Fortsetzung.)

Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Der Bruder des einzigen Sohmmes.

Von Nemirow Danschenko. Aus dem Nussischen von Th. Wolfsohn.

as war nicht mehr der naive und schüchterne Jüngling. Jezt ließ er sich die Haare lang wachsen und trug eine goldene Brille. Die Zunge arbeitete bei ihm wie eine elektrische Glocke, deren Knopf immerzu gedrückt wird. Eines Tages suchte er mich auf. Wir arbeiteten gerade, als er plöglich wie ein Sturmwind hereinkam und mich zu umarmen begann. Kaum hatte ich mich von seinen Umarmungen erholt, da war er auch schon zu jedem meiner Kameraden hingegangen, hatte Jedem die Hand gedrückt, wobei er die Worte immer wieder­holte: Erlauben Sie mir, daß ich einem ehrlichen Arbeiter die Hand drücke!"

Endlich hielt er inne, trommelte mit den Fingern auf eine ihm nahestehende Kommode; dabei sprach er so viel, daß die Arbeiter anfangs schüchtern wurden, aber bald zu lächeln anfingen. Kaum hatte er seine Rede beendet, als die anwesende Emilie entzückt ausrief, wobei sie die Hände faltete:

Herr Obidin, Sie sind ja ein Edelmann, wie fann man Sie mit Paul vergleichen!... Paul," wandte sie sich zu mir, Sie können wohl gut lesen, aber sonst sind Sie ein Bauer. Sie aber, Herr Obidin, wären bei uns in Deutschland ein Herr Baron ."

Meinem Bruder, der so sehr für die Gleichheit der Menschen schwärmte, gefiel dieser Ausruf sehr gut. Er suhr sich durch die Haare, sah in den Spiegel und äußerte selbstgefällig: D, Alle finden, daß ich ein aristokratisches Aussehen habe." Dabei küßte er ihr die Hand, womit er ihr Herz vollständig ge= wann und sie in ihrer Meinung bestärkte.

Von nun an wählte Emilie, die früher nur mit mir verkehret hatte, meinen Bruder. Sie ging nur mit meinem Bruder, glücklich und stolz vor Freude. Mir aber begegnete sie auf Alles, was ich ihr sagte, mit Unwillen. Meiner Frage, was mit ihr vorgehe, wich sie aus und weinte. Mit Thränen in den Augen sagte sie mir: Lassen Sie mich in Ruh; Sie sind ein ungebildeter, grober Mensch."

Obgleich ich kein Unglück erwartete, geschah es doch. Mein Bruder mußte wieder nach der Haupt­stadt reisen, um die Universität weiter zu besuchen. Vor der Abreise quälte er mich damit, daß er mir etwas sagen wollte, was er sich nicht auszusprechen getraue. Endlich, nach langem Zaudern, entschloß er sich dazu, doch ich konnte ihn nicht verstehen, auch hier sagte er lauter schöne Worte. Du wirst mich ja nicht verfluchen," schloß er tragisch.

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Nun dachte ich mir, er hätte es selbst bemerkt, wie sich Emiliens Verhältniß zu mir geändert. Ich antwortete daher:" Warum soll ich Dich denn ver­fluchen? Du wirst abreisen, sie wird Dich vergessen, und dann wird Alles beim Alten bleiben."" Denkst Du?" fragte er mit räthselhaftem Ausblick.

Hierauf fing er an zu deklamiren: Wir sind Brüder! Es ist eine Schande, daß wir wegen ge­sellschaftlicher Vorurtheile getrennt leben miiffen. Wir wollen zeigen, daß die soziale Ungleichheit kein Hinderniß für unsere Seelen ist. Wir wollen also zusammenhalten und unsere Fahnen hochtragen!" Was das für eine Fahne war, erklärte er nicht, ,, es sei ein Geheimniß." Jedoch seine Schwäßereien hatten etwas Betäubendes an sich. Sogar meine Mutter, die sich noch immer meiner schämte und nichts von mir wissen wollte, überzeugte er, daß sie stolz auf mich sein müsse.

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Erlauben Sie, Mama, Sie sind ja eine Heldin. Sie hatten liebgewonnen und entsagten Ihrer Liebe vollständig. Sie gingen noch weiter, Sie wurden Mutter, o heiliger Name! Sie schauten auf nichts." Dieses hatte er ihr so lange vorgeredet, bis sie mich endlich besuchte. Mir, einem erwachsenen Manne, brachte sie die Märchen von 1001 Nacht, ein von ihr selbst gesticktes Handtuch und ein Kästchen Chokolade !

Mein Bruder nahm sich nun gründlich meiner an. Erstens fand er es für nöthig, mich, der selbst­verständlich weniger gelernt, aber viel mehr gelesen

und erfahren hatte, zu entwickeln. Zweitens wollte er mir zu meinem Glücke verhelfen. Ohne ihn konnte ich ja unmöglich glücklich, ja überhaupt nichts konnte ich ja unmöglich glücklich, ja überhaupt nichts werden.

Friedrich theilte ihm seine Absichten, die er mit mir hatte, mit. Ganz erregt kam er in die Werkstätte, sprach etwas von hohem Gefühl der Liebe, von der Harmonie der Seelen und kam noch denselben Abend zu uns, ganz in Gala, und brachte ein Bouquet für Emilie mit. Den ganzen Abend sprach er nur zu ihr, erzählte ihr so viel und von so Hohem, daß sie ihn am Schlusse des Abends vergötterte. Sie saß mit andächtig gefalteten Händen und offenem Munde da. Als er fortgegangen war, athmete sie auf und sagte entzückt zu mir: Er ist ein wahrer Muschkater! Was ist er? Ich hatte sie im ersten Augenblicke nicht verstanden. Später erst erwies es sich, daß sie Die drei Musketiere " von Dumas gelesen hatte und in einem von ihnen Aehnlichkeit mit dem rosigen Cherubim gefunden hatte. Als ich schon meinen Bruder zu verstehen anfing, ließ ich es mir angelegen sein, sie gegen ihn ein­zunehmen. Emilie wurde erzürnt, und böse, wie sie war, sagte sie mir viel Unangenehmes. Sie sind undankbar und neidisch." Auf meine Frage: Wofür soll ich denn dankbar sein?" antwortete sie: Daß er sich Ihrer nicht schämt. Neidisch sind Sie, daß Sie sich nicht so schön kleiden können, wie er." Bei den letzten Worten fing sie zu weinen an und ging den letzten Worten fing sie zu weinen an und ging in ihr Zimmer. Von nun an besuchte mich mein Bruder sehr oft. Einst umarmte er mich bei seinem Kommen, drückte mich an sein Herz und rief aus: " Der Mensch ist unverantwortlich für seine Hand­lungen, das ist die lezte Theorie der Gelehrten. Der Mensch ist die Summe, und die Zahlen sind die Umgebung, das Leben, Einfluß, Aehnlichkeit der die Umgebung, das Leben, Einfluß, Aehnlichkeit der Charaktere und endlich die geheimnißvolle Harmonie Charaktere und endlich die geheimnißvolle Harmonie der Seelen."

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Hol's der Kukuk ! dachte ich bei seinen Worten, von denen ich nichts verstand.

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Am Abend desselben Tages ging Emilie fort, ohne zu sagen, wohin und kam, einer Ohnmacht nahe, zurück. Dies hatte man mir später erzählt. Beint Abendbrot bemerkte ich, daß es jetzt hoffentlich wieder so wie früher werden würde.

Emilie fing an zu weinen und sagte, gewiß die Worte meines Bruders wiederholend: Ich bin nicht zur Frau eines Handwerkers geboren."

" Wozu denn?" schrie mein Meister auf. Der ehrliche Alte schäßte das Handwerk hoch.

" Was ist Ihnen denn, Emilie?" fragte ich. Ach, lassen Sie mich in Ruh, Sie frecher Mensch!"

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Wieso bin ich denn frech? Freilich, ich bin nicht so wie mein Bruder, doch ich will auch nicht so sein." Sie erhob entrüstet ihren Kopf. Ihr Bruder Ihr Bruder wäscht sich sogar die Hände mit Eau de Cologne , ja, seine Wäsche riecht nach Parfiim." Ich lächelte nur dazu und ging fort.

Am nächsten Morgen erwachte ich durch das Geschrei meines tobenden Meisters.

Emilie war nicht mehr da. Sie war mit meinem Bruder entflohen. Nach zwei Tagen bestätigte er es selbst schriftlich, indem er mir mittheilte, daß Emilie dazu geboren wäre, ihn zu Heldenthaten zu begeistern; daß sie in unserer Werkstätte wie eine Blume dahin welfen würde, die das Licht der Sonne entbehrt. Er fühle sich verpflichtet, die Muse vom Schmuze Er fühle sich verpflichtet, die Muse vom Schmuze des alltäglichen Lebens, in welchem er sie fand, zu befreien. Auch wäre er einverstanden, ungeachtet der verschiedenen Gesellschaftsstufen und der Bluts­verwandtschaft, mir Genugthuung zu geben. Ich sollte mich nur an ihn wenden.

Ich hielt es für ein Unrecht, meinem Meister dieses Schreiben zu verbergen und zeigte es ihm. Er zerriß es. Sprechen Sie nicht von ihr, erwähnen Sie Emilie nie! Ich habe keine Tochter mehr."

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Das Loos Emiliens war schrecklich. Nach zwei

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Jahren war ich in Petersburg und dort traf ich sie; die Muse meines Bruders," die ihn zu Helden­thaten begeistern sollte, war zur tiefsten Stufe mora­lischen Elendes herabgesunken. Als Säuferin, ehrlos am Trottoir liegend, sah ich sie wieder. Ich wollte sie retten, weinte und bat sie, mit mir nach Hause zu fahren, indem ich ihr sagte, daß sie ja noch ein ganzes Leben vor sich habe, daß ich sie liebe und auch bereit wäre, sie zu heirathen...

Aber Alles war umsonst, ich quälte mich nur selbst. Morgens warf sie sich zu meinen Füßen und bat mich, sie nach Hause zu bringen. Abends forderte sie voll Wuth Branntwein und schrie:" Ihr seid alle Schurken, mach', daß Du fortkommst." Dann warf sie sich gegen das Fenster, zertrimmerte die Scheiben, und rief um Hülfe. Wenn sich alsdann die Nach­barsleute vor unserer Wohnung sammelten, klagte sie ihnen die Noth, daß ich sie mit Gewalt bei mir halte.

Sollte ich meinen Bruder auch jetzt noch lieben? Bald darauf starb meine Mutter. Sie ließ mich an ihr Sterbebett rufen. Ich dachte, sie würde mich um Verzeihung bitten, und war bereit, ihr Alles zu verzeihen, da ich nicht wollte, daß sie das Bewußt­sein des Unrechtes, das sie mir zugefügt hatte, mit in's Grab nehme. Aber sie bedurfte meiner Ver­zeihung nicht. Schon zeichnete der Tod seine Hand auf ihre Stirn. Sie lag auf ihrem Lager, bleich, nach Athem ringend, und fand noch immer so viel Kraft, um mir zu sagen, daß ich immer ein un dankbarer Schurke gewesen wäre, daß ich meinen Bruder in's Verderben stürzen wollte, indem ich ihn mit einem tiefgesunkenen Frauenzimmer zusammen­gebracht hätte. Daß nur ihre mütterlichen Gebete, die Gott erhört, ihn vor dem Verderben gerettet. Ich sollte ihr versprechen, ihm nicht zu schaden und ihm sein Leben nicht zu verbittern. Wenn Du das thust," schloß sie drohend, werde ich aus dem Grabe aufstehen und Rechenschaft von Dir fordern." Beklagenswerthe Frau! Schweigend hörte ich sie an und ging fort.

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Mein Bruder kam bald darauf in unsere Stadt, um sich in städtische Dienste zu stellen. Aber, Gott sei Dant, er fand es unnöthig, mich aufzusuchen. Fast hatte ich ihn gänzlich vergessen.

Bald nach dem Tode meiner Mutter starb auch mein Meister und hinterließ mir seine Werkstatt. Ich vergrößerte sie, und sie fing an, mir ziemlich viel einzubringen. Mir gingen viel Bestellungen zu, so daß ich kaum Alles erledigen konnte. Dem Schicksal war es schon überdrüssig geworden, mich unablässig zu verfolgen. In der Lotterie gewann ich sogar einige hundert Nubel. In Gedanken malte ich es mir schon aus, nach Petersburg zu fahren und um jeden Preis dort Emilie ausfindig zu machen, wenn sie auch noch so tief gesunken wäre, um sie wo­möglich mit Gewalt nach Hause zu bringen und zu heirathen. War ich doch fest überzeugt, daß sie sich erholen, eine ehrliche Frau und gute Wirthin für die Werkstatt werden würde. Das war es auch, was meinem Himmel fehlte. Ein anspruchsloses Glück, das man Niemandem zu verdanken hat. Dieses Glück lag mir ja so nahe, als plöglich eines Abends mein Vater in meine Werkstatt trat.

Ganz verlegen schaute ich zu ihm hin, denn ich hätte nie gedacht, daß er je die Schwelle meines Hauses betreten würde. Er war sehr aufgeregt und sah überhaupt stark verändert aus. Sein Bart war ganz grau geworden, und er fing an, sich die Haare zu färben. Augenblicklich schien er es ver­säumt zu haben; daher sahen sie ganz dunkelbraun aus. Die Augen waren umrändert. Er begann: " Ich kam zu Dir..." er versuchte zu lächeln, wir sind ja doch verwandt... Führe mich in Dein Zimmer."

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Ich ging mit ihm hinein. Ohne weitere Um­schweife begann er, mir die Ursache seines Kommens auseinanderzusetzen.

" Bei Dir ist es hier garnicht übel. Die vielen