ja z. B. den Obstbäumen schaden, so sind sie doch keine eigentlichen Schmaroßerpflanzen, denn Lust und Wasser sind ihre ausschließlichen Nahrungsquellen, und dem Boden, den sie bedecken, entziehen sie nichts von seiner Kraft. Und so ganz unnüz sind sie doch auch nicht im Haushalte der Natur. Weltbekannt ist ja ihre Dienstfertigkeit als Führer im Walde, weil sie sich stets an den Bäumen auf der Westseite, von wo in Deutschland die feuchten Luftströmungen kommen, anseßen. Und dann: wer kennt nicht den rothen Farbstoff, die Orseille, mit dem chemischen Namen Orcine? Er wird, nebst anderen, aus der Rocella tinctoria, fuciformis, Lecanora parella gewonnen.

Ganz im Gegensatz zu den Flechten ist eine große Anzahl Pilze als Schmarozer zu bezeichnen. Es ist schwer, von ihnen etwas Allgemeines zu sagen, es sei denn dies, daß allen viertausend Arten die grüne Farbe fehlt. Am meisten fallen sie neben den nach Zirkel und Winkelmaß ins Gröblichste aus­gearbeiteten, dennoch so unendlich mannigfaltigen Formen und schreienden oder verschwommenen Farben durch ihren modrigen Geruch auf. Mit vollem Recht nennt sie Ofen eine organisirte Fäulniß", denn sie sind in der That nichts Auderes als die ersten Ver­suche, das Faulende zu beleben. Sie scheinen es wohl ihrer eigenthümlichen Bauart, ihrer giftigen wohl ihrer eigenthümlichen Bauart, ihrer giftigen Eigenschaft und ihrem niederen und zumeist finsteren Eigenschaft und ihrem niederen und zumeist finsteren Aufenthaltsorte zu verdanken, daß sie, wahrscheinlich wegen ihres sprichwörtlich gewordenen schnellen Wachsthums und Erscheinens, nicht blos mit den Elfen und Gnomen in Verbindung gebracht wurden, sondern auch in den Bereich des Dämonischen und der Zauberei gekommen sind. So wächst, nach einer Sage, in Wales ein Giftschwamm, Bwyd- Ellyllon genannt, der zu den Leckerbissen der Elfen gehört, aber von Menschen und Thieren gefürchtet wird. Plinius erzählt, daß auf den Gipfeln der Eichbäume in Gallien weiße, wohlriechende Schwämme wuchsen, welche des Nachts leuchteten und daher auch nur im Dunkeln gesammelt werden konnten. Man bereitete aus ihnen das Agaricum, das als ein sehr wirk fames Mittel gegen Vergi tung berühmt war. Wolf erzählt folgende Sage: In dem Walde, der sich vom Kloster Trie enſtein bis zu den Höfen den Eichen forst am Bergabhange längs des Mains hinzieht, besonders aber auf dem Plaße, wo ehedem das Raub­schloß Neuenburg gestanden, läßt sich von Zeit zu Zeit eine Frau sehen. Dieselbe erschien einmal in Walde einem armen Holzhauer, als dieser eben über seine traurige Lage nachdachte, und fragte ihn, warum er so traurig sei. Als er ihr nun seine Noth klagte, so pflückte sie eine Hand voll Schwämme und schob dieselben in die Tasche des Mannes mit den Worten: " Heute Abend, wenn Du nach Hause gekommen bist, sieh nach, was ich Dir gegeben habe." Der Holz­hauer that, wie ihm gesagt, und als er zu Hause

nachsah, waren die Schwämme in Goldstücke ver­wandelt. Der Giftcharakter der meisten Schwämme wird in der Altmark selbst mit den Fröschen in Beziehung gebracht, indem man gewisse Giftpilze " Poggenstohl" d. h. Froschstühle nennt. Bei den Jägern gilt die Gichtmorchel als ein Mittel, die männliche Kraft zu erhöhen. Ist der Schwamm noch jung, so hat er die Form und Farbe eines Eies und wird vom Volke Herenei" genannt. Er wurde sehr häufig zur Bereitung von Lie estränken benußt. Noch an einen Schwamm knüpft sich Dämo­nismus: es ist der kleine Theuerling, der geſell­schaftlich auf feuchten Holzwerk wächst und bei seiner Reife Samen von der Form kleiner Linsen umher­streut. Der Bauer zählt diese Samen; denn die Meze Koru soll im nächsten Jahre genau so viel Groschen gelten, wie einer dieser Thenerlinge Samen ausstreut. Wir wollen hier nur der Schädlichkeit der verschiedenen Blattpilze, des gemeinen Schimmels, der namentlich auf gährenden Früchten und Fruchtsäften sein Wesen treibt, der bekannten Stockflecke" und des Hausschwamms gedenken, um bei einigen anderen etwas zu verweilen. Wie winzig sind doch diese Schwämme! Aber welch wundersamen inneren Bau entdeckt das Mikroskop an ihnen! Die meisten sind ja kaum eine Linie hoch, wie der genabelte Neßpilz, der pomeranzrothe Siebpilz; aber dennoch sind sie gestielt, gegliedert und ihre Sporen gleichen feinem, bald rothbraunem, bald orangerothem oder anders­farbigem Pulver, das sich aus den winzigen Käpsel chen über die Pilzfläche ergießt und vom Winde weiter getragen wird. Aber ein kleines Wunder stellt der sternförmige Rugelwerfer dar. Er liebt be­sonders an der Luft liegende feuchte Sägespähne, wo er sich gesellig entwickelt, in einer winzigen Größe freilich, die selbst den suchenden Forscherauge entgeht. Zur Zeit der Reife ist er nicht greßer als ein Senf­torn und wirft dann die Sporenkugel, indem seine äußere Hülle plagt, mehrere Zoll hoch in die Höhe. Wo dics klebrige Stügelchen hinfällt, bleibt es liegen; die Sporen reifen in ihm aus und es löst sich in ihnen bei diesem Prozeß auf.

Eine eigenthümlich träumerische Poesie ist die, welche die Algen- Pflanzen aushauchen. Wer kennt nicht die großen Blätter der gelb und der weiß­blumigen Seerosen oder Nirenblumen, die fluthenden Blätterrosetten der Stachelnüsse, die eiförmigen schwimmenden Blätter der Laichkräuter und zwischen all diesen die Millionen kleiner schwimmender Ei­lande der Meerlinsen? Ihr völliges Verschwinden im Winter, ihr traumhaftes Schwanken und Schweben und Ausbreiten über die glatten Spiegel der Ge­wässer, sobald die Eisdecken verschwunden, macht sie zu interessanten Gebilden. Erwacht nicht Sieges­frendigkeit im Gemüth des Menschen, wenn sich sein Blick den Algen zuwendet, die als Symbol des die Starre des Todes überwindenden Lebens, mit ihren tausenderlei Formen das Geklipp des Meeresgrundes überwuchern.

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Ein göttlich Schauspiel wächst und steigt In Stämmen, Aesten, Fächern, Dolden, Kleinodien paradiesesbunt

Empor in dem krystallnen Sund. Die Wellen sind wie Lüfte grüne, Durchsichtig ob des Abgrunds Bühne, Von dessen Sande, sonnerhellt, Aufwächst des Meeres Wunderwelt."

Immermann .

Da ist es das Eine, was wie ein hingehauchter Fadenüberzug auf dem Gestein sizt; dort stellen sich Blättchenansäge am Faden ein, da wieder gruppiren sich die Fäden um einen Punkt, von dem sie aus­zulaufen scheinen; federartig reihen sich die Fäden nach beiden Seiten. Breite Rindenüberzüge, lange Bänder, flechtenartige, moosförmige, grafige equisa­tische Gebilde, Miniaturgesträuche, düster steife und reich gegliederte Gestalten- genug, die sonderbarsten Formen drängen sich in reichster Fülle auf jedes Pläßchen, das von der heftigeren Welle bloßgelegt wurde. Obgleich die Algen lange nicht so viel Arten aufweisen, wie die Pilze, so schätzte sie der Pariser Montagne doch auf 2226 Arten in 124 Gattungen. Dafür überragen sie überall andere Pflanzen in räumlicher Ausdehnung. Der Protococcus atlan­ticus, aus einer einzigen kleinen rothen Zelle