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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

St. Andreas steht speziell bei den jungen Mädchen und Frauen in Ehren; im Traume oder durch be­sondere Zeichen offenbart sich ihnen der zukünftige Geliebte und Gatte. Man gießt Blei und erperi­mentirt mit Eiweiß, um aus den mancherlei Formen das Nöthige zu erfahren. In der Nacht toben die Dämonen und es ist nicht ratham, draußen zu weilen. Das Alles sind Züge, welche das mit dem alten Herbstfest verbundene Geiſterleben erkennen lassen.

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Den Reigen der Kirmeßzeit beschließt der Nikolai tag. Noch mancherlei Volksbräuche dieser Periode haften an ihm, aber sie herrschen nicht in dem Maße vor, wie insbesondere beim Martinsfeste. Der späte Termin an der Schwelle des Winters stand wohl einer allgemeinen Feier und der Entfaltung des rechten Festlebens im Wege. Das Sammeln zum gemeinsamen Mahle ist angedeutet in der Sitte der Kinderbescheerung, die gerade das Fest des Niko­laus auszeichnet. Zumeist handelt es sich um Be­scheerung der eigenen Kinder, doch ist diese in vielen Gegenden reichlicher, als jene zu Weihnachten, und nicht selten erscheinen die Nikolaispenden älter, als der weihnachtliche Brauch. In meinem Heimaths­orte im sächsischen   Erzgebirge   hat sich noch ein Rest der allgemeinen Gaben erhalten; jedes Kind und auch arme Erwachsene bekommen dort aus einer Stiftung kleine Geldbeträge. Anderwärts zieht der heilige Nikolaus, wie in den Weihnachtsspielen, selbst umher und vertheilt an die Jugend Aepfel  , Nisse, Backwerk usw. Bei den Serben ist auch wieder der Kultcharakter konservirt, in jenem Brauche, dem Heiligen an diesem Tage Minue zu trinken.

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Nikolaus erscheint sowohl in der Legende, wie im Volksspiele in der Eigenschaft eines Teufelsbändigers. Er führt einen wilden Gesellen an der Kette mit sich. In christlicher Umdeutung ist das der Teufel. Es handelt sich aber eigentlich nur um die alten Heidengötter. In vielen Gegenden steht man dem Ursprung des Brauches näher, wenn der Gefangene den Knecht Rupprecht" oder die ,, böse Braut" darstellt. Rupprecht gilt als die Per­sonifikation der heidnischen Geisterwelt. Das Spiel am Vorabend des Nikolaifestes ist also ein Versuch, die Besiegung des Heidenthums dramatisch zu- ge­gestalten. Und da die Kirche die alten Götter mit dem Teufel identifizirte, so ist es nicht unlogisch, in dem Gefesselten diesen selbst zu sehen. In Böhmen  und Mähren   wird denn auch der gebändigte Rupp­recht ausdrücklich als Teufel bezeichnet.

So ist es der Kirche bei diesem letzten Abschnitt der Herbstfestzeit mehr als bei anderen Heiligentagen gelungen, der Feier einen christlichen Sinn unterzu­Legen und diesen auch im Volksspiel zum Ausdruck zu bringen.

Reise in den Weltenraum.

Von Camille Flammarion  . Deutsch von Gertrud David  . ( Schluß.)

Auf fünfzig Millionen Milliarden Meilen.

ch setzte meine himmlische Reise fort und verließ das System der Sonne Alpha im Centauren, um mich nach den sternenbesäten Tiefen des Raumes zu begeben, in denen das Kreuz des Südens strahlt. Meine Reise führte mich durch sonnenreiche Himmelsräume und durch nächtliche Einöden. Die Sonnensysteme flogen an mir vorüber, einen Augen­blick aufleuchtend und mich mit ihrem Glanze blendend, um dann wieder in die ewige Nacht zu versinken.

Der Zustand des Weltalls im Allgemeinen ist Nacht und Schweigen. Nur in der Umgebung der Sonnen ist Licht, und nur in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, innerhalb ihrer Atmosphären Geräusch.

Ich kam an Sterngruppen vorbei und sah dort ungcheure Erdkugeln in einem für unser Auge fremden Lichte ihre Bahn rollen. Elektrische Schläge, mag­netische Schauer, gewisse undefinirbare Empfindungen, die ich zu verspüren glaubte, sagten mir, daß diese Welten für Organismen, wie die unserigen, un­

bewohnbar sind. Die Wesen, die diese merkwürdigen Welten bevölkern, fühlen anders, sehen, denken anders als wir.

Ich entsinne mich besonders, bei meinem Fluge einer Gruppe von vielfarbigen Weltkörpern begegnet zu sein, die durch drei Sonnen erleuchtet wurden, die in rubinrothem, smaragdgrünem und saphirblanem Lichte strahlten.

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Diese eigentümliche Beleuchtung das heißt, seltsam für uns, gewohnt für Jene- berührte mich so wunderbar, daß ich mich fragte, ob ich nicht durch einen Traum geneckt würde, ob es wirklich solche Schöpfungen geben könne. Eigentlich hätte ich diese Zweifel nicht einen einzigen Augenblick hegen dürfen, hatte ich doch selbst oft genug schon am Teleskop solche Vereinigungen von farbigen Sonnen beobachtet, die dem Astronomen so bekannt sind. Ich hielt an und näherte mich einem dieser Weltförper. Ich fand ihn von Wesen bewohnt, die aus Licht gewoben schienen, deren Schönheit die zarten Farben unserer schienen, deren Schönheit die zarten Farben unserer frischesten Rosen, unserer reinsten Lilien weit hinter sich ließ. Diese Wesen leben von der Luft allein, die sie athmen. Sie sehen sich nicht dazu verdammt, die sie athmen. Sie sehen sich nicht dazu verdammt, wie die Einwohner unseres Planeten, fortwährend unzählige Thiere hinzumorden, um damit ihre Körper zu füllen. Wie würden in ihren Augen die irdischen Menschen dunkel, schwer und plump erscheinen; sie würden sich ihrerseits fragen, ob wir wirklich leben und uns lebend fühlen. Ihre Schönheit, ihr Glanz, ihre Leichtigkeit weckten in mir durch den Gegensatz die Erinnerung an die irdischen Lebensbedingungen.

Ich dachte daran, wie die brutale Gewalt hier die Alles überwindende Herrscherin ist. Täglich werden Millionen von Wesen getödtet, um das Dasein der anderen zu fristen. Der Krieg Aller gegen Alle ist ein Naturgesetz in der Thierwelt, und die Menschheit hat sich noch so wenig aus ihrer thierischen Barbarei erhoben, daß fast alle Bölfer, wie zu den primitivsten Zeiten, das Joch der Sklaverei und Knechtschaft auf sich nehmen. So weit von der Erde entfernt, kam es mir zum Bewußtsein, wie ungeheuer groß die Beschränktheit der Bewohner dieses Planeten ist.

Ich versuchte, im Raume nicht etwa die seit Langem unsichtbare Erde, sondern nur unsere Sonne zu entdecken; aber es gelang mir nicht, sie aufzu= finden, noch irgend einen ihrer glänzenden Nachbarn. Die ganze Region des Raumes, in der unsere schwimmende Insel gravitirt, war schon seit Langem wie ein unbedeutender Punkt in den Tiefen der Unendlichkeit verschwunden.

Das System von vielfachen farbigen Sonnen, deren organischer Reichthum in mir diese Erinnerung an die irdische Dämmerung wachgerufen hatte, schwebt im Raume in der 12 500 fachen Entfernung unserer Nachbarsonne Alpha von uns, also ungefähr fünfzig Millionen Milliarden Meilen weit. Das Licht braucht mehr als 43 000 Jahre, um diese Ent­fernung zu durchmessen.

heiten umkreist, dann rollten sie an mir vorüber und versanken hinter mir in die ewige Nacht. Verschiedene Bewegungen trugen sie nach allen Richtungen des Naumes dahin, wie Leuchtkugeln, die aus den Bou­quetts der Feuerwerke ausstrahlen, und Alles schien sich in einen Sternenregen zu verwandeln.

Als ich mich den äußersten Grenzen unseres Weltalls näherte, wurden die Sonnensysteme immer spärlicher, und endlich fand ich mich im Schooße einer furchtbaren Leere, einer nächtlichen Einöde, in die nur von Ferne die Form und die Umrisse unseres Weltalls herüberschimmerten. Es hatte das Aus­sehen eines jener zahlreichen Sternennebel, die wir in den teleskopischen Feldern beobachten, und wurde kleiner und kleiner, je mehr ich mich in die Tiefen des äußeren Raumes verlor.

Da bemerkte ich in der unendlichen Nacht über mir ein neues Weltall, das wie eine ferne, bleiche Nebelmasse im Raume schwebte. Jetzt begriff ich, daß Alles, was wir während der sternklarsten Nacht sehen, und Alles, was die teleskopischen Forschungen uns schon entdeckt haben, nur ein Lokalgebiet eines Universums ist, und daß es noch andere Universums giebt, außer dem, in welchem unsere Sonne ein Stern ist.

Im Unendlichen.

Ich näherte mich diesem zweiten Weltall, das vor meinen Augen größer und größer wurde wie ein Sternenarchipel, und bald erreichte ich seine ersten Vorburgen.

Ich durchflog es in seiner ganzen Ausdehnung, und ich fand, daß es ebenfalls aus vielen Milliarden von Sonnen zusammengesetzt war, die voneinander durch Millionen von Milliarden von Meilen getrennt waren. Und jenseits desselben breitete sich von Neuem eine Einöde von Nacht und Einsamkeit aus, gleich derjenigen, die ich zu durchschreiten hatte, um dieses zweite Weltall zu erreichen.

Ich setzte meinen Aufflug fort, ich sah ein drittes erscheinen, und ich durchquerte es. Ein viertes folgte ihm, dann ein anderes und noch eines. Und wenn ich die Einöden durchflog, die sie trennten, so entdeckte mein Blick, nach welcher Seite er sich auch wandte, in der Ferne immer und überall nur Weltalle.

Da begriff ich, daß alle Sterne, die wir jemals am Himmel beobachtet haben, daß die Millionen von leuchtenden Punkten, welche die Milchstraße bilden, daß die unzähligen Himmelskörper, die Sonnen von jeder Größe und Farbe, alle die verschiedenen Systeme Planeten und Satelliten, daß Alles, was die mensch lichen Sprachen mit dem Namen Himmel oder Weltall  bezeichnet haben, nur ein Inselarchipel im Meere der Unendlichkeit, nur ein Ort, eine mehr oder minder bedeutende Stadt in einem unermeßlich großen Reiche ist.

In dieser Stadt des Landes ohne Grenzen ist unsere Sonne mit ihrem System ein Haus inmitten der Milliarden anderer ähnlicher Häuser. Und ist Dennoch ist dies keine außerordentliche Entfer- sie in dieser Riesenstadt Palast oder Hütte? Wohl nung vom astronomischen Standpunkte.

Das glänzendste Gestirn an unserem Himmel, der Sirius, würde, in diese Entfernung versetzt, nur 3500 mal so weit von uns entfernt sein, als er es wirklich ist, und würde uns zwölf Millionen Mal weniger Licht senden. Er wäre bei den neuen Fortschritten der Photographie noch ein wahrnehm bares Pünktchen: er wäre ein teleskopischer Stern achtzehnter Größe.

Dieser Sternmarkstein wäre also noch weit davon entfernt, die äußerste Grenze unseres Weltalls zu bezeichnen, das sich bis über die Sterne zwanzigster Größe hinaus erstreckt, und eine Anzahl von Sonnen, die sich auf mehrere Milliarden beläuft, zu um= fassen scheint.

Und, wahrhaftig, wie ich meine himmlische Neise fortsetzte, hatte ich neue Abgründe zu überschreiten, begegnete ich neuen Welten. Aus weiter Ferne vor mir, über mir, tauchten sie aus der Nacht auf, wurden zu Sonnen, die den Raum mit ihrem blen­denden Lichte erfüllten, die einen einfach, die anderen doppelt, dreifach, vierfach, bald in goldenem oder silbernem Lichte, bald in den prachtvollsten Farben strahlend, und von Erden mit unbekannten Mensch­

eher das Lettere! Und die Erde? Sie ist eine Kammer in diesem Sonnenhause, eine armselige Wohnung, ebenso winzig wie bescheiden.

Unsere ganze Welt hat also in dem großen Haushalte der Natur keine andere Bedeutung als ein ärmliches Zimmer in einem großen Hause. Dieses Haus ist seinerseits in der Mitte einer ungeheuren Stadt verloren, und diese ungeheure Stadt, die für uns das ganze Weltall   darstellt, ist dennoch in Wirklichkeit nur ein Weltall, über das hinaus in allen Richtungen des Naumes andere Weltalle in unendlicher Anzahl eristiren.

Wie weit ist es von dieser Wirklichkeit bis zu den menschlichen Anmaßungen, den früheren wie den gegenwärtigen, die sich einbilden, daß unsere Welt die Unendlichkeit ausfüllt!

Wenn die Astronomie keinen anderen Erfolg ge­habt hätte, als den, unsere allgemeinen Anschauungen zu erweitern, uns das Verhältniß unserer Erde zur Unendlichkeit vor Augen zu führen und uns von der früheren Sklaverei des Gedankens zu befreien, so verdiente sie schon deshalb unsere ewige Dankbarkeit und Verehrung, denn ohne sie würden wir gewiß unfähig sein, richtig zu denken.