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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
dem Menschlichen hinausgetragen. Wir sehen eine Madonna mit dem Kinde, mitten im Kreise der Menschen stehend, von ihnen verehrt, nicht wie man das Göttliche verehrt, weil es göttlich ist, sondern das Verehrungswürdige an sich, weil es verehrungswürdig ist. Zur linken Scite dieser Madonna und sie berührend kniet der Bürgermeister Meyer, der Stifter des Bildes, und sieht mit gläubiger Einfalt zu der lieblichen Mutter empor. Vor ihm feine beiden Söhne, die sich aber garnicht um die Madonna kümmern. Der ältere Knabe hält den fleinen, lächelnden Bruder fest, damit er doch nicht die Andacht störe. Zur rechten Seite fuicen die zwei Franen des Bürgermeisters mit ernsten, audachts. ollen Mienen, und die halberwachsene Tochter, die audachtslos und beinahe stumpfsinnig dem Spiel des kleinen Knaben zu= sieht. Dieser verschieden artigste Ausdruck in den Mienen und Haltungen, diese einfache Ungezwungenheit der Personen, in welcher sich doch jede Regung ihrer Seele aus prägt, giebt dem Gemälde einen unbeschreiblich intimen und gemüthlichen Charakter und streift aber auch das letzte Fremdartige ab, das zwischen dem Beschauer und der Person der Maria sonst zu sein pflegt. Und der Beschauer er mag andächtig werden, nicht weil das Bild Marias ihn zur Andacht reizt, sondern weil die anderen Personen auf dem Bilde Menschen wie er sind, Menschen in ihrer schlichtesten Lebenswahrheit, die selbst gleichsam als andächtige Beschauer neben ihm knieen. Aber je länger der Beschauer dieses Gemälde betrachtet, desto traulicher und bekannter erscheint es ihm und er vermag es nicht zu bewundern, weil das Einfache und Selbstverständliche daran jede Bewunderung rerbietet, sondern er kann nur seine stille Freude darüber em= pfinden, daß das Große hier so menschlich gering geworden ist und daß ein Jeder mitten in diesem Geringen stehen kann, selbst menschlich wie diese Menschen und doch auch selbst ewig wie sie.
Und so wie Holbeins Madonna, bei welcher ich deshalb so lange verweilte,
ist seine ganze Kunst: Natur in allem Wesen und allen Formen, weil er, der schauende Künstler, keine größere Kunst zu sehen vermochte, als gerade die Natur.
Gleiche Meisterschaft wie in den bisher besprochenen Gebieten entwickelte Holbein in der Zeichnung für den Holzschnitt. Er illustrirte die Geheime Offenbarung in 21, das Alte Testament in 91 Bildern. Sein berühmtestes Holzschnittwerk aber ist der„ Todtentanz". Seine ganze Fülle von Eigenart, Satire, Erust, Phantasie und Gedankentiefe offenbart sich in diesen mehr als 40 Blättern, in denen er den Tod als den ständigen Begleiter der Menschheit darstellt, bald als tanzenden Narren, der die Königin
in Mitte ihres Hofstaates ergreift, bald als Wegelagerer, der den Kaufmann auf der Landstraße ergreift, als Mundschenk, wie er dem Fürsten den Vecher reicht, als eifriger Knecht, der das Gespann des Bauern treibt, und als Meßner neben dem Prediger in der Kirche.
Die letzten Jahre seines Lebens beschäftigte sich Holbein aber fast ausschließlich mit der Porträtmalerei und gelangte darin zu solcher Berühmtheit, daß ihn der prunk und kunstliebende König Heinrich VI!'. von England an seinen Hof zog. In dessen Diensten
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fand Holbein einen Quell der reichlichsten Thätigkeit. Er malte die Bilder der Jane Seymour, die dänische Königstochter Christine, die Prinzessin Anna von Cleve, den König selbst, die Herzogin von Suffolk , den Humbert Morret, Goldschmied des Königs, und viele englische Frauen und Männer. Zweimal noch kehrte Holbein nach seiner Heimath zurück und das zweite Mal bemühte sich der Rath der Stadt Basel , den gefeierten Meister unter glänzenden Bedingungen in seiner Mitte zu halten. Auch Holbeins Frau erhielt ein bedeutendes Jahresgehalt.
Vielleicht
hatte der Meister auch die Absicht, sich bleibend in hatte der Meister auch die Absicht, sich bleibend in Basel wieder niederzulassen. Allein vorerst wollte er sich in England ein ausreichendes Vermögen er
werben. 1539 fehrte er dorthin zurück und sah die Seinigen nicht mehr. Mitten in der reichsten Thätigkeit raffte ihn im Jahre 1543 die Pest weg, welche damals in London wüthete. In Holbein befizt Deutschland nicht nur einen der größten Künstler der Neuzeit, sondern auch den weitaus liebenswürdigsten.
→ Gedankensplitter.
Wer in sich selbst so viel zu finden glaubt, daß er alle Uebrigen missen fönne, irrt sehr; wer aber glaubt, daß man ihn missen könne, irrt noch mehr.
Es giebt kaum einen Menschen, der im Stande wäre, alles Unheil, das er anstiftet, zu kennen.
de la Rochefoucauld.
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Ein„ Gebildeter
Von Gustave Téry. Autorisirte Hebersehung von Wilhelm Thal. ( Schluß.)
Er
VII.
r war einer jener kleinen Hungersoldaten, jener verschüchterten Kinder, denen das Vaterland in vier Tempis das Massafriren beibringt und die man ziellos durch die düsteren Straßen irren sieht, wie sie in ihrer rothen Hose fast versinken und nicht wissen, was sie mit ihrem Körper anfangen sollen.
Im Regiment war Joseph denselben Verfolgungen ausgefeßt, wie im Gymna sium. Da er nur Griechisch und Lateinisch verstand und fein Geld hatte, so galt er sehr bald für einen Dummkop. Ein Adjutant nahm die Stelle des Herrn Poteau ein.
Stets auf der Flucht strich Joseph gesenkten Hauptes au den Mauern entlang und warf scheue Seitenblicke umher, wie ein geheztes Thier, das eine letzte Zuflucht sucht, um zu sterben. Ju dem weißen Uniformrock sah er mit seinen langen, dünnen, ungeschickten Gliedern wie ein fläglicher Pierrot aus. Die Kompagnie hatte ihm den Beinamen, die Spinne" gegeben. Man nannte ihn auch den Nachtvogel", die Gule", weil er in den Freistunden dunkle Winkel aussuchte.
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Und doch hatte Joseph einen Freund; das war
ein kleines Exemplar des Horaz, ein Preis aus dem Gymnasium Henri IV. , das er in den Pausen zwischen zwei Ererzierübungen durchlas.
" Deine grausamen Spiele haben nicht lange gedauert, grausamer Gott des Krieges, der du nur den Schlachtruf und die leuchtenden Helme liebst!"
Im Sommer, nach der Abendsuppe, ging er, wenn das Wetter schön war, auss Land hinaus. Er hielt sich an den Stellen auf, wo die Fichten und weißen Pappeln ihre gastlichen Schatten vereinigen, wo eine eilige Welle gegen die Krümmungen des Ufers kämpft. kämpft. Er legte das Bajounett auf das Gras, ,, denn der Mann, dessen Herz rein und dessen Hand unschuldig ist, bedarf nicht des Bogens, noch des