Fortsetzung.)
III.
" 1
Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
u jener Zeit ging die Post, die die Depeschen nach Châtillon- sur- Seine brachte, von Auberive um drei Uhr Morgens ab. In dem Augenblick, da die schwere, von zwei Pferden gezogene Brista" die Stelle der alten Schmiede erreichte, um in die ansteigende Landstraße einzubiegen, die nach Recey- surGurce führte, kletterte ein Junge, der seine Schuhe als Halskette trug, im Fluge auf den Wagen, hielt sich an den Stricken, die die Gepäckstücke vor dem Herabfallen bewahrten, fest und setzte sich mit herabhängenden Beinen hinten auf. Das Geräusch der Näder und der Trab der Pferde hinderten den halb verschlafenen Postillon, die Anwesenheit dieses unerwarteten, heimlichen Passagiers zu bemerken. Die ,, Brista" rollte in einer Staubwolfe bis zum Gipfel der Anhöhe weiter, fuhr schnell durch das kleine Dorf Germaine, das noch schweigsam und schlafend dalag, und fuhr dann langsam das Gehölz von Colunêrs herunter.
Es war vier Uhr und die Sonne ging in einem Streise leichter, rosiger Wolfen hinter dem Walde von Auberive auf. Die ersten schrägen Strahlen, die die Dunkelheit des Hochwaldes durchdrangen, warfen filberne Tupfen hier auf einen Nasenteppich, dort auf einen Waldrebenbusch. Etwas niedriger schlängelte sich die Landstraße noch im bläulichen Schatten zwischen zwei Hecken von feuchten Dornen und Johannisbeeren dahin. Die Vögel schüttelten ihre Federn und zwitscherten in den Furchen. Ein Hahnenschrei ertönte wie ein Trompetenstoß in der Richtung eines fernen Pachthofes.
Man langte auf dem Gipfel des Plateaus an. An den Stricken der Stutsche sich festhaltend, dachte Herzkirsche, daß es unklug wäre, sich in die Ebene 3u wagen, während ihm doch der Hochwald ein frisches und sicheres Versteck bot. An einer Stelle, wo die Räder die Fingerhutblumen der Hecken streiften, ließ er sich in das feuchte Gras fallen und verließ inkognito, wie er aufgestiegen war, die
"
Brista", die über die Landstraße weiter rollte und bald im Staube des Weges verschwand. Nachdem Herzkirsche mit dem Auge dem Staubkreis gefolgt, der sich in dem scharfen Licht der aufgehenden Sonne mehr und mehr verkleinerte, sprang er über den Graben, zog seine Schuhe an und drang auf's Geradewohl in das Gebüsch.
Er ging gerade aus. Wie berauscht war er von seiner wiedergewonnenen Freiheit. Sorglos kostete er das Vergnügen aus, nach Herzenslust umherzustreifen, ohne sich zu fragen, wohin er gehen, noch wie er leben sollte. Die Hauptsache war für den Augenblick, die Wärter auf eine falsche Spur zu lenken. Er hatte zwei Stunden Vorsprung und er traute ihnen nicht zu, daß sie errathen würden, welche Richtung er eingeschlagen hatte. Er ging wohl eine gute Meile durch den Wald, suchte die Dickichte auf und floh die Lichtungen. Nach Verlauf einer Stunde wurde der Boden merklich abschiissig. Herzkirsche lief einen Graben hinunter und befand sich in einer Schlucht, die ein Bächlein durchfloß.
Die Gegend war sehr einsam. Auf beiden Seiten erhoben sich fast schuurgerade mit Bäumen bewachsene Anhöhen und woben einen falten Schatten auf den schmalen Wiesenstreifen, in den der Bach durch Weiden und Spierstauden sein Bett grub. Zwei oder drei Amseln, die einzigen Gäste dieser Höhle, waren dabei, sich in der Strömung zu baden, als Herzkirsche am Ufer anlangte. Sie ließen sich faum stören, und das Vergnügen, das ihnen dieses Bad zu bereiten schien, veranlaßte den Sträfling, es ihnen gleich zu thun. Schnell hatte er seine Kleider abgelegt und tauchte mit innigem Behagen in das durchsichtige Wasser, das der Duft der Minze und der Wiesenblumen durchzog. Dann trocknete er sich, indem er sich auf dem sonnigen Teppich des Rasens wälzte und kleidete sich langsam wieder an. Während er die Hose anzog, schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. Anstatt seine„ Uniformjacke" an
zuziehen, rollte er sie zu einem Packet zusammen und versteckte sie unter einen großen, flachen Stein, im Schuße eines Gebüsches. Dieser Theil seiner Kleidung trug eine Matrikelnummer und hatte einen Schnitt, der das Gefängniß auf zehn Schritt erfennen ließ. Das hätte ihn verrathen können, während er in Hemdärmeln und Zwillighosen im Nothfall für einen Bauern gelten fonnte.
Als er diese Vorsichtsmaßregeln getroffen, sah er sich forschend um, denn er war hungrig. Am vorigen Abend hatte er schlecht gegessen, und das Bad Hatte ihm den Magen noch mehr ausgehöhlt. Nach einigem Suchen entdeckte er in dem Gebüsch in der Nähe des Baches Erdbeeren. Das Frühstück war frugal, aber köstlich, und nachdem die Erdbeersträucher geplündert worden, fühlte sich Meister Herzkirsche etwas erfrischt. Dann streckte er sich auf dem Nasen aus, den Kopf im Schatten und die Füße in der Sonne, und schlief, von dem Gluckgluc des Bächleins eingewiegt, sanft ein.
Dieser süße Schlummer mochte eine Stunde gedauert haben, als Herzkirsche von dem Geräusch knisternder Aeste und von einer frischen Frauenstimme geweckt wurde, deren Gesang er zuerst im stimme geweckt wurde, deren Gesang er zuerst im Traume zu hören glaubte. Er öffnete die Augen, doch mit der während seines Aufenthaltes im Arbeitshause erworbenen Klugheit, rührte er sich nicht, um so viel wie möglich zu sehen, ohne gesehen zu werden. Eine ganz unnüße Vorsicht, denn er war schon seit zwei Minuten ein Gegenstand der Beobachtung.
Er bemerkte in einer Entfernung von zehn Schritten die Sängerin, deren Stimme ihn geweckt hatte. Es war ein Mädchen von ungefähr fünfzehn Jahren. Einen halb mit Erdbeeren gefüllten Korb in der einen Hand, ein Stück Schwarzbrod in der anderen, war sie am Rande des Baches stehen geblieben und vergaß das Essen, um den Schläfer zu beobachten, der ihr unbekannt war. Herzkirsche lag unbeweglich und that, als schlafe er immer noch, um sich zu überlegen, was er bei dieser Gelegenheit thun und sagen sollte. Dabei betrachtete er verstohlen das junge Mädchen.
Sie war ganz einfach gekleidet, mit einem Hemde aus grober Leinwand, das am Halse mit einem Haken zugeknöpft war, und mit einem ziemlich kurzen und geflickten Rock, der ihre Beine fast bis zu den Knieen sehen ließ. Ihre Waden waren mit Schrammen bedeckt, an den Füßen trug sie viel zu große Holzschuhe. Die nackten, mageren Arme waren von der frischen Luft gebräunt, ebenso ihr Gesicht, aber die Wangen waren von der frischen Luft und durch das rasche Gehen rosig angehaucht. leppig fielen die von einem Hornkamm nur schlecht zurückgehaltenen braunen Haare in wirren Strähnen auf den Nacken, auf die Stirn, ja bis auf die beiden großen, schwarzen Augen, die Herzkirsche mit einem Gemisch von Neugier und Mißtrauen betrachteten.
Die Prüfung schien schließlich nicht allzu ungünstig ausgefallen zu sein. Nr. 24 nahm sich in diesem Rahmen hoher, grüner Stengel nicht übel aus. Das Bad schien ihn von dem Schmuß des Gefängnisses gereinigt zu haben; seine Wangen und Lippen hatten wieder die lebhaften Farben angenommen, denen er seinen Namen Herzkirsche ver= dankte, und seine zwanglose Haltung verlieh ihm ein gutmüthiges Aussehen. Das Mädchen, das sich ein wenig beruhigt hatte, ging einige Schritte auf den Jungen zu, der seinerseits den Augenblick für getommen erachtete, seine scheinbare Schläfrigkeit abzuschütteln.
Er recte die Arme, wie Jemand, der erwacht, rieb sich die Augen und hob sich auf den Ellenbogen in die Höhe. Ein spöttisches Lächeln öffnete den ziemlich großen Mund des jungen Mädchens, und sie rief:
"
Sie haben aber' nen sehr festen Schlaf!" " Ja, versezte Herzfirsche würdevoll, wenn man müde ist, dann" er wollte sagen:„ schnarcht
"
255
1
man"; doch aus einer Art Zurückhaltung ließ er dies gewöhnliche Wort nicht aus seinem Munde , dann schläft man wie' n Murmelthier!.. Wer schläft, ißt nicht!"
!!
"
Sie haben aber doch nicht vollständig gefastet," verseßte sie, und warf einen ironischen Blick auf die Erdbeersträucher, von denen er sich am Morgen die Früchte gepflückt, es waren hier überall Erdbeeren, und jetzt ist kein Stumpf mehr da!"
11
Bei diesen Worten lachte sie laut auf. Ihre gute Laune veranlaßte Herzkirsche, ihr Geständnisse zu machen.
,, Das ist gutes Brot!" sagte er seufzend und blinzelte nach der Doppelstulle des jungen Mädchens; das bleibt einem nicht im Magen liegen!"
Sie schien die Beredsamkeit dieser interessirten Blicke zu verstehen und sagte schnell:
"
Wenn Sie Hunger haben, so brauchen Sie's nur zu sagen, ich will Ihnen gern die Hälfte von meinem Brot abgeben."
„ Das schlage ich Ihnen nicht ab, denn ich habe seit gestern Abend nichts gegessen!"
Sie brach das Stück Brot in zwei Theile und reichte es ihrem Gegenüber freundlich mit dem Erdbeerförbchen.
"
Geniren Sie sich nicht," sagte sie dabei,„ ich habe genug."
Er ließ sich nicht bitten und biß tapfer hinein. Er schlang förmlich. Sie hatte sich im Grase niedergekauert und sah ihm mit halbverdußtem Lächeln zu, wie er Brot und Erdbeeren verschwinden ließ. Schließlich schämte er sich aber doch seiner Gefräßigkeit, und nachdem er sein Mahl mit einem Schluck Wasser begossen, das er in der flachen Hand geschöpft, murmelte er:
,, uff!... Jezt ist mir besser!... Danke!... Es war Zeit! ich fiel vor Hunger um!"
Wirklich?... Sie haben also zu Hause nicht genügend zu essen?"
"
Nicht immer," versetzte er lafonisch.
" Sind Sie aus Colmiers?"
"
Nein?"
" Vielleicht aus Val- Serveur?"
Er betrachtete sie von Neuem verlegen; die Offenheit ihrer großen Augen, die etwas eingeschüchtert blickten, flößten ihm Vertrauen ein, und er erwiderte:
" Ich bin aus einem Orte in der Nähe von Auberive?... Kennen Sie die Gegend?"
" Ich bin nie dorthin gekommen; doch mein Vater fennt sie... Sind nicht in Auberive Gefangene?" Bei dieser unvorhergesehenen Frage verdoppelte sich die Verlegenheit des Jungen.
" Ja, ich glaube," stotterte er ausweichend.
Seine Verwirrung war dem Mädchen nicht entgangen. Sie betrachtete ihn mit unruhiger Aufmerksamkeit, und er fühlte, wie er unter dem scharfen Blick dieser forschenden jungen Augen roth wurde. Um die Verlegenheit einigermaßen zu überwinden, fragte er seinerseits:
"
"
Was macht denn Ihr Vater?"
Er ist Holzschuhmacher... Wir arbeiten für den Augenblick im Holzschlag von Val- Serveur... Im letzten Jahr hatten wir unsere Werkstätte im Gehölz von Gargis."
"
Sind Sie viele in Ihrer Werkstätte?"
,, Nein; da ist der Vater, ich... und Champenois, unser Gehilfe."
"
"
Wie heißen Sie?"
! Norine... Norine Vincart... Und Sie?" „ Herzkirsche!"
Der Mund des jungen Mädchens öffnete sich von Neuem, um ein herzliches Lachen hören zu lassen. ,, Das ist ein Kirschenname; so heißt doch kein Mensch!"
" Das ist ein Zuname," verseßte er kurz. " Na... Wie ist denn der Name Ihres Vaters?" Meines Vaters?... Den habe ich nie ge=
"
fannt?"
"
Aber Ihre Mutter?"