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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

In der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, als die benachbarten Stedinger den Kreuzheeren er­lagen, befanden sich die Nüstringer auf ihrem Höhe­punft. Sie hatten eine gänzlich republikanische Verfassung. Die sechzehn Gemeinden wählten jährlich je einen Konsul, welche zusammen alle öffentlichen Angelegenheiten der kleinen Republik leiten und an Den Vereinstagen aller friesischen Länder zu Upstalsbom theilnehmen. Der Stand der Edelinge war ver schwunden, da sich grimdherrliche Rechte nicht hatten herausbilden resp. erhalten können; aus den parallelen nordischen Verhältnissen wissen wir, wie sich die Gemeinfreien dagegen gewehrt hatten, indem sie die Junker mit den Aerten todtschlugen, sobald sie solche Ansprüche erhoben. Es gab ein altes Geseß, daß fein Friese ein steinernes Haus haben dürfe.

In dieser Freiheit und auf dem ausgezeichneten Marschboden entwickelte sich bald ein großer bäuer licher Wohlstand. Schon damals waren Rindvieh und Pferde der Rüstringer Bauern berühmt.

Die ersten ernsthaften Konflikte entstanden in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts mit Bremen , das sich damals gerade zur Seehandelsstadt ent­wickelte. Die Rüstringer erhoben von den die Weser passirenden Bremischen Schiffen Zölle und wandten zu deren Eintreibung Gewaltthätigkeiten an, so daß 1307 die Bremische Seefahrt eine Zeit lang ganz darniederlag. Der zweite Feind waren die Grafen von Oldenburg. Nicht nur hatten diese den nahe­liegenden Wunsch, das reiche und fruchtbare Ländchen in ihre Gewalt zu bringen, sie wollten auch die Herrschaft über ein Stück der Küste und die untere Weser erlangen, um ihre selbstständige Gristenz be= haupten zu können. Nachdem die Oldenburger Grafen schon vorher, 1153 und 1253, Feldzüge gegen die Rüstringer unternommen und furchtbare Niederlagen erlitten hatten, verbindeten sie sich jetzt mit den Bremern, obwohl diese sich sagen mußten, daß sie um nichts gebessert waren, wenn die Oldenburger sie brandschatten an Stelle der Bauern. Noch ein­mal erlitten sie eine schwere Niederlage; nur ein Mann soll aus dem Heer nach Oldenburg zurück­gekommen sein.

Zunächst hatten die Beiden die Lust verloren, ihr Heil von Neuem zu versuchen. Aber bei den Bauern änderten sich die Verhältnisse. Die Konsuln hatten es verstanden, bleibend politische Macht zu erhalten, und geriethen miteinander in Streit, ja bekriegten sich gegenseitig. 1384 wurden die Un­einigen von den Verbündeten besiegt. Fürs Erste kam den Bauern der Interessengegensatz zwischen Bremen und Oldenburg zu Gute; es gelang ihnen sogar, die Macht der Konsuln zu brechen und die alte Verfassung wieder herzustellen.

Aber die beginnende Neuzeit schuf Verhältnisse, denen die Bauern nicht mehr gewachsen waren. Auf der einen Seite machten die steigenden finan­ziellen Bedürfnisse den Oldenburger Grafen den Erwerb der Lande immer erwünschter, auf der anderen Seite gab ihnen das Söldnerwesen die Möglichkeit der Erwerbung. 1499 warb der Olden­burger Graf ein Söldnerheer von 6000 Mann an und ließ ohne Kriegserklärung einfach das Land für sich erobern. Noch einmal befreiten sich die Bauern, da der Condottiere, welcher die Unter­nehmung ausgeführt hatte, ungetreuer Weise mit dem Gelde durchgebrannt war und die Söldner nicht mehr befriedigt werden konnten.

1514 wurden sie dann aber mit Hülfe von Braunschweig definitiv unter­worfen.

Die Bauern mußten nunmehr den Eroberern huldigen, den Zehnten vom gepflügten Lande und die Bußgelder an ihre nunmehrigen Landesherren zahlen und außerdem vier- bis fünfhundert Gulden erlegen.

1529, mit dem Regierungsantritt des Grafen Anton I., beginnt man nun, die Friesen systematisch in Unfreiheit zu bringen. Graf Anton I. hatte vor dem Regierungsantritt längere Zeit am Branden­burger Hofe zugebracht, wo damals an die Junker die Freiheit der Bauern ausgeliefert wurde. Er befolgte die Lehren, die er dort gewonnen hatte, nur mit dem Unterschied, daß er selbst der Grund­herr wurde.

Zunächst wurde die Einführung der Reformation benutzt, um sämmtliche Klostergiter einzuziehen. Und nicht nur die Güter der Klöster, sondern auch die der Kirchen, aus denen der Gottesdienst und Schul­unterricht bestritten wurde; und die Güter, welche für die Deckung der Armenlaften und Unterhaltung der Krankenhäuser, sowie zur Aufbringung der Deich­kosten bestimmt waren, wurden eingezogen. Selbst die goldenen und silbernen Geräthe in den Kirchen, das Blei von den Kirchendächern, die Glocken, Orgel pfeifen, Balfen, Latten und Ziegel wurden ge­pfeifen, Balken, Latten und Ziegel wurden ge­nommen. Das auf diese Weise erworbene Land wurde zum größten Theil in eigener Regie bewirthschaftet, zum fleineren Theil zu Meierrecht ausgethan.

Darauf wurde neues Land eingedeicht. Die Bauern mußten umsonst die Deiche ziehen, und das gewonnene Land, bei dreitausend Hektare, wurde Privateigenthum des Grafen.

Alles dem Grafen gehörige Land war befreit von den Deichlasten; die Fonds zu ihrer Bestreitung waren verschwunden, sie selbst aber erhöht. Kein Wunder, daß die Bauern sie nicht zu tragen ver­mochten. Auch dabei machte der Graf Geschäfte. Wenn ein Bauer seine Deichstrecke nicht zu halten Wenn ein Bauer seine Deichstrecke nicht zu halten vermochte, so fiel sein Land Dem zu, der die Unter haltung übernahm. Das war der Graf.

Die Folge war, daß 1570 eine Sturmfluth die Deiche, die nicht ordentlich im Stande waren, zer­störte und ganz Butjadingen überschwemmte. Tau­sende von Menschen famen um; der Materialschaden sende von Menschen kamen um; der Materialschaden allein betrug dreihunderttausend Gulden.

Aus der alten Deichpflicht aller Einwohner hatte der Graf die Verpflichtung zu Deichfrohnden ab­geleitet, und als sich die Leute an diese gewöhnt hatten, forderte er noch Frohnden auf seinen in der hatten, forderte er noch Frohnden auf seinen in der geschilderten Weise erworbenen Gütern. Und an die Frohnden knüpften sich dann bald die übrigen Ver­pflichtungen: die Durchfütterung des gräflichen Rind­viehes im Winter; es wurde ein Vorkaufsrecht des Grafen festgestellt, welches die fremden Viehhändler vertrieb und bewirkte, daß der Graf das Vieh billig kaufen konnte; es wurde verboten, Land zu ver= kaufen, zu verseßen oder zu verpfänden; das Anerben­recht wurde eingeführt; da der Zehnte nicht berechnet war, durften die Feldfrüchte nicht eingeführt werden, selbst wenn sie verdarben. Aber das Furchtbarste war der Mißbrauch der richterlichen Gewalt. Ganz nach Willkür wurden Leute von Haus und Hof ge­trieben, etwa, weil sie sich geprügelt hatten, weil Einer ein Schaf gestohlen, ohne Erlaubniß das Land verlassen hatte 2c.; ja, notorisch Unschuldigen wurde der Hof konfiszirt auf die durch Nichts be­wiesene Behauptung hin, daß die Großmutter des jezigen Besizers dem Grafen vor fünfzig Jahren das Gut geschenkt habe. Viele Bauern, um der Quälereien überhoben zu sein, schenkten dem Grafen ihr Land und bekamen es zu Meierrecht zurück.

Es ist selbstverständlich, daß unter solchen Ver­hältnissen die Bauern sowohl intellektuell wie moralisch immer tiefer sanken. Der Fluch aller bäuerlichen Unfreiheit machte sich geltend: Faulheit, Verlotterung, Armuth, Unwissenheit 2c.

Aber die Friesen haben es gut getroffen, daß sie verhältnißmäßig früh ihre Bauernbefreiung hatten. Dieselbe beginnt schon mit Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, und aus demselben praktischen Grunde, wie überall da, wo sie auf friedlichem Wege vor sich gegangen ist; die Frohnarbeiten und Erpressungen anderer Art geben im Verhältniß zu dem, was sie den Leistenden kosten, dem, der sie erhält, zu wenig. Gezwungene Arbeit wird schlecht gemacht, eingestelltes Vieh schlecht gefüttert, die Eintreibung des Zehnten hat schwere Nachtheile zur Folge für die Einbringung der Ernte 2c. Nach und nach wurden dann in güt licher Uebereinkunft diese Lasten abgelöst und durch Geldabgaben oder Land- oder Kapitalabtretungen beglichen. Damit ist diese traurige Episode vorüber, und heute, bei der neuen Blüthe eines freien Bauern­standes, sogar so sehr aus dem Gedächtniß Aller entschwunden, daß ihre Aufdeckung allgemeine Ueber­raschung erweckte.

Gerichtsrath Johnmann.

Novelle von G. Macasy.

as Haus, in dem der Gerichtsrath John­mann seit zwanzig Jahren wohnte, stand in einer der ältesten Vorstadtstraßen von Wien . Da ging es durch allerlei Bögen und Thorwerk, bald über Innenhöfe ein Stück zwischen engen Mauern bergauf, bald einige Stufen hinab zu feuchten, dumpfigen Winkeln, in die niemals ein Sonnenstrahl gedrungen war. Zumeist wurde diese Gegend von alten Leuten und pensionirten Beamten bewohnt, die sich nicht dazu entschließen können, den Rest ihrer Tage in den neuen, sonnenhellen Stadttheilen zu verbringen, und von Studenten, denen es auf billige Wohnung mehr ankommt, als auf lichte Treppen­räume.

Sobald man in das Haus eintrat, wehte Einem seltsam kalte, dumpfige Luft entgegen. Der finstere Thorweg mündete in eine noch finsterere, enge Wendel­treppe mit hohen, ausgetretenen Steinstufen. Aber so ungemüthlich das Aeußere dieses Hauses, so traut und heimlich waren die Wohnungen mit ihrem ge­heimnißvollen Dämmerlicht, mit ihren kleinen Nischen und Alfoven, mit den altväterischen Tapeten und schmucklosen, tiefgelegenen Fenstern, an denen schon längst keine Spur der weißen Delfarbe zu finden war, mit welcher einst die Rahmen angestrichen waren. Man hatte das Gefühl, als müßten hier alte Menschen wohnen, welche noch das alte Wien mit seinen Basteien und Linienwällen gekannt hatten, welche von der alten Zeit zu erzählen wußten, da noch die Sesselträger mit ihren Sänften lautlos durch die Straßen glitten und die ganze Stadt noch so still und wohnlich war, wie jetzt nur mehr ihre eigene, vergessene Gegend.

Das erste Stockwerk dieses Hauses bewohnte der Gerichtsrath Johnmann mit seiner Frau und Alle Leute der seiner einzigen Tochter Gertrud. Umgebung kannten sie. Der Rath war ein alter, hagerer Mann mit stechendem Blick und grauem, borstigem Haar. Er trug Jahr aus, Jahr ein den­selben verschlissenen Ueberrock und trat täglich zur selben Zeit seinen Spaziergang an, mit gebeugtem Rücken, die Hände tief in die weiten Taschen ge= bohrt. So durchwanderte er den alten Stadttheil und musterte jeden Vorübergehenden mit halb zu­gekniffenen Augen, als ob er einen Verbrecher in ihm wittere. Alle Menschen, welche ihn kannten, suchten ihm auf der Straße auszuweichen; sie fühlten sich unter seinen Blicken beengt, und es war ihnen, als ob der Nath ihnen die Seele herausziehen würde.

Noch größere Angst aber als vor den stechenden Augen des Nathes hatte man im Hause vor der bösen Zunge der Räthin. In früheren Zeiten hatte sie sich mit allen ihren Nachbarn verfeindet, und es war nichts im Hause vor sich gegangen, ohne daß sie mit bösen Bemerkungen und oft gehässigen Ver­leumdungen jedes kleine und alltägliche Ereigniß entstellt hätte. Man mied sie und man konnte nicht begreifen, daß Jemand im Stande war, es bei dieser Frau auf die Dauer auszuhalten. Das größte Mit­leid hatte man mit Fräulein Gertrud und mit der alten Magd Marie. Denn diese Beiden waren es, an denen die Räthin jede ihrer üblen Launen aus zulassen pflegte.

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Gertrud hatte nie eine rechte Zuneigung zu ihrer Mutter empfunden.

Je älter sie geworden war, desto fremder und kälter standen sich Beide gegenüber. Es fehlte an jeder Innigkeit und Vertraulichkeit der Beziehungen zwischen ihnen. Gertrud haßte die strenge und pedantische Zucht, unter der sie aufgewachsen war; sie haßte die ganze Art ihrer Mutter, in den klein­lichsten Dingen peinlich kritisch und genau zu sein.

In früheren Zeiten war fast kein Tag vergangen, an dem sie nicht irgend einen Verweis erhalten hätte, und es war, als ob die Räthin nur eine Gelegen heit zu zanken und zu streiten suche.

Später aber war an Stelle der unausgesetzten fleinen Zänfereien ein hartnäckiges und unfreund liches Schweigen getreten. Nun vergingen oft Tage, an denen Mutter und Tochter kaum ein Wort wech