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Die bei Berathung des Sozialistengesetzes von allen Seiten versprochenen positiven Maßregein", 3zwar nicht zur Lösung der sozialen Frage, aber doch zur Milderung der sozialen Schäden", glänzten durch Abwesenheit. Das Haftpflichtgesetz und die Frage der Altersversorgungs­tassen gaben zu längeren Debatten Anlaß, die jedoch im Sande verliefen. An der einen betheiligten wir uns, bei der andern hielten wir uns, aus taktischen Gründen, passiv. Die Frage wird den Reichstag   noch weiter beschäftigen. Vermuthlich werden beide Gegenstände in einer der nächsten Sessionen wieder auf die Tagesordnung kommen, und uns Gelegenheit geben, mit einge henden positiven Vorschlägen vor den Reichstag   und das Volk zu treten. Wie schon früher durch das Arbeiterschutzgesetz", wollen wir in der nächsten Session durch ein Arbeiterorga nisationsgefeß den wiederholten Beweis liefern, daß unsere Feinde irren, wenn sie die sozialdemokratische Partei eine Partei der reinen Negation, der wüsten Zerstörung und des allgemeinen Umsturzes nennen, die nicht wisse, was sie wolle. Wir werden zeigen, daß sie positive Vorschläge auszuarbeiten versteht, was unsere Gegner bisher nicht verstanden oder nicht gewollt haben. Vermuthlich das letztere mehr, als das erstere.

Unter den zahlreichen Fragen, welche den Reichstag außerdem beschäftigten, sei noch der Wahlprüfungen und der Wucher­frage gedacht. Zu zwei Wahlprüfungen der Waldenburger und der Offenbach- Duisburger Wahl-, bei denen unsere Partei direkt interesfirt war, erhielten wir das Wort. Daß wir für die Freiheit der Wahl, gegen jegliche Beeinflussung, für eine strenge Untersuchung der vorgekommenen Unregelmäßigkeiten eintraten, bedarf keiner näheren Auseinandersetzung; daß es nußlos geschah, versteht sich von selbst. Bei anderen Wahlprüfungen und in der Wucherfrage gelangten wir trotz aller Bemühungen leider nicht zum Wort. Es gehört ein sehr starker Glaube dazu, um in der Thatsache, daß bei so ziemlich allen prinzipiell bedeutenden Fragen unsere zum Wort gemeldeten Redner ignorirt wurden, ein nedisches Spiel des Zufalls zu erblicken.

Als zu Anfang der Session das Ungebührgeset verworfen ward, steckte der Reichstag dasselbe nicht einfach in den Papier­korb, sondern übergab es, um der Reichsregierung das Peinliche einer Niederlage zu ersparen, der Geschäftsordnungskommission, welche die Sache berathen und seiner Zeit dem Reichstag   Bericht erstatten, geeignete Vorschläge unterbreiten solle. Herr von Forden­bed, welcher das Ungebührgeset mit Recht auch als ein gegen ihn selbst gerichtetes Mißtrauensvotum der Reichsregierung be trachtete, griff kurz darauf eine Gelegenheit vom Zaun, um ad hominem   und ad oculos zu demonstriren, daß die Präsidial­gewalt vollkommen zur Wahrung der Ordnung im Reichstag ausreiche: er entzog in der Belagerungszustandsdebatte einem der sozialistischen   Abgeordneten das Wort, obgleich dieser weder den parlamentarischen Anstand verlegt, noch irgend von der parla­mentarischen Ordnung abgewichen war, wie sogar entschieden geg­nerische Blätter seitdem zugegeben haben. So verübte denn der Präsident von Fordenbeck bei dem Versuche, die Unmöglichkeit eines Attentates auf die parlamentarische Redefreiheit nachzuweisen, selber ein flagrantes Attentat auf die parlamentarische Redefreiheit. Wenige Wochen nachher mußte er den Präsidentenstuhl räumen und durch den halbsymbolischen Akt seiner parlamentarischen Selbstentthronung ben parlamentarischen Selbstmord des National liberalismus zum klassischen Ausdruck bringen. Die Geschäfts­ordnungskommission ist aber mit ihrem Bericht" nicht über die Berathung hinaus gekommen.

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Sollte sie in nächster Session die Unvorsichtigkeit begehen, die Sache wieder aufzuwärmen, so wird sich gewiß nicht zur Zu­friedenheit der Regierung und der Ordnungsparteien- an zahl­reichen Beispielen herausstellen, auf welcher Seite parlamentari scher Anstand herrscht, und nach welcher Seite hin der deutsche Reichstag zu seinem Schuß ein Ungebührgeset" braucht.

Aus dem Gesagten ersehen unsere Genossen, daß wir nicht die Schuld daran tragen, wenn nicht bei allen denjenigen Gelegen: heiten, wo es erwartet werden konnte, ein Vertreter der Partei gesprochen hat. Wir haben unsere Pflicht so gut zu erfüllen versucht, als dies unter den gegebenen Umständen möglich war. Wir haben stets darauf gehalten, bei allen wichtigen Abstim­mungen möglichst vollständig auf dem Posten zu sein. Jeden­falls hat keine der parlamentarischen Fraktionen Ursache uns Vor­würfe zu machen, denn keine Fraktion hat, wenn man die mate­riellen Verhältnisse in Betracht zieht, mehr Schwierigkeiten zu überwinden, als die unsere und oft haben unsere Gegner den Kopf im Stillen geschüttelt, da sie nicht begreifen konnten, woher wir die Mittel für eine fünfmonatliche Session nahmen. Bei der endgültigen Abstimmung über die Zoll- und Steuervorlagen fehlte teiner von uns, und unser einstimmiges Nein, war ficherlich im Sinn und Geiste der Gesammtpartei, wie des, noch nicht für die Sozialdemokratie gewonnenen, unabhängig denkenden Theils der Bevölkerung.

In gegnerischen Blättern hat man uns Vorwürfe gemacht, weil wir in den Sizungen des Reichstags wiederholt gefehlt. Der Vorwurf entbehrt jeder Begründung. Wir sind nicht ge­wählt worden, um im Reichstag   die passive Rolle von Zuschauern und Zuhörern zu spielen, sondern um nach Kräften aktiv in die Debatten einzugreifen und im Interesse der Partei zu wirken. Im Interesse der Partei thätig sein, können wir aber nur bei der Behandlung solcher Fragen, die uns Gelegenheit zur Ver fechtung unserer sozialpolitischen Prinzipien und Weltanschauung geben. Bei untergeordneten Fragen zu reden, bloß um zu reben, wäre weder im Interesse unserer Partei noch ihrer Würde angemessen. Wenn es sich nicht um wichtige Fragen handelte, hatten wir also feinen Grund im Reichstag anwesend zu sein, zumal wir Alle Stellungen haben, die unsere Arbeitskraft vollauf in Anspruch nehmen. Um nicht überrascht zu werden, hatten wir die Anordnung getroffen, daß stets Einer von uns den Sitzungen beiwohnen mußte, der, sobald es sich nöthig erwies, den übri= gen zu telegraphiren hatte.

( Schluß folgt.)

die beiden liberalen Parteien Preußens durch den Ausfall der Landtagswahlen erlitten haben, und die Bedeutung, welche dieses Wahlresultat für die Weiterentwicklung der Reaktion in Preußen und Deutschland   hat, motiviren wohl eine nochmalige Besprechung dieses Themas in unserm Parteiorgan. Um nun den Ausgang der Wahlen und noch manches andere verstehen zu können, wollen wir zunächst einen kurzen Blick auf den Wahlmodus, sowie auf die Geschichte der preußischen Verfassung werfen.

Am 26. Juli 1848 überreichte die Verfassungs- Kommission der zur Vereinbarung einer Verfassung tagenden preußischen National­bersammlung einen Verfassungsentwurf, welcher außer Preßfreiheit, Versammlungsfreiheit, Civilehe, unentgeltlichem Volksschulunterricht, Volkswehr( neben dem stehenden Heere), Ministerverantwortlichkeit und Aufhebung des königlichen Vetos( wenn die Kammern ein Gesetz dreimal angenommen), Wählbarkeit der ersten Kammer durch die Kreisvertretung, Aufhebung der Titel und gleichem kom­munalen Wahlrecht auch die Bestimmung enthielt, daß die Mit­glieder des preußischen Abgeordneten- Hauses in gleicher, ge heimer, indirekter Wahl gewählt werden sollten, welcher indirekter Wahlmodus später in gleiche, geheime, direkte Wahl umgewan­delt werden könnte.

Von bekannten Parlamentariern gehörten zur Verfassungskom. mission Waldeck, welcher den ursprünglichen Entwurf des Ent­wurfs angefertigt, der aber schon in der Kommission stark nach rechts bearbeitet worden war; dann Balzer( Sprecher der freien Gemeinde in Nordhausen  ), Reichensberger und Wachsmuth. Indeß war auch dieser Verfassungsentwurf der Regierung noch viel zu roth, ebenso wie die ganze Nationalversammlung selbst( obgleich die Nationalliberalen im heutigen Sinne darin ausschlaggebend waren), weshalb die Versammlung mit Waffengewalt auseinander getrieben und eine Verfassung oktroirt wurde. Aber selbst diese oftroirte Verfassung war der Regierung bald noch zu freisinnig und wurde sie deshalb noch mehrere Male revidirt".

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Von den oben genannten Volksrechten war aber selbstverständ­lich bereits in dem von der Regierung eingebrachten Entwurf jebe Spur ausgemerzt. Das Meisterstück des Ministerium Man­ teuffel   in Bezug auf die gewährte Scheinkonstitution war aber nächst der ersten Kammer mit ihren vom König ernannten Mit­gliedern ohne Zweifel das für die Wahl der Abgeordneten der zweiten Kammer hinfort giltige Dreiklassenwahlsystem. Ein Beispiel wird dieses schlechteste aller Wahlsysteme"( wie Bismard es zur Konfliktzeit nannte, als es nicht in seinem Sinne arbeitete) klar machen. Ein Kreis mit einer Einwohnerzahl von ca. 100,000 Einwohnern bildet einen Wahlkreis, welcher zwei Abgeordnete wählt. Nehmen wir an, dieser Wahlkreis brächte an direkten Steuern: Klassen und Gewerbesteuer, Grund- und Gebäudesteuer 100,000 Thaler jährlich ein, so werden die Wähler ( männlichen Einwohner über 24 Jahren) folgendermaßen in drei Klassen getheilt:

Erste Klasse: Diejenigen, welche die meisten Steuern bezahlen, so weit dieselben zusammen ein Dritttheil der Gesammtsteuer( also hier 33,333, Thaler) ausmachen- also von ca. 20,000 Wahl­berechtigten eines Landtagswahlkreises erfahrungsmäßig etwa ein 3wanzigstel, das sind 1000 Wähler.

Zweite Klasse: Diejenigen, welche danach die meisten Steuern bis zum zweiten Dritttheil der Gesammtsumme bezahlen, etwa ein Fünftel, also 4000 Wähler.

Die dritte Klasse bildet der übrige Rest von 15,000 Wählern.

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Der Wahlkreis wird nun in einzelne kleine Bezirke von 1500 Einwohnern zerschnitten, und die darin wohnenden zirka 300 Wähler 3. Klasse wählen zwei Wahlmänner, indem jeder einzelne Wähler vor den Wahlvorstand, bestehend aus Stadträthen und Fabrikanten, resp. Gutsbesißern, Schulzen und Großbauern, hintritt und die beiden Wahlmänner laut nennt. Dann wählt die zweite Klasse etwa 20-30 Urwähler- ebenfalls auf dieselbe Weise zwei Wahlmänner. Und schließlich die etwa 2-4 Wähler 1. Klasse ebenfalls zwei Wahlmänner; nicht selten ist aber auch nur ein einziger Wähler 1. Klasse im Bezirk. Jck wähle mir und meinen Bruder," spricht nicht selten dieser mit der bekannten klassischen Rebensart, und beide sind Wahlmänner. Die Wahlmänner kommen dann alle zusammen und wählen eben­falls öffentlich vor dem Herrn Landrath   als Wahltommissär die zwei Abgeordneten.

Die achtundvierziger Demokraten erklärten das ganze Wahl­system für ein Narrenspiel und enthielten sich der Wahl bis zur Zeit des Regierungsantrittes des derzeitigen Kaisers, Anfangs der sechziger Jahre. Die liberale Partei trat damals dem Ministe rium Bismard energisch entgegen, wobei sie das Volk hinter sich fühlte. Jede Kammerauflösung erhöhte und stärkte nur die ent schiedene Opposition. Hierdurch wurde Bismard dem Dreiklassen­wahlsystem gram und er versuchte es deshalb auf Anrathen Lassalle's mit dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht zum Reichstage. Die Liberalen sahen dem Experimente ängstlich zu, wie denn die liberale Magdeb. 3tg." Bismarck   erst noch kürzlich den Vorwurf machte, gegen den Willen der Liberalen das allgemeine gleiche Wahlrecht eingeführt und damit der Sozial­demokratie Thür und Thor geöffnet zu haben. Die liberalen Par­teien haben das allgemeine gleiche Wahlrecht stets gehaßt und gefürchtet, und wenn Bismard neuerdings dasselbe abzuschaffen beschlossen hätte, würde er die große Mehrheit der Liberalen  " auf seiner Seite gehabt haben. Denn dieser Partei ist es trotz aller hochtrabenden Phrasen nie um des Volkes Wohl zu thun gewesen, sondern war ihr stets nur ihr eigenes Partei- und Klasseninteresse maßgebend.

War es also verwunderlich, daß die Liberalen, wenn sie sahen, daß das Dreiklassenwahlsystem für sie arbeitete, dieses dem all­gemeinen gleichen Wahlrecht vorzogen? Das ungerechte, auf Bildung und Befit gar keine Rücksicht nehmende" allgemeine gleiche Wahlrecht war ihnen zufolge ja Schuld an ihrer Nieder­lage bei den letzten Reichstagswahlen. Und dem äußern An­scheine nach war dies auch der Fall, denn während im letzten preußischen Landtage 251 Liberale und Fortschrittler, 106 Zentrumsleute( und Polen  ) und 76 Konservative( und Frei tonservative) saßen, war das Parteiverhältniß in dem aufge

Die preußischen Landtagswahlen und ihre lösten Reichstage, welcher ungefähr zu derselben Zeit gewählt Bedeutung für die Sozialdemokratie.

He. Aus der Provinz Sachsen  , 14. Oktober. Der uner: hörte, selbst die pessimistischesten Erwartungen und auch die Hoff­nungen der Reaktion noch weit übertreffende Schlag, welchen

war, ein wesentlich anderes, indem sich in demselben neben 12 Sozialdemokraten, 13 Demokraten und Angehörigen ver­schiedener Protestparteien, 112 Zentrumsleuten( und Polen  ) und 80 Konservativen nur 183 Liberale( inkl. Autonomisten und Fraktion Löwe) und Fortschrittler befanden. Während also die

Liberalen im Landtage allein dominirten, bildeten sie im Reichs­tage für sich allein gegen die andern Parteien die Minderheit.

Als nun gar die Auflösung des Reichstages nach den Atten­taten erfolgte und die Liberalen an die Wand gedrückt" wurden, war die Verzweiflung über das gleiche Wahlrecht im liberalen Lager groß; und sie schrieen nach den Fleischtöpfen Aegyptens  , dem Dreiklassenwahlsystem mit offener Stimmabgabe. Das Drei­Klassenwahlsystem wurde daher von den Liberalen stets nach Kräften konservirt.

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Von Manteuffel seiner Zeit in die preußische Städteordnung eingeschoben, wurde auch die preußische Kreisordnung auf dies System aufgebaut. Großgrundbesitzer, Magistrate und Dorf schaften wählen die Kreisvertretung und diese die Provinzialland­tage das schönste Filtrirsystem, das man sich denken kann. Gerade diese von den Liberalen, ausgebaute" Kreisordnung aber trug nebst der ganzen politischen Haltung des preußischen Libe­ralismus mit am meisten zu dessen eben erfolgter schmählicher Niederlage bei. Denn man kann sich denken, daß die Ritterguts­befizer in Folge der ihnen vom Abgeordnetenhaus bewilligten dominirenden Stellung alle Lasten von sich ab- und auf die Dorfschaften wälzten, welche durch Chausseebauten, Schul- und Armensteuern übermäßig in Anspruch genommen werden, während ihnen der bei der Lastenvertheilung frei ausgehende Gutsbesitzer die Chauffee entzweifährt, die Arbeiter ausquetscht und die In­validen der Arbeit den Ortschaften zur Erhaltung zuschiebt.

Solche Zustände, für welche das Kleinbürgerthum mit Recht den Liberalismus verantwortlich machte, bewirkten, daß sich der früher liberale Kleinbauernstand vom Liberalismus, der ihm so viel versprochen und so wenig gehalten hatte, und unter dessen Herrschaft es nur immer schlechter geworden war, allmälig immer mehr und schließlich gänzlich abwendete. Außerdem erkannte das Volk schließlich die Ohnmacht des Liberalismus gegenüber der Regierung und besonders gegenüber dem allmächtigen Reichs­tanzler. Es ward der immerwährenden großspurigen Anläufe und steten jammervollen Rüdzüge müde. Und da es stets nur Einen als Sieger sah, den es zudem von ganz Europa   gefürchtet weiß und der ihm als Freund des Bauern und fleinen Mannes" geschildert wird- war es da zu verwundern, daß sich ein großer Theil desselben, als die berühmte Parole Für oder gegen Bis­mard" ausgegeben wurde, für die erstere Alternative entschied und sich der Regierung und den ihr genehmen Konservativen zu­wendete? Schlechter als die Liberalen konnten's die ja auch nicht machen. Der einsichtigere Theil des Volkes aber betheiligte sich aus Ueberbruß an der unfruchtbaren Wählerei, und da ihm wirk lich freigesinnte und für des Volkes Wohl nicht nur mit Worten, sondern auch mit Thaten eintretende Vertrauensmänner fehlten, einfach gar nicht an den Wahlen. Vielfach wählten nicht 5% der Wahlberechtigten!

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Das Resultat war denn auch dementsprechend. Landrath  , Gutsherr, Inspektor, Schulze und Pfarrer wählten, und der Bruder Bauer" wurde an die Wahlurne hinkommandirt. Welche Wirkung all diese zusammenwirkenden Umstände erzielten, zeigt am besten die nachfolgende Zusammenstellung. Es wurden ge­wählt: Fortschr. Nat.- Lib. 3entr. u. Polen Freikons. Kons. 185 106 34 111 114 47

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in den vorigen Landtag: 66 "... jeßigen Demnach hat die Fortschrittspartei fast die Hälfte, die na­tionalliberale aber so ziemlich ein Drittel der bisherigen Sitze verloren, während die Konservativen ihre Zahl gerade verbrei facht haben! Einen solchen Denkzettel hat der Liberalismus bei dem Dreiklassenwahlsystem in Preußen seit zwanzig Jahren noch niemals erhalten.

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Und aus welchen Elementen ist diese neue Volksvertretung" zusammengesett! Nicht weniger als 147( gegen 86 im vorigen Landtag), also mehr als ein Drittel der Abgeordneten gehören zum Adel, 102 sind Ritterguts- und sonstige Großgutsbesitzer, 42 Landräthe, 38 höhere richterliche Beamte, 21 Pfaffen, 17 Fabrikanten, 4 aktive und 4 gewesene Minister, 11 Advo­taten, 6 Professoren und ein ganzes Rudel von höheren und niedrigeren Staatsbeamten: Staatsanwälte, Kreishauptmänner, Amtmänner, Gesandte, Bergräthe, Zuchthausdirektoren 2c. 2c. Die würdige Krönung des Gebäudes aber soll dadurch erzielt werden, daß man einen Aberpräsidenten( v. Achenbach) zum Präsidenten des Landtags ernennt! Wer da den Nutzen der Volksvertretungen, als Gegengewicht gegen die sonst übermächtigen Regierungen, nicht einsieht, an dem ist wahrlich Hopfen und Malz verloren.

Kommen wir nun zum Schlusse zu der Frage: Welches In­tereffe hat die ganze Angelegenheit für unsere Partei, welche sich doch bei diesen preußischen Landtagswahlen, wie bekannt, grund­fäßlich gar nicht betheiligte?

Zuerst hat der bisher herrschende Liberalismus die beachtungs­werthe Lehre empfangen, daß er sich durch seine beständige Nach­giebigkeit bei der Masse des Volkes unmöglich gemacht hat. Ferner ist das Vertrauen der liberalen Führer auf ihre Machtbeständig­keit durch das Dreiklassenwahlsystem vollständig zu Schanden ge worden und scheint in Folge dessen die dringendste Gefahr für bas allgemeine gleiche Wahlrecht denn diese war thatsächlich vorhanden beseitigt. Denn der Liberalismus ist plötzlich anderen Sinnes geworden und erhofft von dem früher mit scheelen Augen betrachteten allgemeinen gleichen Wahlrecht seine Rettung; die Ultramontanen aber werden kaum je zu dessen Aufhebung mithelfen, da ihre größte Macht die blinde Masse des Volkes ist. Was aber die Hauptsache ist: die Kleinbürger und vorzüglich auch die Kleinbauern sind vom Liberalismus voll­ständig kurirt. Daß sie sich zum großen Theil augenblick: lich den Konservativen in die Arme geworfen haben, kommt nicht allzusehr in Betracht, da ihnen die Augen auch hier bald genug aufgehen und sie sehen werden, daß sie von diesen ebensowenig als von ihren frühern Stimmführern Rettung zu erwarten haben. Und wenn sie zu dieser Ueberzeugung gekommen sind was werden sie dann thun? Es gibt keine wirkliche Volkspartei als die Sozialdemokratie, und sie allein wird deshalb einen dauernden Gewinn aus der jetzigen Lage ziehen, wenn sie es versteht, sich dem bisher ihrem Einfluß größtentheils gänzlich ferne gebliebenen Kleinbauernthum zu nähern und ihm in seiner Sprache flar zu machen, wie es, gleich dem ganzen arbeitenden Volt, von ihr allein Hülfe und Rettung zu erwarten hat.

Hier ist ein dankbarer Ader für die sozialistische Agitation, und wenn auch seine Bepflügung nicht mühelos ist, so ist doch eine reiche Ernte sicher. Denn der Zutritt der Agrikulturbevöl ferung müßte unserer Partei einen niegesehenen Aufschwung geben.