Die reue Welt
Nr. 21
( Schluß.)
Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
Dilettanten des Lebens.
nkel Hermann konnte es nicht lassen, von dem Jungen zu phantafiren; er war in einer sehr weichen Stimmung. Dabei sprach er polternd und fuhr der jungen Wittive mit seiner breiten Hand um's Stinn und streichelte ihr die zarten Finger. " Richard soll er heißen, was? Ich will ja garnicht, daß er Hermann heißt nein, nach seinem Vater! Ach, mein guter, mein lieber Richard! Wie ein Sohn ist er mir gewesen, und ich immer wie sein Vater! Schicken Sie mir man alle Rechnungen zu, Frau Nichte, ich komme für den Nummel auf. Ach, ach, ach!" Er stieß fette Seufzer aus und benußte eifrig das roth und gelb Gepunktete.
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Frau Susanne war auch sehr liebevoll. Sie weinte und klagte über ihre Nerven, drickte die Hand der Schwägerin und behielt sie in der ihren; wie Slammern preßten die feuchten, kalten, nervösen Frauenfinger. Sie sagte:„ Meine liebe Lena, tröste Dich," und dann weinte sie wieder und klagte.
Es war schon eine lange Zeit vergangen. Es wurde Lena allmälig heiß in ihrem Tuch, aber sie mochte es nicht ablegen; fie fiihlte sich hier nicht daheim. Würde sie denn noch nicht gehen können? Gine unsagbare Bangigkeit kam über sie.
" Richard," stöhnte sie plöglich und legte den Stopf auf den Tisch.
Sie waren wirklich sehr nett zu ihr; sie streichelten sie und sprachen davon, immer über ihr zu wachen. Dufel Hermann machte den Vorschlag, sie morgen in der Droschke abzuholen und mit ihr auf den Kirchhof zu fahren; da wollten sie nebenan bei dem Grabsteinmetzen ein schönes Kreuz für Richard bestellen.
Sie schüttelte stumm verneinend den Kopf; es stieß ihr das Herz ab. Sie könne jetzt nicht hinfahren," sagte sie stockend.
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Endlich konnte sich Lena verabschieden. Endlich schlich sie über die Straße.
Endlich war sie wieder allein allein! Der frühe Lenzsonnenschein glänzte auf dem Pflaster, geputzte Mütter mit gepußten Kindern trippelten vorüber. An den Ecken, in den Körben der Händler, Anemonen und tiefblaue Veilchen. Schirpende Sperlinge bei den Droschkenhaltepläßen. Und
die Luft so lind, so wehmüthig weich; schmeichelnd tofte sie um die schwarze Gestalt.
Eine ungeheure Sehnsucht krampfte Lena's Herz zuſamment. Sie winkte der nächsten Droschke und ließ sich hinaus zum Kirchhof fahren. Sie mußte
die
über
Sehnsucht stillen.
Durch endlose Straßen fuhr sie dahin, holperte Pferdebahngeleise, durch Lärm und Getriebe. Sie merkte nichts von alledem. Vor ihr her jagte Sehnsucht und sah sie an mit grabesdunklen,
die
berlangenden Augen.
Endlich die letzten Häuser. Jetzt fam ödes Feld, und da war die Kirchhofsmauer. Klirrend sprang die Gitterpforte auf.
Die Sonne beglänzte noch den Kiesweg, der Buchsbaum zu den Seiten fing an, neu zu grünen. Aber kein schiigender Baum stand über den Gräbern, den Winterwinden preisgegeben, der Sonnengluth ausgefeßt lagen diese Beete im Garten des Todes.
Jetzt war die Luft mild und still; fern sang ein Vogel. Die Einsame athmete tief auf und schlug ein Vogel. Die Einsame athmete tief auf und schlug den Schleier zuriick; schwerfällig schritt sie weiter. Schon viele, viele Reihen da, sein Grab!
Die Kränze waren fast frisch und unverwelkt; weiße Rosen und Palmen und Lorbeeren, wie er sie im Leben nicht gepflückt. Die Augen zudrückend, die Arme weit ausgebreitet, sauf das junge Weib langsam nieder in die Kniee.
Ein zarter Dämmerschein lag auf dem öden Feld, als Lena den Kirchhof verließ.
Die Wittwe schauderte, ein eisiges Frösteln lief ihr über den Rücken. Eine Hand, nur eine warme, lebensvolle Menschenhand, die ihr über's Gesicht strich, wie man's einem weinenden Kinde thut!
Eine Stimme, eine liebe, altvertraute Menschenstimme, die da spricht:, Komm, ich tröste Dich!"
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Lena schrie plößlich laut auf:„ Mein Bruder!" Und dann jagte sie von dannen, so rasch ihr Fuß sie trug; ihr Athem feuchte, sie lief und lief. Sie hastete einem Ziele zu; sie wußte nun, was ihre Sehnsucht wollte.
Hinknieen vor ihn, den Kopf an seiner Brust verbergen wiirde er wieder den Rock über sie ziehen und sie verstecken vor aller Welt?
sie weinte
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Jest waren es keine Kindesthränen mehr, die leicht vergossen, leicht vergessen es waren Weibesthränen, schwerflüssig wie Blei und schwer zu trocknen.
Würde er sie von sich weisen-?!
" Ich komme, mein Bruder," flüsterte Lena, athemlos vom schnellen Lauf.
XX.
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Bei Landgerichtsrath Langen auf der Hausschwelle saß Lora. Sie sollte das eigentlich nicht. Du bist doch kein Straßenkind," sagte die Mutter. Aber das Kind stahl sich so gern hierher. Die Straße war breit, erweiterte sich bald zu einem umbuschten
Plaz; man konnte den ganzen weiten Himmel über den Alleebäumen sehen und jenseits der Mosel die rothen Berge. Man konnte so gut die Glocken der alten Kirchen hören, die in feierlichen Klängen läuteten und dort an den Bergen verhallten.
Es war der schönste Frühlingsmorgen. Lora hockte auf der Schwelle und sah mit großen, ernſten
W
1899
Augen die Straße hinauf und hinab. Sie hatte die Kniee hoch gezogen und die Arme darum geschlungen; sacht wiegte sie hin und her und sang sich leise eins.
Lora war im letzten Jahr sehr gewachsen, zu groß für ihr Alter; noch ging sie nicht in die Schule, der Vater hielt sie mit Absicht zurück. Alles an ihrer Gestalt war gestreckt und mager, gar feine findliche Rundung mehr; die Arme lang wie die eines viel größeren Mädchens, der Hals war dinn und immer leicht zur Seite geneigt. Ein merkwiirdiger Ernst lag auf dem schmalen Gesicht, ein seelenvoller Ausdruck, wie man ihn sonst nie in dieſen Jahren findet.
Die Leute sahen dem Kinde nach, wenn es ruhig, immer mit demselben wunderbaren Ausdruck, daher ging. Langen konnte sich oft nicht halten, er schloß, ohne jede Veranlassung, die zarte Gestalt plößlich in die Arme und sah ihr tief in die wunderschönen Augen.„ Geh nicht fort," fliisterte er dann kaum verständlich. Warum die Sorge? Lora war nicht frank und doch, und doch-!
Die Straße war einsam, das Kind hatte nichts zu sehen. Die Marktleute waren längst vorbei, die Schulingend auch. Vögel sangen ungestört in den Vorgärtchen der Häuser, jetzt pfiff eine Amsel mit vollem Brustton; Lora stellte das eigene halblaute Singen ein, lächelte und lauschte entzückt.
Nebenan in den Büschen mußte sie sißen, die Frühlingsbotin mit dem schwarzen, glatten Gefieder und dem goldgelben Schnabel. Horch, wie schön!
Plötzlich schweigt sie, sie ist gestört worden und entschliipft. Ein Schritt hallt auf der stillen Straße, ein miider, schleppender Schritt; langsam kommt unter den Bäumen eine Frauengestalt auf's Haus zu.
Von den Aesten fallen im leisen Hauch des Frühlingswindes die Hüllen der jungen Blattknospen; leicht, kaum fiihlbar sinken sie nieder.
Schwankend, wie eine Nachtwandelnde, kommt die Gestalt immer näher; jezt ist sie vor'm Haus. Lora ist aufgesprungen, blinzelnd steht sie auf der Schwelle; nun macht sie die großen Augen weit auf. Ihr durchdringender Blick gleitet hinter den Schleier; das fluge Kindergesicht wird plößlich sehr ernst, fast betroffen. Kennt sie die Augen noch, die sie jetzt so trauervoll ansehen? Und die Wangen, die waren mal so hübsch roth, jezt sind sie ganz weiß! Tante Lena?" sagt Lora langsam, wie fragend. Und dann noch einmal sicherer: Tante Lena!" Ueber die schwarze Gestalt fliegt ein Zittern vom Wirbel bis zur Sohle; sie schlägt den Schleier zurück, ihre Hände zittern auch. Die vier Augen versenken sich ineinander, die ernsten Kinder- und die todmüden Frauenaugen; es dämmert in ihnen das Gleiche: eine große Sehnsucht.
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