364

Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

erreicht. Nur einmal hatten wir vorübergehend eine

auch die seiner Nachfolger, nur daß es nun mehr

Spur von ihr, aber auch die iſt bald verschwunden. Die Entwickelung der neueren Pädagogik. auf den Privatmann innerhalb des ſtaatsbürgerlichen

Ich weiß nicht, zu welchem. Zwecke, vielleicht daß es sich um eine Heirath gehandelt hat, soll sie sich aus einer anderen Gegend Deutschlands den Tauf­schein einer fremden Person verschafft haben.

Der Assessor verstummte und blickte vor sich hin. Und wieder war es still in dem Saal, den nur das leise Athmen der Schlafenden, das Ticken der Wanduhr und das Gesumme in dem Ofen belebte. Draußen pfiff ein scharfer Wind und peitschte den sandförmigen Schnee gegen die Fensterscheiben.

" Sie hätten sie höchstens wegen Todtschlag richten können. Ich hätte sie überhaupt nicht verurtheilt," sagte der Ingenieur, der nun, nachdem die Span­mung des Zuhörens aufgehört hatte, nur noch mit Mühe gegen die zunehmende Müdigkeit ankämpfte.

Er wendete sich mit dem Gesicht gegen Cele­styne und ergab sich dem Wohlgefühle eines behag= lichen Halbschlummers.

Wie im Traume sah er noch, wie die zu den Büreaux führende Thür geöffnet wurde und in den Wartesaal der Mann mit der rothen Müze trat. Ihm folgte ein landesherrlicher Beamter in Beglei tung eines dienstmäßig ausgerüsteten Gendarmen.

Assessor Vogt ging ihnen entgegen, und nachdem er ihnen verschiedene Papiere vorgewiesen hatte, ver­handelte er leise mit ihnen.

Der Ingenieur athmete in seinem Schlummer ruhig weiter. Plötzlich fühlte er sich durch eine außerordentliche, seltsame Erscheinung ergriffen. Er sah, vollends erwacht, wie die vier Männer ihre Blicke auf Celestyne richteten, auf sie hindeuteten und von ihr sprachen.

Und da trat auch schon der Beamte, von dem Gendarmen begleitet, an Celestyne heran, und die Hand auf ihren Arm legend, sprach er laut:

,, Agnes Delina, im Namen des Gesezes erkläre ich Sie auf Requisition des föniglich preußischen Kriminal- Assessors Vogt für verhaftet."

Ein zweifacher, verzweiflungsvoller Schrei wurde ihm als Antwort.

Wie vom Bliz getroffen schnellte die Gattin des Ingenieurs unter der Berührung des Beamten empor. Mit entsezten Augen blickte sie um sich und schlug krampfhaft die Hände zusammen.

Also doch!" rief sie mit brechender Stimme. ,, Verg'eb mir... Otakar!"

Dann stürzte sie zu seinen Füßen.

Der Ingenieur wehrte sich wie wahnsinnig und rang verzweifelt mit den Männern des Gerichts um ihr Opfer.

Aus dem Wartesaal, den Büreaur und dem Bahnhof lief Alles zusammen.

*

*

Celestyne verwelfte, wie die Blume ohne Thau und Sonnenschein, im Gefängniß, bevor das Gerichts­verfahren zu Ende geführt wurde. Sie vermachte dem geliebten Manne ein schönes, lachendes Kind, ihr Ebenbild.

Der Ingenieur fühlt sein Herz bluten, wenn er sein Kind sieht, seine herzige, süße, wilde Agnes. Das Kind schaut mit seinen lustigen Augen so klug drein, reißt sich das Müßchen vom Kopfe und strampelt jauchzend und muthwillig mit den rundlichen Beinchen, daß der Vater sich an ihm nicht satt sehen und über seinen Anblick nicht genug weinen kann.

Und wenn die alte Wirthschafterin, Zaul's Tante, das siiße Geschöpfchen badet, füßt sie das rosige, zarte Aermchen, auf welchem fünf schmale, rothe Streifen ein unvergängliches Zeichen bilden. Und sie pflegt zu sagen:

-

" Ja, ja, du armes Ding, die Hand des Schicksals hat deine arme Mutter grausam hart angefaßt." Ende.

( Fortsetzung.)

Von Friedrich Müller.

II.

En Frankreich begegnen uns während des

16. Jahrhunderts Männer wie der als Sa­tirifer bekannte François Rabelais ( 1483­1553) und der als Bekämpfer der mittelalterlichen Philosophie bekannte Pierre Namée( 1515-1572) auch pädagogisch als Eiferer gegen bisherige Autori täten, dieser speziell auch als Universitätsreformer. Dann aber war es insbesondere der Essayist Michel de Montaigne ( 1533-1592), der zwar Weniges, aber für die geschichtliche Entwickelung um so Be­deutsameres zur Pädagogik beitrug. Auch bei ihm handelt es sich um ein Protestiren gegen den bis her gen Betrieb der Pädagogif, gegen ein Anfüllen des Kopfes mit pedantischer Gelehrsamkeit( obschon er an den Alten festhalten will) und gegen Unnatur. Montaigne tritt, ungeachtet der großen Rolle, die bei ihm die Verstandesbildung spielt, für eine von klein auf beginnende leibliche und seelische Erziehung ein; allerdings denkt er dabei vornehmlich an die Heran­bildung des jungen Edelmannes.

In diesem Zusammenhang sei auch des für die Pädagogik neuerdings mehr gewiirdigten Humanisten J. L. Vives( 1492-1540) gedacht, eines Spaniers, der besonders in Flandern wirfte.

11

be­

In England steht nach unseren jetzigen Rennt­nissen an der Spize der neueren Pädagogiker Bacon von Verulam( 1561-1626), derselbe, der im Ent­wickelungsgang der neueren Philosophie als der erste große Bertheidiger eines Erfahrungswissens gegen über den als leere Spitfindigkeiten hingestellten Spe­kulationen des Mittelalters gilt, und derselbe, dem die Abfassung der Shakespeare 'schen Dramen zuge­muthet wird. Seine philosophische Stellung prägt sich auch in seiner Pädagogik aus: er eröffnet die Reihe der Empiristen", insofern bei diesen das von außen in den Geist Hineinkommende mindestens mehr Beachtung findet, als das Eigenleben in ihm. Dazu kommt nun ein Abbruch an der vordem gleichmäßi­geren Berücksichtigung aller seelischen Kräfte des Menschen: jetzt ist es der Verstand, der als die vornehmste dieser Sträfte gefaßt wird, und dessen Bi.dung als das Hauptgeschäft der Pädagogik gilt. Vor Allem sollen Kenntnisse übermittelt werden greiflich in einer Zeit, die einen fortwährend steigenden Neichthum von solchen bringt; die Erziehung tritt hinter den Unterricht zurück, der Segen wie der Fluch der einseitigen Verstandesbildung lagert sich von da an über unsere Pädagogik. Allein diese Verstandesbildung ruht hinwider nicht mehr auf der naiven Hingabe des Mittelalters an den Bildungs­inhalt, sondern auf einem Gedanken, richtig und verführerisch zugleich wie nur einer, auf dem Ge­danken: Wissen ist Macht." Unstreitig bezeichnet dieses seit Bacon vielgebrauchte Werk eine werthvolle Einsicht in das Verhältniß des Menschen zur Welt: es ist der segensreiche Ruf bei seinem Kampf mit der Natur. Allein es birgt in sich wiederum das Verderben, das jedes unmittelbare Interesse. über die Pädagogik bringt: der Lehrinhalt wird zum Mittel für Anderweitiges, zur baaren Nüglichkeit. Auch der besonders damals beliebte Saß, daß wir nicht für die Schule, sondern für's Leben lernen, fällt unter die gleiche Betrachtung.

"

So durchzieht der Zug des Nußens unsere Päda­gogik bis heute. In begreiflichem Zusammenhang damit steht das Absehen der Bildung von dem Ueber­irdischen und von den dieses vertretenden Mächten der Welt. Immer konzentrirter hält sich die Päda­gogit an das Diesseits, zumal an das Aeußere in ihm, obschon die Führer dieser Pädagogik, ins­besondere Bacon selber, für sich keineswegs ungläubig waren. Und mit dieser Konzentrirung ging Hand in Hand die Dienststellung der Pädagogik gegenüber dem weltlichen Staat, als Seitenstück zu ihrer seiner zeitigen Dienststellung gegenüber der Kirche als der Bertreterin eines Gottesstaates.

"

Die staatsbürgerliche" Nichtung der Pädagogik eines Staatsmannes, wie Bacon es war, beherrscht

" 1

Ganzen als auf das dienende Glied dieses Ganzen ankam. War das Mittelalter sammit seiner Päda­gogit soweit sozial" gesinnt, als es die damaligen firchlich geschlossenen Verhältnisse ergaben, so wurde die Pädagogik von nun an vorläufig, individualistisch": den Einzelnen als solchen möglichst tiichtig zu machen, galt als das Hauptziel der Bildung und die Privat­erziehung gegenüber der Schulerziehung als die be­vorzugte pädagogische Form, ursächlich zusammen­hängend auch mit dem damals( 16. bis 18. Jahrhundert) recht niedrigen Stand des Schulwesens. Von daher stammt auch die bis in unsere Tage herein wohl­bekannte Figur des Hauslehrers, Hofmeisters", Instruktors", ja selbst die noch immer nicht überall überwundene Vorliebe für die private Ausbildung gegenüber der öffentlichen oder wenigstens gemein­samen, die, beiderseits das Beste vorausgesetzt, jener entschieden überlegen ist.

Mit unseren letzten Uebersichten haben wir bereits einige pädagogische Standpunkte des nächsten hier in Betracht kommenden und für weite Strecken der neueren Pädagogik einflußreichsten Mannes angedeutet, des Engländers John Locke ( 1632-1704). Von Bacon ( wahrscheinlich nicht auch von Montaigne) beeinflußt denkt auch er zunächst an die Ausbildung des jungen Edelmannes als eines einzelnen Indivi­duums und will im Allgemeinen ein Musterbild der häuslichen, der Privaterziehung aufstellen, die also für ihn und auch für die nächste Folgezeit über der öffentlichen steht; die entscheidende Persönlichkeit ist dabei der Hausvater. Die Erziehung als solche, die sitliche Bildung, kommt für ihn nun wieder in den Vordergrund; der Grundsatz der Nüßlichkeit ist allerdings auch ihm eigen, und seine Mittel zur Erziehung sind abermals solche des indirekten In­teresses: die Gefühle der Ehre und der Schande sollen die Triebfedern des Zöglings sein. Als Formen des Bildens werden die Gewöhnung, das Beispiel, das erziehende Wort empfohlen und mit letzterem die Macht des Naisonnements", also des verständigen Ueberlegens, als Erziehungsfaktor betont; ausge schlossen wird jedenfalls aller Zwang, und als eine Grundforderung die naturgemäße, freie Entwickelung angestrebt. Ein wesentliches Gewicht leat Locke auf die körperliche Ausbildung, mit dem bekannten Schlagwort vom gefunden Geist im gesunden Körper. Sein Unterrichtsideal entspricht seiner philosophischen Richtung, die ausgeht von den dem Geist zuströmenden sinnlichen Eindriicken, also seinem Sensualismus. Damit war einerseits der Nachtheil einer Vernach lässigung selbstständiger Verstandesthätigkeit und an­dererseits der Vortheil einer Begründung des Unter­richts auf das Anschauliche und einer Bevorzugung der Sache vor dem Wort gegeben.

Hierher gehört auch eine zunächst nicht päda gogische Erscheinung: das wohlbekannte Buch von " Nobinson Crusoe". Die Urform stammt von dem Engländer Defoe aus dem Jahre 1719; zahllose Nachbildungen verbreiteten es über die Welt, darunter hervorragend die spezifisch pädagogisch gefärbte von Campe( 1779). Die Selbstbildung eines völlig isolirten, aus der Kultur in die freie Natur zurück geworfenen Ginzelnen war für die damalige Phantasie und Pädagogik ein erwünschtes Muster.

"

In Deutschland hatte inzwischen die neuzeitliche Einseitigkeit der Verstandesbildung die segensreiche Folge gehabt, daß, wenn schon die Erziehungskunst zurücktreten sollte, doch wenigstens die Lehrkunst als ein ganz eigenes Gebiet gepflegt wurde. So ent faltete sich die moderne Didattit". In einer Zeit tiefen Verfalls des Schulwesens trat im Jahre 1612 Wolfgang Natichins( 1571-1635) mit Reform plänen vor die deutschen Reichsstände. Seine Kritik der bisherigen Verhältnisse, seine Anfündigung einer nenen, allerdings von ihm lieber praktisch zu zeigenden als systematisch zu übermittelnden Lehrmethode( an schließend an Bacon ), seine bereits im Geiste der Zeit liegende Forderung eines Ausgehens von der Sache zum Wort und von der Muttersprache zu den fremden Sprachen so sehr dabei immer noch die Bedeutung des Tertes und seines Memorirens unangetastet blieb verschafften ihm Gehör, und

-

-