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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
betrachtete, wie den Henker auf seinem Wege zur Nichtstätte. Wie ist Dir eigentlich zu Muthe, mein Freund? frugen alle Blicke. Bist Du auch vollkommen überzeugt von Deinem Recht? sagten alle die lächelnden Mienen. Selbst das weiße Antlig des Zollverwalters, das er im Vorbeifahren in einem Straßenspiegel erblickte, zeigte dasselbe pharisäische Lächeln; und doch war der Zollverwalter einer von Denen, die am lautesten die Anwendung der schärfsten Zwangsmittel gegen das Volk verlangt hatten. Aber diesen Burschen ward es leicht, zu rufen: Hängt sie! denn sie waren es nicht, die die Exekution ausführen sollten!...
Der Kreisrichter hatte geglaubt, daß er erleichtert würde aufathmen können, sobald er nur erst die Stadt im Rücken hätte. Aber der Anblick der freien Natur, der ausgedehnten Felder, des weiten, blauen Himmels und der Lerchen, die sich in der stillen Luft tummelten, trugen nur dazu bei, ihn noch triiber und bitterer zu stimmen.
Unwillkürlich mußte er an sein eigenes, glückliches, freies Leben denken, auf das er so thörichter Weise Verzicht geleistet hatte. Wie lächerlich war es doch, daß gerade er hier fahren mußte, gleichsam als sei er in Feindesland, mit waffenklirrender Eskorte, gefürchtet und verhaßt! Wie ganz anders hatte er es sich gedacht, Vollstrecker des Gesezes, Arm der Gerechtigkeit, Beschüßer der Gekränkten und erwählter Nichter der Schuldigen zu sein. Nun kam er daher wie Einer, der Aergerniß erregt, wie Einer, der in den Augen der Bevölkerung selbst Gewalt übt und die Geseze mit Füßen tritt. Und waren sie wirklich in einem Irrthum befangen, diese Leute, die ihm heute mit ihren erbitterten Protestationen entgegentreten wiirden, so glaubten sie ja doch in ihrem Recht zu sein, zehn-, ja vielleicht hundertmal mehr, als er selbst...
Er ward dadurch in seinen Betrachtungen gestört, daß er Herrn Simmelfjär's falte, farblose Augen durchbohrend auf sich gerichtet fühlte. Er preßte
die Lippen zusammen. Wie er diesen Menschen verabschente! Wie ihn dieser freche, spionirende Blick empörte! Sein Herz krampfte sich zusammen vor Schmerz und Scham beim Gedanken an die tiefe Demoralisation seines Vaterlandes, deren lebendes Beispiel er in diesem verächtlichen Burschen täglich vor Augen sah. Wie war es nur so weit gekommen? Wer trug die Schuld an dieser Entwürdigung der Macht? Es ergriff ihn ein fast unbezähmbares Verlangen, ihm einmal ernstlich seine Macht und Autorität zu zeigen, endlich das Joch abzustreifen, sich zu er= heben und ihn einen verruchten Hund zu nennen, was er auch in der That war.
Aber dann mußte er an feine Kinder denken und an das Versprechen, das er seiner Agathe gegeben. Er vergegenwärtigte sich ihre Bitten, ihre rührende Angst, ihre Zärtlichkeit und ihre Küsse....
Refignirt sant er in seine Wagenecke zurück, eingehüllt in seinen Mantel. Und weiter rollte das Gefährt, begleitet von der waffenklirrenden Eskorte.
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Feuilleton.
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Der Gladiator. Zum Kampf bereit steht er da. Jede Muskel des kräftigen Körpers ist gespannt. Fest faßt er den herannahenden Gegner in's Auge. Noch ist das Schwert gesenkt und der Schild zurückgehalten im nächsten Augenblick wird die Rechte zum Schlage ausholen und die Linke mit dem kleinen Schild herauffahren, um den Körper zu decken. Er weiß, daß es einen Kampf auf Leben und Tod gilt, in seinen Augen lodert ein düsteres Feuer, die Brauen ziehen sich zusammen und der Unterkiefer schiebt sich vor, so daß die Brutalität und Energie, die sie zu künden scheinen, sich noch schärfer ausprägt als sonst. So steht er in der Skulptur von A. Stehle vor uns, der Typus jener Fechter, deren Kampf das beliebteste Schauspiel bei den Römern war. Er trägt die schwerste Bewaffnung, die bei den Gladiatoren vorkam, Schwert und Schild, Helm, Brustpanzer und Schiene am linken Bein. Es ist nicht seine Schuld, daß er zu diesem Handwerk gekommen ist; die Gladia= toren wurden aus den Sklaven und Kriegsgefangenen ausgewählt und von ihren Herren gezivungen, zu kämpfen. Aber die Art seines Auftretens und der Ausdruck seines Gefichts zeigen, daß er sich an die Rolle, die man ihm zugewiesen hat, schon gewöhnt, daß das rohe Schauspiel seine verrohende Wirkung auf ihn ausgeübt hat.
Plätterei in Antwerpen . Wer spät am Abend, namentlich in den Tagen vor dem Sonntag, durch die Straßen der Großstadt geht, wird oft schon den hellen Schein gesehen haben, der aus den weit geöffneten Thüren und Fenstern eines fleinen Ladens in schmalen Streifen über die Straße läuft. Alle anderen Läden find schon geschlossen und liegen in tiefem Du..fel; nur hier herrscht noch reges Leben. Man sieht ein paar Mädchen emsig dabei, die frische Wäsche mit dem Plätteisen zu bearbeiten. Ein warmer Luftstrom dringt in die fühle Nacht hinaus. Und geht man am nächsten Morgen früh an dem Laden vorbei, so sieht man dieselben Mädchen schon wieder ant Plätttisch stehen. So geht es bis tief in die Nacht hinein. Es ist ein hartes Brot, um das diese Mädchen ringen müssen. Fast unerträglich scheint ihre Arbeit im heißen Sommer, wenn die Sonne es schon für die Menschen, die den Schatten aufsuchen können, zu gut meint. Dann wird die Plättstube zur Hölle, und es nüßt wenig, wenn, wie auch auf unserem Bilde, alle Fenster und Thüren weit aufgerissen werden, um wenigstens etwas Zugluft durch den stickend heißen Raum gehen zu lassen. Eine Plätterei in Antwerpen hat dem Maler das Motiv zu seinem Bilde gegeben; es ist überall dasselbe Bild. Die dargestellte Anstalt ist sehr groß, eine lange Reihe von Mädchen steht an den Tischen, und hinten geht der Blick durch die Thür in andere Näume. Alles ist in angeftrengter Thätigkeit; die Einen tragen die Wäsche in Körben herzu, die Anderen packen die fertige ein, und die Mehrzahl ist mit dem Plätten selbst beschäftigt. Unter der Decke sind Stricke gezogen, an denen die Wäsche trockenen soll Arbeit in Hülle und Fülle.
Aus der guten alten Zeit. Mit welcher Fürsorg= lichkeit sich die Geistlichen zu jeder Zeit der„ armen Lehrer" angenommen haben, zeigt nachfolgendes Nezept des Pfarrers Moser in Württemberg aus dem Anfange dieses Jahrhunderts. Der wohlwollende Herr gab den Lehrern folgende Rathschläge: Der Lehrer suche sich eine vermögende Gattin aus. Er sei sparsam. Er erfülle treu seine Pflicht, dann befämte er auch mehr Geschenke. Er halte seine eigenen Kinder zur Arbeit an; denn sie können durch Spinnen und Stricken verdienen helfen. Er gebe Privatstunden. Er kann Uhren anfertigen und ausbessern. Er treibe Handel mit Schulbüchern. Er schreibe für
Andere Briefe und dergleichen. Er treibe Bienenzucht. Er erlerne die Feldmeßkunst. In Weingegenden lege er einen Weinhandel an. Auch andere Dinge führt Moser an, mit denen der Lehrer Handel treiben könnte, z. B. Kleesamen, Blumensamen, Lichter, Tabak. Dieser Kleinhandel soll aber unterbleiben, wenn im Dorfe schon ein Krämer ist. Moser vergißt auch nicht, die Lehrer zu ermahnen, sich mit einem geringen Gewinn genügen zu lassen und keinen zu betrügen. Er sei Abschreiber bei Advokaten. Er befasse sich mit Sackzeichnen und dem Anstreichen von Geräthschaften. Die Frau des Lehrers kann die farge Besoldung durch folgende Geschäfte verbessern: Sie gebe Unterricht im Nähen und Stricken, sie wasche für Andere feine Geräthschaften, sie helfe bei Ausrichtungen fochen. Durch Seifenfieden, Lichterziehen und Viehzucht ist auch etwas zu verdienen.
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Die Abnahme der Wärme mit steigender Höhe. Nach einer schönen griechischen Sage wurde vor langen Zeiten auf Kreta von dem Könige Minos ein kunstreicher Mann zurückgehalten, so sehr er sich auch nach seiner auf dem griechischen Festlande gelegenen Heimath schnte. Da verfertigte Dädalus das war der Name des Mannes für sich und seinen Sohn Ikarus Flügel, mit deren Hülfe sie von der Insel entwichen. Aber in freudigem Uebermuth, weil er so frei die Lüfte durchsegelte, erhob sich der Jüngling zu hoch, so daß er der Sonne zu nahe fami; ihre sengenden Strahlen schmolzen das Wachs, mit dem die Flügel am Körper befestigt waren, und er stürzte in's Meer hinab, wo er seinen Tod fand. Noch heute wird es nach ihm das Ikarische genannt.
Als ich vor vielen Jahren diese Sage zuerst kennen lernte, hob der Lehrer unter Anderem hervor, daß der sagenhafte Charakter der Erzählung schon aus dem Umstande hervorgehe, daß gerade das Zuhochfliegen den Sturz des Ikarus verursachte. Je weiter man sich von der Erde entferne, je höher man steige, desto kälter werde es, und umsoweniger Gefahr sei für Jkarns vorhanden gewesen, daß seine Flügel ihm abschmölzen. Warum das so sein müsse, verstand ich trotz der Erklärung meines Lehrers nicht, vielmehr erschien mir die Logif der griechischen Sage viel richtiger. Unzweifelhaft rührt die Wärme auf der Erde von der Sonne her, und folglich müßte es um so heißer werden, je höher man steigt. Andererseits ist es eine bekannte Erfahrung, daß im Hochgebirge der Schnee selbst im heißesten Sommer nicht schmilzt, und ebenso berichten die Luftfahrer von zunehmender Kälte bei zunehmender Höhe.
Wollen wir diesen Widerspruch aufflären, so müssen wir uns das Wesen der Wärme selbst vor Augen halten. Sie besteht in einer außerordentlich heftigen Bewegung der kleinsten Theilchen des strahlenden Körpers, und diese Bewegung wird von dem Aether, der die ganze Welt erfüllt, aufgenommen und weiter geleitet. Der Aether selbst ist weder kalt noch warm, sondern zeigt lediglich bestimmte Bewegungs- oder Schwingungszustände; erst wenn die Bewegung auf andere Körper trifft, werden diese dadurch erwärmt. Je näher man sich an dem ausstrahlenden Körper befindet, um so stärker ist noch die Bewegung des Aethers, und eine um so größere Wärme wird daher entwickelt, wenn die Aetherbewegung auf einen anderen Körper übergeht. Nicht alle Körper nehmen aber die Bewegung des Aethers gleichmäßig auf. Die meisten Stoffe halten nur einen Theil der Aetherbewegung zurück, während der andere ungehindert durch sie hindurchgeht, und nur nach Maßgabe des zurückgehaltenen Theiles erwärmen sie sich.
Die Luft fann nur wenig Wärme zurückhalten, und zwar um so weniger, je dünner sie ist; daher ist es in den oberen Luftschichten empfindlich kalt, und die Tem
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peratur nähert sich der des wärmelosen leeren Raumes ( 273 Grad Kälte) um so mehr, je höher man steigt. Aber je fälter es in jenen Regionen ist, um so weniger hat die Aetherbewegung von ihrer Stärke verloren, um so größer ist daher noch ihre wärmende Kraft. Wenn aber ein Körper, der die Aetherbewegung oder Wärme zurückhalten kann, bis zu jenen Höhen aufsteigt, so wird er an denjenigen Stellen, die der Sonne direkt ausgesetzt sind, troß der kalten Temperatur, die ihn rings umgiebt, doch viel stärker erwärmt werden, als dies im Thale der Fall ist, wo die Ae.herbewegung einen großen Theil ihrer Energie bereits durch die Erwärmung der um= gebenden Luft und der Erde verloren hat. So bestätigen denn auch alle Luftfahrer und Bergsteiger, daß trotz der großen Kälte in den von ihnen erreichten Höhen die sengende Kraft der Sonne viel stärker sei, als unten im Thale . Wenn auch die Finger vor Kälte steif werden, so daß man die Instrumente im Luftschiff kaum bedienen fann, so wird für die Körpertheile, die direkt von der Sonne getroffen werden, die Hize geradezu unerträglich.- -dt.
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Die Kohlsuppe. Einem Bauernweib, einer Withve, starb ihr einziger, zwanzigjähriger Sohn, im ganzen Dorf der flinkeste Arbeiter.
Die Gutsherrin desselben Dorfes hatte von dem Unglück der Bauersfrau Kunde erhalten und begab sich am Beerdigungstage zu ihr. Sie traf die Frau zu Hause.
Vor einem mitten in der Hütte befindlichen Tische stehend, schöpfte die Bäuerin, ohne zu eilen, die rechte Hand gleichmäßig hebend und senkend( der linke Arm hing schlaff herab), die wässerige Kohlsuppe vom Boden des gebräunten irdenen Topfes und führte ruhig Löffel für Löffel zum Munde.
Das Antlitz des Bauernweibes war lang und eingefallen und hatte etwas Finsteres; die Augen waren geröthet und gedrungen. aber die Frau hielt sich gerade und fest, wie in der Kirche.
Mein Gott! dachte die Gutsherrin. Sie fann noch effen in einem solchen Augenblick... was diese Leute für rohe Gefühle haben!
Und die Gutsherrin gedachte des Todes ihrer neunmonatlichen Tochter, die sie vor einigen Jahren verloren, und wie sie aus Kummer darüber sogar unterlassen, ein schönes Landhaus bei Petersburg zu miethen und den ganzen Sommer in der Stadt zugebracht hatte!
Das Weib aber fuhr fort, seine Kohlsuppe zu essen. Die Gutsherrin konnte sich endlich nicht mehr halten. " Tatjana," begann sie, ich staune! Hast Du Deinen Sohn nicht geliebt? Wie fannst Du noch Appetit haben? Wie fannst Du diese Kohljuppe essen!"
„ Mein Wassia ist gestorben!" antwortete das Weib lei'e, und die zurückgedrängten Thränen strömten wieder über die eingefallenen Wangen, aus ist es folglich mit. mir: lebendigen Leibes hat man den Kopf mir genommen. Warum aber soll die Suppe verloren gehen: sie ist ja gesalzen." und entfernte
Die Gutsherrin zuckte die Achseln sich. Sie hatte das Salz billig!
Jwan Turgenjew.
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