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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
Thaten ausplaudert, sondern er kann ebenso gut Stimmungen und Vorstellungen, mit denen er sich befaßt hat, zum Besten geben.
Wenn die Narkose glücklich beendet ist, so ist damit noch nicht alle Gefahr vorüber. Das Chloroform wird langsam aus dem Körper ausgeschieden, und seine Wirkung auf die nervösen Zentralorgane, sowie auf Herz, Leber und Nieren kann sich daher, namentlich nach langer Narkose, noch nach Stunden und Tagen in unangenehmster Weise geltend machen.
In dem Aether glauben Viele ein Mittel zu be= sizen, das nicht so gefahrvoll wie das Chloroform sei und doch lange und tiefe Narkose gewähre. Deshalb wird in Nordamerika und England, in neuerer Zeit auch bei uns der Aether vielfach angewendet, mit gutem Erfolge, und noch tobt der Streit darüber, welches Mittel das bessere sei. Hier sei nur erwähnt, daß eine Aethernarkose einen noch abschreckenderen Eindruck macht. Der Aether reizt nämlich die Schleimhäute der Athmungsorgane zur Absonderung, infolgedessen hört man das Rasseln des Schleimes in der Luftröhre und im Kehlkopf. Aus demselben Grunde kann überschüssiger Schleim in der Betäubung eingeathmet werden und wohl infolge mitaspirirten Mundinhalts Lungenentziin dung veranlassen. Die Einleitung der Narkose Die Einleitung der Narkose dauert länger, ein gewisser Grad von Athemmoth im Anfange ist die Regel, und auch das Erregungsstadium ist länger und schwerer. Trinker, welche immer und überall in Krankheiten einen minderwerthigen Organismus darbieten, sind durch Aether garnicht, durch Chloroform schwer und oft nur mit Hilfe einer vorangegangenen Morphiumeinspritzung zu betäuben. Für das Herz scheint der Aether nicht so gefährlich zu sein wie sein Konkurrent. Immerhin ist der Anwendungskreis des Aethers kleiner: Leute mit kranken Athmungsorganen oder einem Kropf, der auf die Luftröhre drückt, Stranke , denen das Aushusten beschwerlich oder schmerzhaft ist, miissen von der Aethernarkose ausgeschlossen werden; auch bei Operationen im Gesicht ist er nicht anzuwenden, weil man die Gesichtsmaske, auf die der Aether aufgegossen wird, auf die Gefahr hin, den Patienten erwachen zu lassen, nicht lange abnehmen darf. Endlich kann ebenso wie beim Chloroform Tage nach der glücklich überstandenen Narkose ein ungünstiger Ausgang eintreten, eben durch die erwähnte Lungenentzündung.
Fir Operationen von ganz kurzer Dauer bedient man sich auch des Bromäthers und des Lustgases ( Stickstofforydul), das letzte deshalb so benannt, weil es meist fliichtige, heitere Hallucinationen erzeugt. Beide Mittel sind nicht ganz ungefährlich und höchstens einige Minuten lang anzuwenden.
Natürlich benutzen auch die Hypnotiseure ihre Kunststückchen, um bei geeigneten Individuen eine furze, oberflächliche Empfindungslosigkeit, die für einen fleinen Einschnitt ausreicht, durch Ablenkung und Konzentration der Vorstellungen auf einen bestimmten Punkt herzustellen. Man macht im Allgemeinen nicht viel Gebrauch von ihnen.
,, Schmerzloses Zahnziehen vermittelst Elektrizität", wie man es vielfach auf Schildern liest, ist Humbug. Man wird durch so starke Ströme maltraitirt, daß der durch sie erzeugte Schmerz die Qual des Zahnausziehens übertäubt. Indessen Schmerz bleibt Schmerz.
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Wenn auch die Gefahr der Narkose unbestreitbar ist, so ist es doch ein Trost, daß die überwältigende Mehrzahl der Betäubten wieder zum Leben erwacht. Doch soll man immerhin nicht jeder Kleinigkeit wegen sich das Bewußtsein nehmen lassen. Die NarkoseStatistik hat sehr verschiedene Ergebnisse, je nach der Art der Beobachter, ihre Erfahrungen zu deuten, gezeitigt. Ich will den Leser mit Zahlen verschonen. Man kann annehmen, daß ein Reisender, der einen Eisenbahnzug besteigt, mindestens dasselbe Risiko läuft, um's Leben zu kommen, wie Einer, der sich betäuben läßt, ja nach den Leistungen unserer Bahnen im letzten Jahre noch ein größeres.
In den Zeitungen liest man fast nur von Narkose Unfällen, die sich in der Privatpraris ereignen. Wenn auch der Arzt dafür gewöhnlich nicht gerichtlich zur Verantwortung gezogen und noch seltener bestraft
wird, so schädigt doch ein Unglück in der Narkose seinen Ruf für lange Zeit. Die Mehrzahl der Unfälle kommt natürlich, weil dort die Narkosen zahlreicher sind, in großen öffentlichen Krankenhäusern und Kliniken vor. Dringen solche Fälle überhaupt in die Oeffentlichkeit, so werden sie von ihr mehr als interessante Beläge dafür behandelt, daß doch das Chloroform oder der Aether ein ungemein gefährliches Ding sein muß, wenn selbst unter den Augen des berühmten Geheimraths von Soundso die Adelung ist das Schicksal berühmter Chirurgen- und trotz aller Sorgfalt ein Unglück unabwendbar Es ist die alte Geschichte von den Kleinen, die man hängt, und den Großen, die man laufen läßt.
war.
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Ein Betäubungsmittel müßte, um ideal zu sein, die Bedingung erfüllen, daß es die Schmerzempfindung aufhebt, ohne das Bewußtsein zu unterdrücken und ohne irgend welche Organe ernstlich, wenn auch nur porübergehend, zu schädigen. Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren sich diesem Ideal zu nähern bestrebt. Schon seit Langem hat man gelernt, kleine Hautstellen durch Ansprizen von schnell verdunstenden Stoffen, wie Aether oder Aethylchlorid, unempfindlich zu machen. Diese Stoffe entziehen der Haut beim Verdunsten Wärme und bringen somit ihre oberen Schichten zum Gefrieren, was eben die Empfindlichkeit der Nervenenden an dieser Stelle aufhebt. Doch hat diese Methode die Nachtheile, daß die Empfindungslosigkeit nicht lange anhält, weil der Blutstrom unter der Haut wieder neue Wärme heranschafft, daß die Wirkung sehr oberflächlich ist, und nur Stellen von geringer Ausdehnung empfindungslos zu machen sind. Auch ist die Anwendung an Stellen mit zarter Hautbedeckung sehr schmerzhaft. Immerhin kann man für einen ersten furzen Einschnitt den Aetherspray gut verivenden, zumal wenn man die zuführenden, zentral von der zu betäubenden Stelle gelegenen Blutgefäße zusammendrückt, um so weniger Blut hingelangen zu lassen.
In der Bepinselung mit Cocaïn , einem aus den Blättern des amerikanischen Cocastrauches gewonnenen Präparate, haben wir ein vorzügliches Mittel, unt Schleimhäute unempfindlich zu machen; es wird auch Schleimhäute unempfindlich zu machen; es wird auch viel bei Operationen am Auge, in der Nase, im Munde u. a. D. verwendet. Die Nervenendigungen liegen so an der Oberfläche der Schleimhäute, daß sie von dem Mittel noch getroffen werden, während sie in der unverlegten Haut durch deren verhornte obere Schichten vor dem Eindringen der Cocaïnlösung geschützt wird. Deshalb hat man mit Erfolg versucht, Cocaïnlösung zur schmerzlosen Ausführung fleinerer Operationen unter die Haut zu sprigen. Doch hat sich dieses Verfahren nicht eingebürgert, weil man durch mehrere solche Einsprißungen des schnell vom Organismus aufgenommenen Mittels afute Vergiftungserscheinungen entstehen sah, die sich nicht nur in einem heiteren Nausche, sondern auch in bedrohlichen Ohnmachtsanwandlungen und Lähmungen äußerten. So konnte sich das Cocaïn in dieser Anwendungsweise kein großes Feld erobern.
Im Anfange dieses Jahrzehnts ist es einem Arzte in Berlin , C. A. Schleich, gelungen, eine Methode zu schaffen, die, wo sie angewendet werden kann, der idealen Forderung, Schmerzlosigkeit bei Erhaltung des Bewußtseins zu ermöglichen, genügt. Der anfängliche Widerstand der Chirurgen gegenüber dieser Entdeckung von großer Tragweite hat längst nüchterner und ernster Prüfung Plaz gemacht. Durch seine Versuche und scharfsinnig daraus ge= zogenen Schlüsse hat Schleich gefunden, daß eine Kochsalzlösung von bestimmter niedriger Concentration, salzlösung von bestimmter niedriger Concentration, der kleine Mengen von Cocaïn und Morphium zugesetzt werden, in, nicht unter die Haut oder ein anderes Körpergewebe gesprißt, eine Aufquellung dieses Gewebes, eine Quaddel" macht, in deren Bezirk vollständige Unempfindlichkeit herrscht. So kann man von der ersten Quaddel aus ein großes Gebiet in Breite und Tiefe unempfindlich machen. Gebiet in Breite und Tiefe unempfindlich machen. Infolge der geringen Concentration der Lösung, und weil ein Theil von ihr beim Einschneiden abfließt, kann man hundert und mehr Sprizen in die Gewebe entleeren, ehe man die Marimaldosis des Cocains oder des Morphiums erreicht hat. Und wirklich ist bei dieser Methode troz vielfältiger Anwendung
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noch kein Unglücksfall zu verzeichnen gewesen, der der lokalen Betäubung als solcher hätte zugeschrieben werden müssen. Die Unempfindlichkeit der infiltrirten ( mit der Lösung gefüllten) Stellen erklärt sich aus der Verdrängung des Blutes durch die eingespriẞte Flüssigkeit, aus dem Druck der Flüssigkeit auf die Nervenendigungen, der kihleren Temperatur der Lösung und der chemischen Wirkung ihrer Bestandtheile. Ohne mich über die Art und Zahl der Operationen, die mittelst dieser Methode schmerzlos ausgeführt werden können, zu verbreiten, bemerke ich nur, das nicht allein oberflächliche Operationen von geringer Ausdehnung, sondern auch große, in die Tiefe gehende unter dieser ,, Infiltrationsanaesthesie" und nicht nur von ihrem Erfinder ausgeführt worden sind. Die Technik der Methode ist nicht ganz einfach; sie kann auch nicht überall, aber doch in sehr vielen Fällen die Gefahren des Chloroforms und Aethers vermeiden lassen und wird über kurz oder lang, ausgebaut, Gemeingut aller Aerzte werden müssen.
Verwandt in ihrer Wirkung und Anwendung sind den betäubenden die beruhigenden Mittel, die fich ja einer nur zu großen Volksthümlichkeit rühmen können.
Strankeiten zu verhüten, ausgebrochene zu heilen und durch sie verursachte Schmerzen zu stillen, sind die vornehmsten Aufgaben der Aerzte. Der Kranke klagt vor uns nicht über bestimmte Krankheit, etwa ein Leiden des Rückenmarks oder der Leber, sondern iiber bestimmte Schmerzen und fordert vom Arzte zuerst die Beseitigung dieser Schmerzen. Schmerzstillend und beruhigend sollen demnach die meisten Mittel und Manipulationen in erster Linie wirken. Doch versteht man gewöhnlich unter beruhigenden Mitteln im engeren Sinne solche, die eine gewisse Neizbarkeit des Nervensystems vermindern.
Wir leben in einer Zeit, die die Spannkräfte der Menschen schnell verbraucht. Vor Allem in großen Städten stellen die vielfachen und verwickelten Schwierigkeiten des Erwerbs, die Aufregungen des öffentlichen Lebens, die Hast des Verkehrs, ja auch die Eigenartigkeit unserer Genisse und Erholungen an die Nerven die höchsten Ansprüche. So ist denn die Nervosität kein Vorrecht müßiger Damen mehr, sondern der Kassenarzt der Arbeiter- Vorstadt begegnet ihr ebenso häufig wie der Geheimrath in den„ feineren" Stadtvierteln. Selbstverständlich hat nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die chemische Industrie ihr Augenmerk auf diese Erscheinung gelenkt, und so ist die Zahl der zur Bekämpfung der Nervosität empfohlenen Mittel Legion. Sie tauchen aus den Laboratorien über Nacht auf, um meist nach einem kurzen Dasein als überflüssig vergessen zu werden. Wenige haben bleibenden Werth. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, sie alle zu besprechen, zumal sie keineswegs das Wichtigste zur Heilung des Leidens sind. Nur wenige seien ihrer Bedeutung wegen kurz erwähnt.
Zu den lästigsten Erscheinungen nervöser Verstimmung gehört ungenügender Schlaf. Wenn auch Jeder weiß, daß man gewöhnlich einschläft, wenn man förperlich und geistig mide ist und sich, ohne von lebhaften äußeren und inneren Reizen, wie Geräusch, Licht oder Schmerz, Hunger, gestört zu werden, der Ruhe hingeben kann, so ist doch die legte physiologische Ursache des Schlafes unbekannt. Man hat Grund anzunehmen, daß Gehirn, Rückenmark und Muskeln im Wachen und in der Thätigkeit gewisse Ermiidungsstoffe bilden, die in genügender Anhäufung Schlaf machen. Im Schlafe verbinden sie sich mit dem Sauerstoff des Blutes, der während des Wachens anderen Aufgaben genügen muß, und werden wie andere Produkte des Stoffwechsels aus dem Kreislauf entfernt. Die durch Muskelthätigkeit entstandenen Ermiidungsstoffe machen auch das Nervensystem müde und umgekehrt. Doch schläfern die bei geistiger Thätigkeit entstandenen Stoffe langsamer ein als die bei Muskelarbeit, dafür braucht auch ein ermüdetes Nervensystem längere Erholung als ermidete Mustelu. Diese Theorie macht manche Beobachtungen verständlich, z. B. daß Muskelarbeiter, wie Bauern, mit weniger Schlaf auskommen als Hirnarbeiter; sie giebt auch werthvolle Fingerzeige