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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
Er zieht bei seinen Gönnern im Lande von Ort zu Ort, und sein Leben ist im Grunde ein unglückliches, weil er nirgends Nuhe finden kann. Mehr und mehr kommt es ihm zum Bewußtsein, daß es ihm nicht gegeben ist, unter Menschen zu wohnen. Inzwischen reift er als Schriftsteller heran, und es gehen Arbeiten von ihm aus, die ihren Einfluß bis heute nicht verloren haben.
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Er wird zuerst Dichter und schreibt seinen großen Noman Die neue Heloise ". Es ist das eine Erzählung in Briefen, deren erster Theil mit flammenden Worten die Macht der Leidenschaft über die Menschenseele schildert; es ist das hohe Lied der Jugend und Liebe, das er hier mit der ganzen Stärke des Selbsterlebten zum Klingen bringt. Der zweite Theil schildert dann die Ehe, in der das Glück gefunden wird, während die Leidenschaft ab= wärts in's Verderben führt. Es ist nicht mehr die flammende Leidenschaft des ersten Theils; es ist mehr wie eine Resignation, die mit sich und dem Leben abgerechnet hat, eine Tugendpredigt, die uns erzählt, wie die Fehltritte der Jugend gefühnt werden. Aber das Buch zeichnet sich durch einen dichterisch warmen Ausdruck des menschlichen Gefühlslebens aus; es führt den Natursinn wieder in die Dichtung ein und ruft dadurch Empfindungen wach, die der verlogenen und verkünstelten Gesellschaft schon lange abhanden gekommen waren. Die Handlung läßt Rousseau an den Ufern des Genfer Sees sich entwickeln, also dort, wo er selbst seine Kindheit und erste Jugend verbrachte, und er malt die Landschaften mit so warmer Treue, daß der Leser sich bald wie heimisch fühlt an dem herrlichen blauen See, in dem sich Wälder und Büsche spiegeln. Es ist der Kultus des Gefühls, dem Nousseau sich in diesen beiden Büchern ergiebt, und gerade darum wirkte er so begeisternd auf seine Zeit; er repräsentirt sich als ein Fleisch gewordener Einspruch gegen die nüchterne verstandesmäßige Auffassung des Lebens, von der sein Jahrhundert beherrscht wurde. Es sind nicht Es sind nicht ruhige, wohlüberlegte Worte, die er gebraucht; es ist ein mächtiger Gefühlsstrom, der sein ganzes Werk durchbraust. Er überzeugt uns nicht mit Gründen; er reißt fort und überredet.
Dann schreibt er ein anderes Buch, ein Buch von ganz entgegengeseztem Charakter, ein politisches Buch. Er ist 11/2 Jahre Gesandtschaftssekretär in Venedig gewesen und hat dort praktischen Stoff zur Beurtheilung politischer Verhältnisse gesammelt. Es ist sein Plan, eine große politische Abhandlung zu schreiben, und im Jahre 1762 läßt er vorläufig einen fleineren Theil derselben unter dem Titel
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Der Gesellschaftsvertrag " erscheinen. Die Gedanken, die er darin aussprach, mußten eine eigenthiimliche Disharmonie mit den bestehenden Zuständen bilden. Er geht auch hier wieder in jenes goldene Zeitalter der Menschheit zurück, von dem seine Phantasie so gerne träumt. Er denkt sich die Gesellschaft ursprünglich entstanden durch einen Vertrag, den die Bürger untereinander geschlossen haben. Kraft dieses Vertrages haben Einzelne die Aufgabe der Leitung bekommen, um dadurch das Wohl der Gesamtheit zu fördern. Die Regierung ist nur eine Macht, die von der Gesellschaft der Bürger Einzelnen anvertraut ist und die darum auch jeder zeit von der Volkssouveränität wieder zurückgenommen werden kann. Man denke sich diese Auffassung in der Zeit des absoluten Königthums verkündet, das eine Mauer zwischen seiner von Gottes Gnaden" erhaltenen Macht und dem Volke zog, und man wird ermessen können, welche Kühnheit ihr zu Grunde liegt. Nousseau, der Bürger von Genf , entwickelt mun seine Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit und prägt jene Schlagworte, die später beim revolutio= nären Durchbruch 1789 eine so gewaltige Rolle spielten. Man kann in der That sagen, daß Rousseau die Formen wohlgemerkt, die Formen ge= schaffen hat, in denen sich nachher das französische Volk Freiheit und Sicherheit zu verschaffen suchte. Er, der menschenscheue Träumer, hat die großen Massen in Bewegung gesezt und das historische Leben in weit größerem Maße beeinflußt, als er selbst jemals ahnte.
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einen Gegensatz zur„ neuen Heloise ". Es ist hier der Versuch gemacht, alles knapp und kurz in Form der Abhandlung zu geben; es wird bewiesen, und man appellirt nicht an die Phantasie, sondern an die Begriffe. Das Buch blieb indessen immer ein Bruchstück.
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Noch in demselben Jahre gab Rousseau das große Buch heraus, das sein Hauptwerk werden sollte. Es ist das seine Schrift von der Erziehung, die den Titel Emil" führt. Auch hier spürt man, daß Denker und Dichter in einer Person vereinigt sind. Das Buch ist ein Noman, aber ein Roman ganz eigenthümlicher Art. Es stellt die Entwickelung eines jungen Menschen von seiner Geburt bis zum 25. Lebensjahre dar und zeigt, wie die Erziehung diese Entwickelung in rechter Weise unterſtüßen kann. Man hat dieses Buch„ das Naturevangelium der Erziehung" genannt, und mit Naturevangelium der Erziehung" genannt, und mit Necht, denn die Losung des Buches, der Pulsschlag, der in jedem Satze klopft, sind die Worte, die auch an den Anfang des ganzen Werkes gestellt sind: " Laßt uns zur Natur zurückkehren! Alles ist gut, wie es aus den Händen der Natur hervorgeht, Alles entartet unter den Händen der Menschen." Das Buch ist also in seinem Grundgedanken eine scharfe Verurtheilung der entarteten Zivilisation, ein zornvoller Fluch des Lebens, in dem der Dichter zu athmen gezwungen war. Und doch ist es nicht seine Meinung, ein Buch zu schreiben, das in gar keiner Beziehung zum Leben stehen sollte. Ganz gewiß ist in einer Weise der Wilde sein Ideal, und von seiner Zeit schreibt sich die literarische Begeisterung für Indianer und ähnliche Volksstämme her. Aber an einer Stelle im Emil" sagt er selbst, daß es nicht ein Wilder der Wüste, sondern ein„ Wilder der Stadt" ist, den er erziehen will. In diesem Ausspruch sind mit einem Male der innere Widerspruch des Buches und sein realer Werth enthüllt. An Stelle eines luftigen Traumbildes wird es zu einem Bild, dessen einzelne Züge tiefe Bedeutung für das praktische Leben haben. Was heißt das,„ ein Wilder in der Stadt"? Es heißt: mitten in einer zivilisirten Gesellschaft sich heißt: mitten in einer zivilisirten Gesellschaft sich nicht unter die Formen beugen wollen, die einem diese Gesellschaft aufzwingt, sondern sie fraft seiner natürlichen Triebe und seiner Erkenntniß zu durch brechen suchen. Das Buch ist also nicht eine Ver= brechen suchen. Das Buch ist also nicht eine Verurtheilung der Zivilisation, sondern einer Zivilisation, einer ganz scharf abgegrenzten und in ihrem Wesen bestimmiten, nämlich derjenigen, in der Rousseau zu leben gezwungen war.
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Die Gesellschaft, in der„ Emil" geboren wird, ist so durch und durch mit Krankheit behaftet, daß er nicht in ihr erzogen werden kann. Rousseau läßt daher den Knaben gleich bei der Geburt auf's Land kommen, wo er mitten in der Natur lebt und keinen anderen Menschen um sich hat, als einen Hofmeister, der alle seine Schritte überwachen und leiten soll. Und dieser Hofmeister ist kein Anderer als Rousseau selbst, der sich hier in die Kleider eines Erziehers gesteckt hat, um uns das Geheimniß der Erziehung zu lehren. Er ist ein Wunder an Scharfsinn und Klugheit, und an ihm tritt der innere Gegensaz des Buches wiederum in Erscheinung. Bei aller Rückkehr zur Natur wird doch die Erziehung Emil's von einem hochgebildeten, beinahe allwissenden Pädagogen überwacht. Nousseau sett eben an die Stelle der einen verworfenen Zivilisation eine andere, höher und besser entwickelte, keineswegs aber einen bloßen „ Naturzustand"!
Emil also lebt nun auf dem Lande. Die natürliche Entwickelung soll ihm gesichert werden, indem er von allem Künstlichen und Gemachten fern ge= halten wird. Er soll nicht vor der Zeit zu einem Wissen getrieben werden, das seinem Alter nicht entspricht. Er soll die Wissenschaften, sagt Rousseau , nicht lernen, er soll sie erfinden. Nur das bleibt im Kinde haften, was es sich aus erster Hand erworben hat, was es durch die eigenen Sinne wahrgenommen und mit dem eigenen Verstande bearbeitet hat. Die Kenntnisse aus zweiter Hand, die dem Kinde fertig, gleichsam auf dem Präsentirteller entgegengebracht werden, sind vollständig werthlos. Alles was Emil lernen soll, soll daher aus seinem eigenen
Der Gesellschaftsvertrag" bildet auch sprachlich was Emil lernen soll, soll daher aus seinem eigenen
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persönlichen Trieb entspringen. Die Bicher sollen in seiner Kindheit verbotene Waare sein. Die Kunst des Erziehens besteht darin, den Drang nach Kenntnissen und das Verständniß ihrer Nüglichkeit in dem Zögling zu wecken. Als Emil z. B. lesen lernen soll, schlägt der Hofmeister folgendes Verfahren ein. Er geht von dem Grundsatz aus, daß es keinen Zweck haben kann, das Kind mit schwarzen Krähenfüßen zu beschäftigen, deren Bedeutung es garnicht ahut. Auf Anstiften des Hofmeisters bekommt Emil immer in gewissen Zwischenräumen einen Brief. Er öffnet ihn, aber da er nicht lesen kann, vergehen einige Tage, bevor er einen Menschen findet, der ihm die Bedeutung erschließen kann. Er sieht jetzt, daß die Briefe Einladungen zu Ausflügen, öffentlichen Festen, großen Mittagsgesellschaften usw. enthielten; aber gleichzeitig sieht er, daß die schönen Dinge, ihm nun verloren sind, weil die bestimmte Zeit verstrichen ist. Er sieht jetzt den Nußen des Lesens ein, und diese Erkenntniß spornt ihn zum Lernen an. Ich bin überzeugt, sagt Rousseau , daß Emil mit zehn Jahren vollkommen wird lesen können, gerade weil ich so wenig Gewicht darauf lege, daß er es vor dem fünfzehnten lernen soll."
Emil wird älter, aber noch hat er nichts aus der Geschichte erfahren. Und warum nicht? Weil, sagt Rousseau , die Erziehung sich nicht überhaften darf; weil man nie einen Drang befriedigen soll, ehe er wirklich voll entwickelt ist. Die Geschichte ist für Rousseau wie für das ganze 18. Jahrhundert eine große Sammlung von guten und bösen Beispielen, eine Reihe lebender Bilder zur Erklärung und Bestätigung des moralischen Gesetzbuches. Tugend und Pflicht aber sind Begriffe, die das Kind noch garnicht fassen kann, und wenn man von ihnen vorzeitig spricht, bewirkt man nur, daß sie für das ganze Leben leere Worte bleiben. Da das Kind also garnicht im Stande ist, an die Geschichte einen moralischen Maßstab anzulegen, muß dieser Unterrichtszweig einem späteren Alter vorbehalten werden. An einem Beispiel zeigt Rousseau , welche Auffassung Kinder von der Geschichte haben. Er war einst in eine Mittagsgesellschaft geladen, in der sich das Gespräch um Alerander den Großen drehte und sein Heldenmuth um die Wette gepriesen wurde. Zuleßt aber einigten sich Alle dahin, daß er seinem Arzt gegenüber sich doch am heldenmüthigsten gezeigt habe. Alerander nämlich erhielt, als er auf dem Krankenbette lag, einen Brief, der ihm seinen Arzt als einen Verräther bezeichnete; er aber nahm ruhig, indem er dem Arzte den Brief reichte, aus seiner Hand den Trank und leerte die Schaale in einem Zuge. Später am Nachmittag spazierte Rousseau mit einem sechsjährigen Knaben im Garten, der ebenfalls am Tische gesessen und in die allgemeine Bewunderung Alerander's mit eingestimmt hatte. Schließlich aber belam Rousseau den wahren Grund der findlichen Aleranderbegeisterung heraus. Was der Kleine als Heldenmuth bewunderte, war nämlich, daß Alerander eine ganze Schaale Medizin auf einmal trinfen konnte. Erst wenn Emil in das Leben hinaustritt, soll er mit der Geschichte bekannt gemacht werden, um aus ihr die Lehren und Erfahrungen zu gewinnen, die ihn im Kampf mit der verderbten Gesellschaft führen sollen.
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Bis jetzt ist der Zögling ohne jede religiöse Einwirkung geblieben. In einem Hauptabschnitt seines Buches entwickelt Rousseau unter dem Titel Bekenntnisse eines savoyischen Hülfspredigers" seine religiösen Anschauungen. Mit einer malerischen Naturschilderung, einer Landschaft in Morgenbeleuchtung, hebt der Abschnitt an., Er fehrt zu den Eindrücken seines Jugendaufenthaltes in Italien und zu den Einwirkungen jenes jungen Adelsgeistlichen zurück. Er macht sich zum Wortführer einer Vernunftreligion, die die aus den Tiefen des Gefühls hervorbrechenden Mächte nicht übersieht und hindert. Wie er über= haupt ein Gefühlsmensch war, ist auch seine Neligiosität ein warmes Bezaubertſein, eine innerliche Vertiefung, nur daß bei ihm sich die religiösen Empfindungen um Begriffe ranfen, die seine Vernunft als wahr erkannt hat. Sein Zögling wird feiner bestimmten Religion zugeführt. Seine Geistesfräfte find entwickelt genug, um das eigenthümliche