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Ein
Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
Anser Glück ist erwacht.
in enges Stübchen hart unterm Dach, Ein Weib und ein Kind!
Und draußen ein scheidender Junitag
Von Ludwig Lessen.
Mit Schwalbengezwitscher und Nachtigallschlag! Wie glücklich wir sind!
Der Himmel von Farben gelb, grün und roth Bunt überhaucht!
Zum Leben gerade so viel wie zur Noth! Unser bischen Armuth vom Abendroth In Gold getaucht!
Im kleinen Bettchen von buntem Kattun Unser Kind!
Wie die Händchen zappeln! Das will nicht ruh'n! Und das Mündchen kräht laut vor Vergnügen nun! Und die Dämmerung spinnt!.
Und blasser die Farben! Ein letzter Strahl! Schwarz kommt die Nacht!...
Und Du hängst mir am Hals mit einem Mal- Und Du weinst vor Wonne und seliger Qual... Unser Glück ist erwacht!...
Gerettet.
Von H. Jelpatjewski. Aus dem Russischen von Anna Schapire.
ch mußte lange suchen, bevor ich die Wohnung der Familie Lawrentjew in der Baklanowka fand. Die Baklanowka bestand aus sechs hölzernen Häusern, die alle nach derselben Art ge= baut waren: zwei Etagen hoch mit einem kleinen Dachgeschoß. Vor langer Zeit waren sie wohl blau angestrichen gewesen, jetzt aber war die Farbe abgesprungen, und die alten, wurmstichigen Wände machten einen trübseligen Eindruck. Hausnummern waren nicht vorhanden. Die Bewohner hatten sich originelle, aber etwas unbestimmte Bezeichnungen zurecht gelegt, wie ,, Am Thor,"" Dem Garten zu," An der Ecke", und die Thüren der unzähligen winzigen Wohnungen, in die die einzelnen Etagen zerfielen, waren nur spärlich mit Namenschildern versehen. Der Hausverwalter war tagsüber Droschkenkutscher und erfüllte seine Berufspflichten nur des Nachts. Es war wirklich nicht leicht, Jemanden in der Baklanowka aufzusuchen.
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Es war eine bunte, zusammengewitrfelte Gesell schaft, die hier hauste: verabschiedete Offiziere, pensionirte Beamte, stellenlose Kommis, Wittwen mit viel Kindern und wenig Geld, kurz, Leute, die in der einen oder anderen Weise im Leben Schiffbruch gelitten hatten und sich jetzt großgeistig über schiefe Treppen, zerbrochene Stufen und das ewige Halbdunkel in den Zimmern hinwegsetzten, Leute, die wistes, trunkenes Geschrei auf dem Hofe und polizeiliche Protokollaufnahmen als etwas Selbstverständliches betrachteten, dafür aber das uneingeschränkte Recht der Hausbewohner, diverse Bodenkammern mit Beschlag zu belegen, wohl zu schäzen wußten. Auch prinzipielle Gegner einer strengen Hausordnung und regelmäßigen Miethezahlung zogen gern nach der Baklanowka, denn die siebzigjährige Besizerin war schwachsinnig und die Verwaltung lässig.
In der Stadt kannte man die Baklanowka sehr gut. Sie stellte ein ungeheueres Kontingent an Dienstmädchen, Schneiderinnen, Weißnäherinnen und ebenso eine Menge von Gymnasiasten und Gymnasiastinnen, die für drei Rubel monatlich eine unbegrenzte Anzahl von Stunden in allen beliebigen Stadttheilen gaben.
Auch ich kannte die Baklanowka und besuchte sie häufig. Aber der Name Lawrentjew war mir fremd. Ein alter Bekannter und langjähriger Miether, der Kapitän Kopilow, verwies mich endlich auf das Haus ,, an der Ecke" und befahl mir, etwas höher hinauf zu steigen".
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Die Wohnung lag im Dachgeschoß. Es waren zwei kleine, enge Zimmer, Alles sehr ärmlich, aber sauber und sogar behaglich. Die wurmstichigen, schiefen Bretter der Diele waren mit langen Leinwandläufern bedeckt, auf den Tischen lagen weiße, gehäkelte Decken, an der einen Wand hing ein buntes Bild: Das Festmahl im Bojarenhaus," und gegenüber über dem geflickten Ledersopha war eine Sammlung von Photographien in schwarzen Holzrahmen angebracht. In der Ecke neben dem Ofen stand eine Stagère mit bunten Ostereiern, silbernen Löffeln und bemalten Tassen.
Auf dem Sopha vor dem Tische saß eine zwölf= bis dreizehnjährige Gymnasiastin und lernte eifrig. Sie hatte die Finger in die Ohren gesteckt und murmelte halblaut ihre Lektion. In einer Ecke spielten zwei kleine Jungen in sauberen, bunten Hemdchen, und im Nebenzimmer, das gleichzeitig als Küche diente, saß am Fenster über einen Stick rahmen gebeugt ein junges Mädchen. Sie hatte einen langen Zopf und Papillotten an der Stirn.
Auf dem Fensterbrett standen einige blühende Geraniumstöcke. Man sah in einen fleinen Garten hinunter mit einigen Flieder- und Jasminbüschen und ungeheuer viel Brennnesseln.
Eine große, knochige Frau in einem schwarzen Kleide und dunklem Kopftuch, das tief über die Stirn hinuntergezogen war, kam mir entgegen. Ihr gelbes Gesicht mit den vorspringenden Backenknochen hatte einen seltsam starren Ausdruck, der übrigens eine Eigenthümlichkeit der Bewohnerinnen der Bakla= nowka zu sein schien; ich hatte ihn schon bei vielen bemerkt. Sie sagte mir, daß ihr Mann krank sei, und führte mich in eine kleine, enge Kammer, in der ich im ersten Augenblick nichts als eine Menge von Koffern und Kisten sah. Beim Schein einer Stearinkerze, die die Frau angezündet hatte, entdeckte ich endlich in einer Ecke auf einem Lager einen langen, dichten, grauen Bart und einen ungeheueren kahlen Schädel. Das kleine runglige Gesicht, das darunter hervorlugte, sah sehr elend aus. Der Alte hatte eine Lungenentzündung und war sehr schwach, auch der Athem ging schwer.
Nachdem ich den Patienten untersucht hatte, ging ich zu der Frau in die Küche hinaus und erklärte ihr, daß der Kranke sehr schwach sei und daß eine Lungenentzündung in seinem Alter sehr gefährlich werden könne. Für den Ausgang fönne ich nicht garantiren, es würden wohl vier bis fünf Tage bis zur Krisis vergehen.
Die Frau hörte aufmerksam zu, ohne daß sich ein Zug in ihrem Gesicht änderte.
" Man müßte ihn in's Krankenhaus bringen, Herr Doktor," sagte sie, er stirbt ja doch."
Ich antwortete, daß das feuchte Novemberwetter für den Patienten schädlich sei, und daß ich als Arzt die Verantwortung für den Transport in's Krankenhaus, das am entgegengesezten Ende der Stadt lag, nicht übernehmen könne. In vier bis fünf Tagen muß es sich entscheiden," fügte ich hinzu.
Der blonde Kopf am Stickrahmen hob sich langsam, und ein paar müde, traurige Augen warfen mir einen eigenthümlichen Blick zu.
Bevor ich fortging, trat ich noch einmal zu dem Alten in die Kammer. Er war etwas schwerhörig, und ich mußte mich bücken, um ihm ein paar Trostesworte in's Ohr zu schreien.
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Haben Sie keine Angst, Iwan Stepanowitsch, Sie werden wieder zu Kräften kommen!"
Er schien mich verstanden zu haben, aber sein Gesicht blieb gleichgültig, und nur die Lippen bewegten sich langsam.
„ Ich werde sterben," sagte er.
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,, Schlagen Sie sich diese Gedanken aus dem Sinn," fuhr ich fort, wir sterben Alle, wenn unsere Stunde schlägt, aber wir wollen hoffen, daß Sie noch lange Zeit haben bis dahin."
Wieder bewegte er langsam die eingetrockneten Lippen und wieder brachte er mühsam dieselben Worte hervor:„ Ich werde sterben."
Am nächsten Morgen war sein Befinden schlimmer. Die Frau sprach wieder vom Krankenhaus.
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Man muß ihn doch hinbringen, Herr Doktor," sagte sie eindringlich, wir sind nicht reich und können ihn nicht gut pflegen, das sehen Sie ja selbst. Und leben bleibt er ja doch nicht. Er hatte schon einmal einen Schlaganfall, seit der Zeit ist er gelähmt. Er stirbt, ich weiß es bestimmt."
Ich wurde böse.
,, Woher wissen Sie denn so genau, daß er sterben wird? sterben wird? Es kann ja allerdings passiren, namentlich wenn man ihn bei dem Wetter in's Krankenhaus transportirt, aber er kann auch gesund werden."
,, Gesund werden? Sie sehen ja selbst, wie's ihm geht."
Ich verbot noch einmal energisch, den Patienten in's Krankenhaus zu transportiren, und fügte hinzu, daß ich für meine Visiten nichts berechnen würde. Auch die Arznei könne sie aus meiner Privatklinik haben.
Das junge Mädchen hinter dem Stickrahmen sah mich wieder fragend, durchdringend an. Und das waren ein paar so traurige Augen.
Der Kranke war bei vollem Bewußtsein und überraschte mich durch die Gleichgültigkeit, mit der er meine Fragen beantwortete. Er schluckte gehorsam die Medizin hinunter, wenn man ihm den Löffel vorhielt, antwortete ja, nein, besser, ärger, aber Alles mit einer Miene, als wenn er's für mich und nicht für sich thäte, und jedes Mal wenn ich fortging, sagte er mit seiner heiseren Stimme:
Geben Sie sich feine Mühe, Herr Doktor!" Aber ich beschloß, mir gerade Mühe zu geben. Gerade diesen schwachen, elenden Greis wollte ich retten, um jeden Preis retten. Ich begann, ihn täglich zweimal zu besuchen, schickte ihm Medizin aus meiner Privatklinik, bat den Feldscher, seine Temperatur zu messen, ihn mit den Salben einzureiben, die ich verschrieben hatte.
Die Frau hatte aufgehört, vom Krankenhaus zu sprechen und erfüllte sorgsam all' meine Befehle, aber sie blieb kalt und gleichgültig. Lautlos glitt sie von einem Zimmer in's andere, ruhig erledigte sie ihre häuslichen Arbeiten, als wenn nichts vorgefallen wäre.
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Seid ruhig," herrschte sie manchmal die kleinen an, seht Ihr denn nicht, daß Nastasia ihre Schularbeiten macht?!"
Sie gab der älteren Tochter Anweisungen beim Sticken, hantirte am Herde herum, als wenn nichts Außergewöhnliches vorginge.
Ueberhaupt fümmerte sich Niemand in der Familie