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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

nach allen Seiten gleichartig ausgebildet sind, dehnen sich beim Erwärmen auch nach allen Richtungen gleichmäßig aus. Dagegen ist beim heragonalen und quadratischen System diese Ausdehnung in der Richtung der Hauptachsen verschieden, und bei den übrigen Systemen ist die Ausdehnung in jeder Richtung der Achsen verschieden. Ebenso verhalten sich die Krystalle der verschiedenen Systeme in Bezug auf Wärmeleitung. In Bezug auf die elektrische Spannung und Leitung zeichnen sich besonders die unsymmetrisch ausgebildeten Krystalle aus, indem die entgegengesetzten Enden beim Erwärmen oder Ab­fühlen eines derselben ungleiche elektrische Zustände annehmen. Besonders wichtig sind die optischen Eigenschaften der Krystalle; mit ihrer Hülfe kann man die Krystallform eines Krystalls bestimmen, bei welchem die geometrische Bestimmung schwierig ist.

Die Mannigfaltigkeit der Krystallbildung wird dadurch vermehrt, daß sich unter gewissen Umständen neben den Vollflächnern( Holoëdern) Halbflächner oder Hemieder bilden, ferner Zwillings- oder Drillings krystalle, abgeſtuzte oder mit Pyramiden besetzte Ecken. Manche Krystalle verlassen bei Veränderung der Verhältnisse, der Temperatur oder der Nahrungs­menge ihre bisherige Form und gehen in eine ganz andere Krystallform über. Kalkspatkrystalle, die ihr Wachsthum als Halbflächner begonnen haben, wachsen sich bei Aenderung der Verhältnisse zu Prismen aus. Aehnliches Verhalten zeigen Feldspat und Turmalin. So entstehen die sogenannten Pseudomorphosen. Wie die Aerzte und Thierphysiologen künstliche Miß­geburten zum Studium der organischen Bildungs­geseze hervorbringen, so lassen sich solche auch leicht

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bei den Krystallen erzeugen. Und wie abnormal ausgebildete Menschen sich gewöhnlich durch Welt­verachtung und beißenden Wiß auszeichnen, so spotten solche Krystalle bei aller ihrer Durchsichtigkeit dem Verlangen der in einer Ebene schwingenden Licht strahlen, gerade hindurchzugehen; sie missen es sich gefallen lassen, je nach dem Eigensinn der betreffenden Krystalle auf schiefem Wege rechts oder links herum­zukommen. Schon bei ihrer Entstehung zeichnen sich manche Krystalle durch Absonderlichkeiten aus. Löst man amorphe arsenige Säure in kochender Salz­säure und läßt die Lösung langsam erkalten, so leuchtet, im Dunkeln beobachtet, jeder Krystall im Moment seines Ausscheidens lebhaft auf. Moment seines Ausscheidens lebhaft auf. Aehnlich verhält sich chlorsaurer Baryt.

Eine besonders hervorzuhebende Eigenschaft, die des ewigen Lebens, nähert die Krystalle den niedrigsten Organismen, den Protozoën, die befannt­niedrigsten Organismen, den Protozoën, die bekannt­lich aus innerer Ursache niemals altern und sterben, sondern sich, so lange Nahrungsstoff vorhanden ist, beständig verjüngen. Aber der Krystall kann sogar seine unterbrochene Lebensthätigkeit wieder aufnehmen. Bringt man einen Krystall nach beliebig langer Zeit in die Mutterlauge zurück, in der er entstanden ist, in die Mutterlange zurück, in der er entstanden ist, so wächst er weiter, war er verlegt worden, so ergänzt er sich wieder. Ja, ein Krystall einer feurig flüssig geschmolzenen Masse kann, wenn er später, vielleicht nach Jahrtausenden, in eine wässerige Lösung derselben Substanz gelangt, hier weiter wachsen und sich ergänzen. Ja, er fann sogar weiter wachsen, wenn er in die Lösung eines anderen, nur ähnlichen ( isomeren ) Salzes gebracht wird. Der Krystall aktli­matifirt sich in der Lösung; das kann er selbst noch

in einer dritten Lösung. Auf diese Weise kann man buntfarbige Alaunkrystalle erhalten.

In allem diesen erkennen wir eine Energie, die der Lebensthätigkeit der organischen Welt sehr ähnlich ist. Zuweilen findet sogar eine Art Bürgerkrieg unter den Krystallen statt, namentlich bei solchen Stoffen, deren Krystalle, wie z. B. beim Schwefel, in zwei Systemen krystallisiren, je nach der Tem peratur, bei der sie sich gebildet haben. Man unter­scheidet eine octaedrische und eine prismatische Form des Schwefels. Wenn man nun zwei Vertreter dieser beiden formal so verschieden ausgebildeten Krystallsysteme an feinen Platindrähten nicht weit von einander in eine übersättigte Lösung von Schwefel in Benzol hängt, so bilden sich in der Nähe des prismatischen Krystalls zunächst lauter neue Prismen, in der Nähe des octaëdrischen dagegen lauter neue Achtflächner, bis sich schließlich die äußerlich so ungleichen Krystallheere erreichen, worauf beim ersten Zusammenstoß letztere Krystallform ganz unterdrückt wird. Wohl mit Recht nennt das Ernst Krause einen Kampf um's Dasein unter den Krystallen.

Die Gegenwart fremder, garnicht in die Zusammen­segung der Krystalle übergehender Körper kann die Ausbildung der Krystalle. stark beeinflussen; unwägbare Mengen von gewissen Stoffen, z. B. von Fluor­verbindungen, haben hier auf die Krystallbildung eine ähnliche Wirkung, wie die Fermente und Torine im Thier- und Pflanzenleben.

Alles das zeigt uns, daß auch die Entstehung der Krystalle einem Bildungsstreben des Stoffes entstammt, der wohl in Parallele mit der Lebens­thätigkeit in der Thier- und Pflanzenwelt zu sehen ist.­

Schlechte Gesellschaft. W

ie saßen am Kaffeetisch. Herr und Frau Große auf dem Sopha, ihnen gegenüber die beiden ältesten Söhne und an der einen Seite die kleine, spätgeborene Dora. Ein Plaz war noch unbesetzt. Paul, der jüngste Sohn, pflegte dort immer die Mahlzeiten einzunehmen.

Frau Große hatte schon Allen ihre Buttersemmel gestrichen. Aber Reiner rührte sie an. Es war in diesem Hause Sitte, alle Mahlzeiten gemeinschaftlich einzunehmen. Niemand durfte ant Tische fehlen, wenn gegessen wurde, es sei denn, daß außer ordentliche Berufspflichten ihn fernhielten. Sonst aber duldete Herr Große fein Zuspätkommen. Und wie stolz war er auf diesen strengen Familiensinn! Ja, das war sein Werk! Der Erfolg seiner Er­ziehung!

Wenn irgend ein Vater oder eine Mutter klagten, daß ihre Kinder ihre eigenen Wege gingen, so sagte er stets bedauernd: Ach ja! Sie haben leider nicht solche braven Kinder, wie ich. Gott sei Dant! Ich weiß nicht, wie es ist, Kinder zu haben, die man mur alle Jahre einmal sieht, die Einen so behandeln, als wäre man ihr fremder Wirth. Meine Kinder sind zu allen Mahlzeiten zu Hause. Ich weiß nicht, wenn ich sie nicht um mich habe, schmeckt es mir nicht. Aber ich erziehe sie auch! Zu jeder Mahlzeit missen sie sich zugleich mit mir an den Tisch seßen. Und da am Tisch lernen sie die Annehmlichkeiten des Familienlebens schäßen. Das schöne Essen, nein, sagen Sie selbst, muß das nicht die jungen Leute von allen gefährlichen Ver­gnügungen abhalten, sie vor jeder schlechten Gesell­schaft bewahren? Es geht doch wirklich nichts über einen guten Happen Essen. Das ist doch schließlich das Schönste, was man sich leisten kann so am Familientisch!"

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Er konnte glücklicherweise auf seinen Familien­tisch so leckere Speisen bringen, daß den Kindern die Stunden des Essens ganz angenehm erschienen. Er hatte eine Maschinenfabrik, in der zweihundert Männer arbeiteten. Die hämmerten, drehten und feilten so viel Maschinen zusammen, daß er bei der Inventur stets schmunzelnd feststellen konnte, daß er wieder um einige Tausende reicher sei. Dann kamen wieder verschiedene auserlesene Leckerbissen mehr auf

Von Otto Breitmann.

den Familientisch. So verstärkte und verbesserte er sein Erziehungsmittel. Und die Kinder ließen sich das gern gefallen.

Da war zuerst Felix, der Aelteste. Groß, hager, ungelent. In seinem gelben Gesicht leuchteten mehrere rothe Furchen: Schmisse, die er beim Streben er­halten hatte, allem Wissen auf den Grund zu kommen. Er studirte die Rechte, und sein Vater hoffte, ihn einst als Landgerichtsdirektor oder gar Justizminister an's Herz drücken zu können. Gustav, der Zweite, war fleiner und stiller als Felix, der im Vorgefühl seiner einstigen Stellung überall kleine Advokaten­reden hielt und seine richterliche Autorität und Ueber­ordnung geltend machen wollte. Gustav studirte nur Medizin. Da er nicht die Beamtenfarrière ein­schlagen wollte, konnte von ihm nicht so viel Glanz erwartet werden, wie einst Felir über die Familie ausgießen würde. Dafür aber gab der Jüngste, Paul, die Aussicht, Bankdirektor zu werden. Seit zwei Jahren war er in einem großen Bankgeschäft angestellt. Noch ein Jahr, dann hatte er seine Lehrzeit beendigt und er mußte rasend schnell emporsteigen.

Da er sonst immer pünktlich war, wunderten sich seine Eltern und Geschwister nicht wenig, daß er heute nicht zur bestimmten Minute vor seiner Kaffeetasse saß.

auch den ganzen Dunst, der in den Straßen Tag, niedergeschlagen. Die Luft war rein und frisch, nur mit jenem feuchten, dünnen Grau erfüllt, das so oft an Oktobermorgen über die Erde sich spinnt.

Hier im Zimmer war jedoch wenig davon zu merken. Die helle Tapete, die dunklen Eichenmöbel ergaben eine freundliche Mischung. Der große Spiegel zwischen den beiden Fenstern und viele gestickte und gehäkelte Deckchen erhöhten die Wohnlichkeit des Raumes. Zwar waren zwischen guten Kupferstichen ganz gewöhnliche Chromobilder aufgehängt, außerdem standen auf dem Ofensims und allen anderen Simsen scheußlich nüchterne, verzerrte Gips- und Porzellan­püppchen. Aber das Ganze gab einen wohlthuenden Farbenton.

Mit

Herr Große wechselte die Farbe. Sein feistes, rothes Gesicht mit dem borstigen Schnurrbart zeigte auf der Stirn über den Augen zwei glühende Flecken, die sonst nur auftraten, wenn er ganz vorzüglich gegessen und tüchtig Wein getrunken hatte. seiner runden Hand, die dicken, kurzen Finger weit gespreizt, fuhr er sich durch sein Haar, das auf dem Scheitel so spärlich die glänzende Kopfhaut bedeckte, daß vorn, wie bei einem schlecht besäten Acker die Erde, der blanke Schädel durchschimmerte.

Sie warteten noch einige Minuten. Die Mutter

Frau Große schraubte zum zweiten Mal die sah angstvoll ihre Söhne an, die gleichgültig und Honigbüchse zu.

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Soll ich' mal nachsehen, warum er nicht kommt?" fragte sie schiichtern.

,, Nein!" sagte ihr Mann rauh. Er hat selber zu kommen! Weiß er denn nicht, wann wir Kaffee trinfen?"

Eine

Diese Frage offenbarte seine große Gereiztheit. Die Anderen schwiegen furchtsam und verlegen. Felix schob unruhig und nervös seinen Kneifer hoch. Gustav sah nachdenklich in seine leere Tasse, und die Mutter machte ein bekümmertes Gesicht. Zeit lang hörte man nur das Knacken der zerbissenen Zeit lang hörte man nur das Knacken der zerbissenen Körner, die der Papagei am Fenster verzehrte. Der Mutter schien es, als werde das Zimmer dunkler. Und dann fror sie. Dabei war es doch erst im Oktober. Und der große, kaminartige, bunte Kachel­ofen in der Ecke war schon geheizt. Die ganze Nacht über hatte es zwar geregnet, aber der Regen hatte

ärgerlich die Blicke erwiderten. Die kleine Dora sagte schmollend: Ich habe solchen Hunger!" Dafür blickte die Mutter streng warnend zu ihr hin, so daß das kleine Ding sich schüchtern zusammenkauerte.

Endlich, nach abermaligen Schweigen, sagte Herr Große mit vor Wuth gequetschter Stimme: ihn!.. Na, dann trinken wir eben ohne ihn! Wenn er nicht zur rechten Zeit sich an den Tisch segen fann, braucht er auch nichts, der Lümmel!"

"

Die Mutter schenkte rasch ein; vielleicht vergaß er seinen Zorn, wenn er erst etwas im Magen hatte. Paul war jedenfalls etwas spät nach Hause gekommen und hatte die Zeit verschlafen. Wenn sie Kaffee getrunken hatte, wollte sie heimlich zu ihm in's Zimmer gehen und nachsehen. Zum Mittag sollte er dem Vater eine Flasche von dessen Leib­das Geld dazu wollte sie liqueur mitbringen ihm schon zustecken

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dann war Alles wieder gut.