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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
loren hatte. Indem er aber den kleinen, unreifen Sohn in die erdichtete Traumwelt mit hineinzog,
die Welt hinaus. In Nord- Italien bekommt er in dern sie nur im Vorübergehen darstellt". Unterverschiedenen Familien Stellung als Lafai. dessen dessen
rief er in ihm eine lleberreizung der Phantasie und Begabung, ſeine raſche Auffallungsgabe, fein eine beſſen, erreichte die Literatur, der geschriebene Aus
des Gefühlslebens hervor, die dieser auch im späteren Leben niemals mehr los wurde. Etwas später waren es Vorbilder aus dem griechischen und römischen Alterthum, durch die der kleine Rousseau beeinflußt wurde. Er las die Lebensbeschreibungen des griechi schen Schriftstellers Plutarch und erhielt dadurch einen tiefen und bleibenden Eindruck von der Bedeutung republikanischer Tugenden. Die so ge= wonnenen Anschauungen setzten sich in seiner Seele fest und beeinflußten seine späteren politischen Betrachtungen. ther
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also gerade in den Entwickelungsjahren Rousseau's , tobte außerdem in seiner Vaterstadt Genf ein leiden schaftlicher Kampf. Die Bürgerschaft hatte zu den Waffen gegriffen, um ihre alten Rechte gegen die Uebergriffe der Beamten zu vertheidigen. Flammende Reden waren in Versammlungen und auf den öffentlichen Pläßen und Straßen gehalten worden. Die Bewegung war unterdrückt und ihre Leiter erschossen worden. Der Gedanke aber ließ sich nicht tödten, und in der Mitte des 18. Jahrhunderts war er so stark geworden, daß er zum Durchbruch kam und eine Reihe von glücklichen Jahren begründete, in denen er die Selbstverwaltung des Volkes zum Ziele führte. Selbstverständlich trugen auch diese Ereignisse dazu bei, die Zukunft Rousseau's zu prägen.
Als der Knabe ungefähr acht Jahre alt war, mußte der Vater wegen eines Duells aus Genf flüchten. Der Sohn wird in die Welt hinaus geworfen, und von diesem Augenblick an ist sein Leben eine ewige Rastlosigkeit und abenteuerliche Unruhe. Nirgends, wohin er kommt, vermag er feste Wurzeln zu fassen. Er kommt auf's Land zu einem Pastor und verbringt hier einige verhältnißmäßig ruhige Jahre, ohne jedoch von seiner Umgebung verstanden zu werden. Er kehrt in seine Vaterstadt zurück und wird Schreiberlehrling auf einem Bureau. Er. aber, dessen Gedanken gewohnt sind, im Reiche der Phantasie zu schwärmen, konnte sich in die regelmäßige, mechanische Arbeit nicht hineinfinden. Er kam also zu einem Graveur in die Lehre, und da er einige Zeichentalente mitbrachte, fühlte er sich hier eine kurze Zeit hindurch befriedigt. Aber sein Hang zu einem ungebundenen Leben brachte ihn auch hier in Widerspruch mit seiner Umgebung und trug ihm Mißhandlungen von Seiten seines Meisters ein. Grobheit und Brutalität waren die hervorstechendsten Charaktereigenschaften dieses Meisters; es braucht uns also nicht zu wundern, daß die moralische Seite in Rousseau's Natur sich unter seinem Einfluß nicht entwickeln wollte.
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Rousseau wurde er sagt es in seinen„ Bekenntnissen" selbst- klatschsüchtig, lügnerisch und diebisch. Eines schönen Tages entfloh er der harten Zucht und erst, als er in der südlichen Schweiz unter offenem Himmel, vogelfrei, von allen Pflichten und Fesseln gelöst, umherstreifte, fühlte er sich wieder glücklich. Seine Phantasie malt ihm in glühenden Bildern das Wunderbare, das ihm begegnen wird. Wenn er an einer Burg vorbeikommt, wiegt er sich in die Illusion, daß von dem Altan einer solchen Burg herab ihm einmal ein junges Weib zuwinken und zulächeln wird. Der Hang zum Weiblichen wurde überhaupt früh und unreif in ihm geweckt und spielte eine Rolle sein ganzes Leben hindurch. Er gelangt in eine kleine Stadt der südlichen Schweiz , wo eine Frau de Warens ihn aufnimmt, eine zum Katholizismus bekehrte Dame, die für die katholische Kirche Missionsdienste übte. Sie empfängt den Knaben freundlich und sendet ihn nach Turin in eine Bekehrungsanstalt, die ihn in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche führen soll. Hier bleibt er, bis sein Freiheitsdrang wieder anfängt, ihn zu beunruhigen. Um loszukommen, läßt er sich befehren und geht nun mit dem Stempel eines Katholiken in
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lebhaftes Wesen machen ihn in den adeligen Häusern zum Liebling der jüngeren Familienmitglieder, die sich infolgedessen seiner Erziehung annehmen. Nicht selten kehrt Rousseau in seinen späteren Schriften zu diesen Erinnerungen zurück und erwähnt vor Allem einen jungen adeligen Geistlichen, der in ihm die Grundlagen seines religiösen Freisinns legte. Sein Hang zu einem ungebundenen Leben läßt ihn aber auch in diesen Verhältnissen nicht lange bleiben. Von einem jungen Landsmann verleitet, flüchtet er ohne Abschied aus dem Hause, in dem er sich gerade befindet. Er treibt sich dann ein Zeit lang im Lande umher, sich ernährend so gut es gehen will, bis er schließlich wieder bei Frau de Warens aufgenommen wird.
Der Aufenthalt wird diesmal ein vieljähriger. Er wird zunächst ihr Mündel, und sie schafft ihm Ruhe und Frieden für die Entwickelung seiner Geistes gaben. Er studirt Mathematik, Philosophie, Geschichte und Geographie. Die Eindrücke des geschichtlichen Lebens und die Natur rufen in ihm eine starke Gährung wach, und Gedanken steigen in ihm empor, die er noch nicht zu formuliren vermag, die ihm aber in Zukunft keine Ruhe mehr lassen. Inzwischen ändert sich sein Verhältniß zu Frau de Warens: aus ihrem Mündel avancirt er zu ihrem Liebhaber. Nach Verlauf von 8 bis 9 Jahren bricht er endlich auch dieses Verhältniß. Er versucht eine Zeit lang Hauslehrer in Lyon zu sein, aber auch diese Aufgabe vermag er nicht zu lösen. Die ausdauernde Geduld, die eine solche Stellung nothwendig fordert, fehlt ihm ganz und gar. Er durchschaut seine Schüler, er hat einen feinen Blick für ihre zartesten Lebensäußerungen, aber er ist ein wehrLoser Spielball ihrer Launen. Die praktische Begabung fehlt ihm. Er zieht also weiter und kommt nach Paris . In seiner Jugend hat er sich etwas mit Musik beschäftigt und bei Frau de Warens hat er sich sogar im Komponiren versucht, ohne aber mit seinen Arbeiten durchdringen zu können. Nun hat er zum Ersatz für das Notensystem ein Zahlensystem erfunden und zieht damit nach Paris . Als er dort aber einer ziemlich scharfen Kritik begegnet, deren Berechtigung er schließlich selbst einsieht, sucht er die literarischen Kreise auf, die im damaligen Paris eine so große Rolle spielten.
Was für ein gesellschaftlicher Zustand war es denn nun, der den nervösen jungen Mann mit den feinen empfindlichen Sinnen und der eckigen Lebhaftigkeit des Gemüths hier umfing? Es war die Zeit des absoluten Königthums. Die Politik und Persönlichkeit Ludwig XIV. hatte von der Mitte des 17. Jahrhunderts an fast das ganze Europa beeinflußt. Er hatte den gewaltthätigen Kriegsadel, der bis dahin auf seinen Burgen im Lande lebte, in seinen Palast gezogen und in einen eleganten Hofadel verwandelt. Man versammelte sich in den Gesellschaftssälen und suchte seinen Wiz und seine Kenntnisse so graziös zu formen, daß sie auch dem Ungelehrten leicht verständlich wurden. Der schwer= Ungelehrten leicht verständlich wurden. Der schwerfällige Gelehrte wurde als ein mittelalterlicher Pedant betrachtet, mit dem diese Kreise nichts zu schaffen haben wollten. Die Dichtkunst blühte. Dann beginnt die Regierungszeit Ludwig's XV., und die Königsmacht wird zum Spielzeug in den Händen der Mätressen. Der König lebt in einem stets wechselnden Harem, der Hofadel wird von seiner Sittenlosigkeit angesteckt und von oben träufelt das Gift in die unteren Gesellschaftsklassen hinab. Die Ehe wird zum Deckmantel schmuziger Verhältnisse, und auf allen Gebieten verbirgt sich hinter einem eleganten Schein ein durchfaultes Sein. Schein ein durchfaultes Sein. In den Salons spielen die Damen die Hauptrolle; es gilt, für den Wiz eine Lanze zu brechen; es gilt, jede Sache mit Geist vertreten zu können; es gilt, der Weltmann zu sein, der sich nicht in die Fragen vertieft, son
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druck der Zeit, ihren Höhepunkt. Man hatte die klassischen Verfasser des vorhergegangenen Jahrhunderts zur Grundlage, und ein Gesellschaftsleben, wie das eben von uns geschilderte, mußte nothwendig die Form zu feinster Vollkommenheit entwickeln. Weil man jeden Gedanken so lange wog und schliff, bis er dem Verständniß aller Gebildeten angemessen war, wurde seit jener Zeit eine durchsichtige Klarheit zu einer festen Eigenthümlichkeit der französischen Sprache. Alle Dunkelheit des Ausdrucks wird entfernt, und die Gedankenmittheilung geht am Ende in feiner Sprache so leicht von Statten, wie in der fran zösischen . id kay
Das Gedankenleben der Zeit mußte nothwendig eine Periode der Gährung sein. Das Ueberlieferte forderte zur Kritik auf und wurde dem Nichtspruch des Verstandes unterworfen. Die katholische Kirchenlehre kämpfte einen Kampf auf Leben und Tod mit der aus England eingedrungenen freieren Geistesrichtung. Voltaire sandte die Pfeile seines Wizes gegen alle Formen des Aberglaubens und Vorurtheils, und mit Keulenschlägen des Zornes bedachte er Diejenigen, die mit den Mitteln des Despotismus, mit Scheiterhaufen und Kerker den frei aufstrebenden Geist in die alte Nacht zurückzwingen wollten. Ueberall neue Ideen, neue Hoffnungen, neue Bewegungen. Die Wissenschaft trachtete darnach, ihre Lehre zur unmittelbaren Grundlage von Kirche, Staat und Gesellschaft zu machen. Und die zerfallende Gesellschaft bedurfte auch einer Erneuerung. Hören wir einen Ausbruch, der in einer Abhandlung Rousseau's aus der Mitte des Jahrhunderts steht. Er lautet:
Sind nicht alle Vortheile in der Gesellschaft nur für die Neichen und Mächtigen? Fallen nicht alle einträglichen Aemter, alle Privilegien und alle Befreiungen von der Steuerpflicht ausschließlich ihnen zu? Geht nicht ein vornehmer Mann, wenn er seine Kreditoren betrügt oder andere Schurkenstreiche verübt, fast immer straffrei aus? Sind nicht die Gewaltthaten, die er begeht, ja sogar Verbrechen und Mord, lauter Dinge, die man mit dem Mantel der christlichen Liebe zudeckt, und die vergessen sind, ehe ein halbes Jahr in's Land gegangen ist?... Wie verschieden von diesem Bild ist doch das Bild des Armen! Je mehr die Menschheit ihm zu verdanken hat, um so weniger Rechte stehen ihm zu. Alle Thüren sind ihm verschlossen, auch dann, wenn sein Necht sie ihm öffnen müßte. Sollen aber Refruten gestellt oder Frohndienste geleistet werden, dann allerdings hat er immer den Vortritt. Er trägt nicht nur seine eigene Bürde, sondern auch die seines Nachbars; der reich und mächtig genug ist, sich seiner Pflichten zu entziehen... Ist er aber gar so unglücklich, ein ehrliches Herz, eine hübsche Tochter und zugleich einen mächtigen Nachbarn zu haben: dann ist er ganz und gar verloren!"
Das also war die vornehme Gesellschaft, in die Rousseau hineinkam, und die ihm sofort ihre Kreise öffnete. Das Treiben mußte auf ihn, der von außen kam, einen eigenthümlichen Eindruck machen. Wenn das das letzte Ziel der Zivilisation war: dann hatte sie ja nur zu Hohlheit und Verderbniß geführt. Und die feine Empfänglichkeit seiner nervösen Natur fühlte sich vom Leben zurückgestoßen. Er kam zu der Ansicht, daß der Mensch um so mehr Glück empfinden werde, je mehr er sich in sich selbst zurückzöge, je mehr er alle Wege in sein Inneres verstopfte und sich ganz der Gesellschaft entfremdete. Weil er sieht, daß die Zivilisation entartet ist, verführt ihn seine starke Phantasie dazu, die Zivilisation überhaupt zu verdammen. verdammen. Seine Gedanken fließen in die Zeiten zurück, die vor aller Geschichte lagen, in die Zeit, in der die Menschen im Schooße der Natur nur dem Augenblick lebten; und mit glühenden Farben malt er ein untergegangenes Glück, das man zurückerobern muß, wenn man der Menschheit wieder Gesundheit und Kraft zuführen will.( Schluß folgt.)