Die Neue A)elt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

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um das, was in der Kammer vorging, kein Mensch schien daran zu denken, daß dort ein Kampf auf Leben und Tod gekämpft wurde. Und in der Kammer lag der Alte, lang, hager, mit keuchender Brust und eingefallenen Augen und wartete demüthig auf den Tod. Geben Sie sich keine Blühe, Herr Doktor, ich '.'erde sterben." Nur die kleine Gymnasiastin hockte mit roth- geweinten Augen hinter ihren Büchern und machte häufige und lange Besuche in der Kammer. Einmal kam ich früher als gewöhnlich. Die Frau war nicht da, und ich bat die älteste Tochter, eine Medizin zu holen, die ich dem Alten unter die Haut spritzen wollte. Unterdeß setzte ich mich auf's Sopha zur Kleinen, die eben aus dem Gymnasium zurückgekommen war und ein dickes Buch vor sich liegen hatte. Es war eine Beschreibung der Sitten und Gebräuche der sibirischen Volksstämme. Hast Du das auf?" fragte ich erstaunt. Nein," antwortete sie verlegen und klappte das Buch zu. Der ältere der beiden Knaben, ein etwa zehnjähriger Bursch, schaute von der illustrirten Zeit- schrift, in der er geblättert hatte, auf und lachte. Sie will nach Sibirien fahren, Herr Doktor, und die wilden Völker taufen," sagte er grinsend; sie ist sehr klug geworden." Und ich werde fahren, ich werde doch hin- fahren," rief das kleine Mädchen mit thränenerstickter Stimme und gerunzelten Brauen. Das ganze Ge- sichtchen hatte sich mit einem Schlage geändert. Ich war allem Anscheine nach auf ein Thema gekommen, mit dem der Junge und vielleicht auch die Erwachsenen das kleine Mädchen oft neckten. Sie ist so dumm, Herr Doktor," sagte der Junge wieder.Als wenn die Mädchen taufen würden. Das machen doch die Popen!" Du bist selbst dumm," unterbrach ihn das kleine Mädchen;ich will sie ja garnicht taufen, ich will sie ja blos unterrichten und dann... Mit Dir red' ich ja überhaupt nicht mehr," fügte sie euer- gisch hinzu. Ich schickte den Jungen auch nach der Apotheke um eine andere Medizin, und wandte mich wieder ZU der Kleinen. Wie kommst Du auf diesen Gedanken, Nastasia," fragte ich. Sie sah mich mißtrauisch an, aber mein Gesicht schien sie zu beruhigen, und mit Thränen in den Augen, stotternd und verlegen, begann sie zu erzählen. Im Gymnasium... in der Geographiestunde erzählte unser Lehrer Aleksej Jwanitsch einmal von diesen Völkern, von den Samojeden und den Ost- jaken und den Tungusen und den anderen. Wie schlecht sie leben, und wie schmutzig sie sind, und wie sie immer hungern. Und daß sie nichts wissen, sagte er, und daß sie Götzenaubeter sind, und ihren Götzen reiben sie die Lippen mit Blut ein. Wissen Sie, Herr Doktor," fuhr sie lebhafter fort,ich habe einmal gelesen, wenn ein Kindchen bei ihnen geboren wird, dann reiben sie es mit Schnee ein, ganz nackt, und wenn Einer die Blattern bekommt, dann lassen sie ihn ganz allein in der Hütte und lassen ihm nur Brot für einige Tage zurück, um nicht selbst krank zu werden. Sie kümmern sich garnicht um ihre Kranken und um ihre Tobten. Aleskej Jwanitsch sagte, es werden immer weniger, es sterben so Viele von ihnen. Und da begann ich nachzudenken und nachzudenken. Es ist doch so schade nm sie, so schade"... Sie schaute mich ftagend an. Ich nickte mit dem Kopf und blickte in ihre lieben, guten Kinderaugen. Mir fiel plötzlich die Aehnlichkeit zwischen ihr und dem Vater auf; das war dieselbe hohe, weiße Stirn. Aber der Spott und der Hohn, den ihre Um- gebung ihrem Ideal entgegenbrachte, mußten dem Kinderherzen tiefe Wunden geschlagen haben. Ihre Augen füllten sich wieder langsam mit Thränen und sie fuhr fort: Und sie lachen mich immer aus, Fedjka und Lisa. Ich habe ihnen nur einmal gesagt, daß ich nach Sibirien fahren werde, wenn ich mit dem Gymnasium fertig bin, zu den wilden Völkern. Ich will ihnen auch Lesen lehren, damit sie aus Büchern

lernen, wie andere Völker leben... Und da lachen sie mich immer aus, sie lassen mich nicht mehr in Ruh'. Wenn ich ein Buch über fremde Völker lese oder manchmal in der Nacht aufstehe und für sie bete, dann sieht es Fedjka gleich und quält mich." Und die kindlich weiche Stimme erzählte Wei- teres von den Leiden und Träumen des Mädchens, aber die große Stirne legte sich in ganz unkindliche Falten, und scharfe, kühne Gedanken schienen sich losringen zu wollen. Mit dem Alten wurde es immer schlimmer. Er wurde mit jedem Tage schwächer, der Herzschlag wurde unregelmäßig, und ich begann an der Genesung meines Patienten zu zweifeln. Am siebenten oder achten Tage, ich weiß es nicht mehr genau, wurde ich in aller Frühe geweckt. Wie wahnsinnig stürzte Nastasia in meine Woh- nung und unter Thränen und Rufen:Papa stirbt, Papa stirbt!" schleppte sie mich fort. Wir mußten lange durch öde, noch halbdunkle Straßen gehen, und ich vermochte kaum, der voranseilenden Kleinen zu folgen. Der kalte Herbstwind zerzauste ihre Haare, blies ihr in die dünnen Kleider und fuhr ihr in den unbedeckten Nacken, aber sie achtete nicht darauf. Wenn ich einen Augenblick zögernd vor einer beson- ders tiefen Kothlache stehen blieb, wandte sie sich um, packte mich am Arm und rief: Herr Doktor, er stirbt ja, er stirbt! Lieber, guter Herr Doktor, kommen Sie doch rascher!" Und wieder eilte sie voraus und ich hörte, wie sie verzweifelt rief: Wie soll ich ohne meinen Papa leben?!" Sie lief rasch durch den Thorweg, der zur Baklanowka führte, aber im Flur ihres Wohnhauses blieb sie stehen und schmiegte sich, wie von Fieber- frost geschüttelt, an die Wand. Warum gehst Du nicht weiter, Nastasia," ftagte ich. Ich fürchte mich," flüsterte sie zitternd.Ich fürchte mich so. Papa athmet vielleicht nicht mehr, ich bin fortgegangen, ohne mich von ihm zu ver- abschieden. Ich komme später, nach Ihnen." Ich ging voraus, aber sie holte mich sofort wieder ein und flog die Treppe zu dem Dachgeschoß hinauf. Sie war noch vor mir oben. In der Kammer fanden wir die ganze Familie. Der Alte athmete langsam, gleichmäßig und tief, auf dem kahlen Schädel standen große Schweißtropfen, die Augen waren geschlossen und das Herz schlug ohne Pause, stark und regelmäßig. Ich untersuchte ihn und mit jenem triumphirenden Glllcksgefühl, das nur der Arzt kennt und das er nur bei der Genesung eines sehr schweren Patienten empfindet, rief ich: Gott sei Dank, das ist die Krisis, die Gefahr ist vorüber!" Einige Sekunden herrschte dumpfes Schweigen. Dann hob die Frau des Kranken den Kopf und blickte mich an. Ich sah ihr zum ersten Mal in die Augen, sie waren grau, hart und hatten etwas sonderbar Schweres. Sie fragte ungläubig: Er wird leben bleiben?" Ja, gewiß!" Wieder dieses eigenthllmliche Schweigen, und dann sagte sie mit sonderbarer Stimme:Gottes Wille!" Der Kranke öffnete die Augen und blickte uns gleichgültig an. Iwan Stepanowitsch," schrie ich ihm in's Ohr, Sie sind gerettet! Sie werden bald gesund werden." Und zum ersten Male schienen meine Worte Ein- druck auf ihn zu machen. Auf dem runzeligen Gesicht matte sich Schrecken, die alten Augen starrten mich Hülflos an, dann glitt sein Blick langsam über seine Frau, Nastasia und die beiden Knaben. Die ältere Tochter hatte sich aus der Kammer geschlichen, ohne daß ich es bemerkt hatte. Gottes Wille, Wanitschka," sagte seine Frau und beugte sich über ihn; in ihrem Ton lag jetzt etwas Weiches, Liebkosendes. Der Doktor sagt, daß Du leben wirst, Iwan Stepanowitsch." Ucber das erschreckte, beinahe schuldbewußte Gesicht des Alten ging ein eigenthümliches Zucken, und zwei große Thränen rollten über die eingefallenen Wangen.

Es lag etwas Dumpfes, Schweres über dieser ganzen Szene, und mein Glücksgefühl machte einer eigenthümlichen Beklemmung Platz. Ich traf noch rasch einige Anordnungen und ging fort. Als ich aus der Thür trat, hörte ich über der Treppe in einer Dachkammer laut schluchzen. Durch die nur angelehnte Thür sah ich die älteste Tochter in halb liegender Stellung auf dem Boden kauern. Der Oberkörper lag auf einem Koffer und der Kopf fuhr verzweifelt in regelmäßigen Stößen gegen den Deckel. Sie hatte beide Hände vor den Mund ge- schlagen, aber ich hörte doch ihr lautes Stöhnen. Das Haar war aufgelöst und fiel in laugen, dichten Strähnen über den Rücken. Ich trat ein und griff nach ihrer Hand. Ich versichere Ihnen, daß Ihr Vater gesund wird," sagte ich.Jede Gefahr ist vorüber; das war die Krisis, aber sie ist glücklich abgelaufen, er ist gerettet." Sie sprang auf, riß die Hände vom Gesicht, starrte mich erschreckt mit wilden Augen an und wiederholte mechanisch: Er ist gerettet, er wird leben bleiben, Papa wird wirklich leben bleiben?!" Und sie begann sich rasch zu bekreuzen und mur- melte dabei:Gelobt sei Gott in alle Ewigkeit, gelobt sei der Herr!" Sie wiederholte das wohl an zehnmal und drehte sich dann plötzlich mit haß- erfülltem, wüthendem Gesicht nach mir um. Was stehen Sie denn da? Was wollen Sie? Was brauchen Sie? Haben Sie meine Thränen nicht gesehen oder wollen Sie mich durchaus weinen sehen? Gehen Sie fort, ich sage Ihnen, gehen Sie fort!" Ich stieg verwirrt und kopfschüttelnd die Treppe hinunter. Jenes dumpfe, schwere Gefühl, das mich schon drinnen am Krankenbett überfallen hatte, wurde immer dumpfer und schwerer. Ein feuchter Novembermorgen lag über den ein- samen, schmutzigen Straßen. Der Nebel hüllte Alles wie in einen schweren Traum, an den Mauern der Häuser bildeten sich feuchte Flecken, und von den kahlen Aesten der Bäume fielen langsam vereinzelte Tropfen. Ich blieb im Thorweg stehen und überlegte, ob ich mich zu Fuß durch die schmutzigen Straßen wagen oder auf meinen Kutscher warten sollte, dem ich be- fohlen hatte, mich in der Baklanowka abzuholen. Ist der alte Iwan Stepanowitsch gestorben?" fragte mitleidig der Krämer der Baklanowka, Trofim Danilowitsch, der gerade seinen Laden öffnete. Er war ebenfalls mein ständiger Patient und konnte alle Familien- und Leidensgeschichten der Baklanowka an den Fingern abzählen. Ich antwortete, daß Iwan Stepanowitsch nicht gestorben sei, daß er im Gegentheil die Krisis glücklich überstanden habe und leben bleiben würde. Das dicke Gesicht Trofim Danilowitsch's drückte ein ungeheueres Erstaunen aus. Er schlug sich mit beiden Händen in die Seiten und sagte noch mit- leidiger und wehleidiger als früher: Ach, unsere Sünden, vergieb uns, Herr, unsere schweren Sünden. Ach! ach! ach!" Was brummen Sie denn dort?" schrie ich wüthend hinüber.Was für Sünden, in Teufels Namen?!" Ach, Herr Doktor, Sie wissen ja nicht, wie es um die Familie steht. Der Alte ist ja ver- sichert." Nun, und wenn?" ftagte ich. Ja, das ist es ja eben! Ueberlegen Sie doch, Herr Doktor! Sehen Sie, die älteste Tochter, die ist jetzt so gut wie verlobt mit meinem Kommis, Tichon, " er wies mit dem Finger nach einem roth- bäckigen, bartlosen, jungen Mann, der im Laden hinter dem Verkaufstisch herumhantirte.Das Geld ist schon längst eingetheilt. Alles ist auf's Beste geordnet. Sie haben nur eben gewartet. Wenn Tichon jetzt fünfhundert Rubel als Mitgift bekommt und dann noch einmal fünfhundert Rubel, kann er sich in der Vorstadt einen kleinen Laden einrichten. Na also! Das wäre eins. Der älteste Sohn ist jetzt Kellner auf einem Schiff, sein Onkel hat dort ein Restaurant. Er ist ein braver Bursch und trinkt