Die reue Welt
Nr. 37
( Fortsetzung.)
Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
er Tanz war zu Ende. Burschen und Mädchen zogen singend in verschiedenen Richtungen heim. Hier sah man ein Paar durch das Kornfeld, dort eine ganze Gruppe unter der Anführung des Spielmanns die Landstraße entlang auf den Flecken zu wandern. Es war Mitternacht, und doch so hell, daß man mit Leichtigkeit hätte lesen können. Die Begegnung mit dem Alten hatte Agestin wohlgethan. Er befand sich in einer sonderbaren Stimmung, als er den Hof verließ und einen Fußweg über die Felder einschlug. Es war, als ob ihm das Herz aufginge und sein inneres Wesen nach Außen trete, um sich an der thauigen Sommernacht zu laben. Ihm war so wohl, so glücklich zu Muth, und doch zehrte ein heißes Verlangen, eine Sehnsucht an seinem Herzen. Er hätte in einem Athem jubeln und weinen können. In dieser Stimmung fonnte er nicht nach Hause gehen. Schließlich blieb er stehen und sah sich um. Feierliche Ruhe herrschte auf den Fluren, der einzige Laut, den er vernehmen konnte, war der regelmäßig wiederholte Schlag einer Wachtel von dem Kornfeld drüben zur rechten Hand. Dann erreichte eine dumpfes Getöse sein Ohr. Er lauschte.
" Der Vangenfos," murmelte er. Es trieb ihn plöglich, den großen Wasserfall aufzusuchen. Er konnte höchstens eine Viertelmeile entfernt sein. Viele Jahre waren es her, seit er zum letzten Mal dort gewesen, der Weg dorthin war so schön. Agestin kehrte um, nahm einen raschen Schritt an und wanderte durch einen Wald. Das Land war bergig, oft ging sein Weg über kahle, glatte Felsen, hier und da an einem mit Multer* bewachsenen Morast vorüber. Schweigend standen die dunklen Tannen und hüllten den Pfad in geheimnißvolle Dämmerung.
Das Getöse des Wasserfalls wurde immer stärker; nach einer Biegung des Weges um eine hohe Felswand drang es auf den nächtlichen Wanderer wie Donner ein. Feiner Staubregen füllte die Luft, und ein fühler Zug wurde merkbar. Durch eine mit saftig griinem Gras bewachsene Senkung gelangte er in das wilde schluchtähnliche Thal, durch das der Fluß nach dem Falle tief zu seinen Füßen tosend und brausend wie ein Wahnsinniger dahin eilt. Mächtige Felsen thürmen sich himmelhoch diesseits und jenseits des unbändig Schäumenden. Der Boden und die Wände sind naß vom Staubregen. Ueberall rieselt Wasser herab.
Der Pfad schlängelte sich durch Steingeröll und Farrenkräuter noch einige hundert Schritt hart am Hange, bog um eine Bergwand und der Vangenfos ward in seiner blendend herrlichen Majestät sichtbar. Ein wirbelnder Fall weißer Engel aus Himmels
Zwei Menschen.
Roman von H. Fries- Schwenzen.
höhen, begleitet von Donnern, Krachen, Sieden und Tosen, wie von einem hunderttausendstimmigen Chor, so wirkte der Wasserfall auf den einsamen Wanderer. Die durch den Fall in mächtige Schwingung ge= brachte Luft fuhr wie ein Sturmwind auf ihn ein. Er froch wie ein Wurm durch das Geröll immer näher, immer näher, bis an einen riesigen Stein, der, gleichsam von Gigantenhand geschleudert, ihm den Weg versperrte, zugleich ihm aber Schuß und Deckung gegen Wind und Regen bot. Hier erhob er sich und kletterte so hoch, daß er darüber hinweg sehen konnte, faltete die Hände über den naßfalten Stein und blickte in die gewaltige Naturerscheinung.
Wie im seligen Taumel schaute er entzückt in jene wirbelnde weiße Wassermasse, die vom schwindelnd hohen Abhang kommend, mit immer wachsender Geschwindigkeit die senkrechte Wand hinabstürzte und in Schaum verwandelt ward. Vom Zugwinde ergriffen, einem Schneegestöber gleich, stieg sie dieselbe Wand entlang über jenen Abhang, von dem der Fluß gekommen war, vorbei. Seltsam anzuschauen, ein duftiges Gebilde, schwebte sie verweilend in der Luft dort oben. Dahinter schwamm der Mond in nassen Nebelschleiern.
Als Agestin eine Stunde später auf dem Heimweg durch den Wald ging, hatte der Himmel sich mit jenem einförmigen Grau überzogen, welches Regen verspricht. Einzelne schwere Tropfen fielen schon prasselnd in das Laub der Birken, und es dauerte nicht lange, so goß es vom Himmel. Er dauerte nicht lange, so goß es vom Himmel. Er entblößte sein Haupt und gab seine Stirn dem sprihenden Regen preis. Die ganze Natur, die schon Lange unter der anhaltenden Dürre geseufzt, athmete wieder auf wie befreit. Birken und Tannen strömten Wohlgerüche aus. Das weiche Moos zu seinen Füßen duftete, die halb vertrockneten Blüthen streckten die Köpfchen hervor und öffneten durstig streckten die Köpfchen hervor und öffneten durftig ihre Kelche; überall neues Leben, es blinkte und blinzelte wie aus Millionen von nassen, lächelnden Aeuglein um ihn her.
Die Hausthür war nicht verschlossen; er schlich leise in's Haus, zog im Flur die Stiefel aus und stieg lautlos die Treppe hinan. In seinem kleinen gegen Often gelegenen Zimmer angekommen, tauschte er zunächst seinen naß gewordenen Anzug mit einem trockenen, öffnete das Fenster und setzte sich an den Tisch. Ein wonniger Duft von Wald und Feld drang zu ihm herein, und aus dem Birkenwäldchen ertönte das melodische Flöten eines Rothkehlchens.
IX.
Aus dem Dorf war ein Flecken geworden mit Post und Telegraphen. Margit Solhaug war in dem großen neuen Laden von Berthold Hansen ge
1898
wesen, um Einkäufe zu machen, und hatte bei der Gelegenheit auch die Post abgeholt. Sie tam mit einem Brief in der Hand über den Hof.
"
Weißt Du, wo Ragnhild ist?" fragte sie Beret Klöften, die soeben aus dem Kuhstall trat.
,, Ragnhild sizt bei mir und spinnt; ist der Brief an fie?"
" Javon Agestin; da hast Du ihn, sag' ihr aber, sie möchte zu uns herüber kommen, um ihn uns vorzulesen."
" Das werde ich bestellen," erwiderte Beret und ging in die Hütte. Eine halbe Stunde darauf kam Margit zu ihr herüber und fand sie allein auf einem niedrigen Schemel kauern; den Kopf hatte sie in die Hand gestützt. Sie hatte geweint.
"
Wir ſizen drüben und warten und warten. Wo ist Ragnhild?" Die Kuhmagd fuhr sich mit der rauhen Hand über die Augen.
„ Ich weiß nicht."
"
Was ist Dir? Hast Du schlechte Nachrichten bekommen?"
,, Ach, der Brief war ja nicht an mich; ich habe feine, gar keine Nachrichten bekommen."
„ Aber wo ist Ragnhild?"
" Ich weiß nicht, ich glaube, sie ging in den Wald."
" In den Wald, bei der Kälte, was hat sie dort zu suchen?" versetzte Margit streng.„ Hör' einmal Beret, Ihr Beide, Du und meine Tochter, steckt mir die Köpfe zu viel zusammen in der letzten Zeit. Ihr wollt vor mir und Knud ein Geheimniß haben, und das ist unrecht von Euch. Denke daran, wie Ihr, Du und der Junge, vor zwanzig Jahren hierher kamet! Was wäre aus Euch geworden, wenn Knud und ich nicht gewesen wären? Also! Wir haben auch ein Anrecht auf Agestin und wollen uns diese Geheimnißkrämerei nicht gefallen lassen. Warum hast Du geweint? Was stand in dem Brief?" Die kleine blonde, rothwangige Frau ließ ihre hervorstehenden, hellblauen Augen mit einem strengen Blick auf der Anderen ruhen.
Ich weiß es nicht. Der Brief war ja nicht an mich, fragt doch Eure Tochter."
Margit Solhaug ging topfschüttelnd auf den Hof hinaus. In diesem Augenblick bog Ragnhild um die Ecke der Scheune. Um den Kopf hatte sie ein wollenes Tuch, welches sie mit der einen Hand unter dem Kinn zusammenhielt. Ihre Augen waren roth und ihre Bewegungen scheu, als hätte sie am liebsten eine Begegnung vermieden.
"
Wo warst Du, Kind?"
Hinter der Scheune."
Was hattest Du dort zu suchen?"
Ragnhild war über und über roth geworden