Aber das Jahr 1848 hatte die alte Polizeiherrschaft nicht vernichtet. Sie hatte die Flucht ergriffen vor der hellen Sonne des Märzes; sie kam wieder, in die Nebel des November gehüllt. War es einer solchen Macht zuzutrauen, daß sie vor den Verfassungseiden Halt machen würde, welche die deutschen   Fürsten   dem Volke geschworen, wie die Revolution Halt gemacht hatte vor den Thronen der Fürsten  ? Daß sie neben oder über sich ein Gesetz dulden würde, welches ihren Willen einschränkte, das hieße ihr zumuthen, ihr eigenes Wesen aufzugeben, sich wie ein japanesischer Hofschranze den Bauch aufzuschlitzen, weil sie durch die Revolution so arg gekränkt worden. Nein, die Polizei war geblieben, was sie gewesen, sie war wiedergekommen, auf innigste verquickt mit der Reaktion, mit dem Programm in der Tasche: Die Rache ist mein und ich will vergelten! Auflösung der Nationalversammlung, oftroirte Verfassung, Ministerium Brandenburg­Manteuffel, Polizeipräsidium Hinkeldey das war die Inhaltsanzeige vom Monat November 1848 nur acht Monate nach der glorreichen Märzrevolution!!

In der That: eine gar verführerische Zeit für polizeiliche Orgie war angebrochen. Die Reaktion fühlte sich jetzt mächtig genug, Recht und Gesetz verachten zu können; siegestrunken nahm sie die Larve von dem Gesichte weg und zeigte der Welt offen, wie man Verfassungseide bricht, wie man den Rechtsboden durchlöchert, wie man einem gemißhandelten Volke höhnend die zerrissene Úrkunde seiner Rechte ins Gesicht wirft. Natürlich, daß die reaktionäre Gesinnungs- und Tendenzpolizei mit einem an den Fanatismus der Inquisitions tribunale   erinnernden Eifer Alles verfolgte, was sich des konstitutionellen Widerstrebens gegen das Dogma des Königthums von Gottes Gnaden schuldig oder verdächtig gemacht. Natürlich auch, daß Polizer und Reaktion in der Anwendung ihrer Mittel ebensowenig gewissenhaft als efel waren: an Alle, welche ihr mit Eifer dienten, theilte sie Ablaßzettel aus für begangene und noch zu be­gehende Sünden. Der Zweck heiligte die Polizei.

Besondern Beistand leistete der Polizei die Kreuzzeitungspartei, u. a. der General Leopold v. Gerlach, Regierungspräsident Peters, Postsekretär Gödsche, Pierzig u. a. Die Verfolgungen begannen: Zeitungsverbote, Konfistationen, Ausweisungen, unzählige Verhaftungen, die meistens hochgestellte Männer trafen von Anderem hörte und las man nicht mehr. Die Ordnung der Dinge hatte sich buchstäblich umgekehrt. Man scheute vor keiner Gewaltthat, vor keiner Schandthat zurück, mochte sie auch noch so zynisch sein. Friedliche Staatsbürger wurden von Polizei häschern mißhandelt, ehrenhafte Männer unter die Ueberwachung von Observanten( Spigeln) gestellt. Die Allmacht jener Rotte reichte so weit, daß sie selbst den Thronfolger Preußens den jezigen deutschen   Kaiser, wegen seiner des Konstitutionalismus(!!) verdächtigen Gesinnungen unter die Aufsicht eines vielfältig bestraften Zuchthäuslers, Emil Lindenberg, stellen fonnten. Man kann nie genug und nie besser als gerade jetzt an diese Thatsache erinnern. Wir kommen auf den berüchtigten Lindenberg  , den Freund des Generals v. Gerlach und des Regie­rungspräsidenten Peters, noch zurück.

( Schluß folgt.)

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Sozialpolitische Rundschau.

Deutschland  .

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* So ist denn die Gauklerbude in der Leipzigerstraße wieder zugemacht, und all die Scheinherrlichkeit hat ein Ende, bis es dem Meister gefällt, dem gaffenden Volk durch die Parlaments. kunststückchen abermals Maul und Geldbeutel zu öffnen. In dessen haben die letzten Tage doch noch manches interessante Schaustück gebracht. Vor allem den dritten und letzten Akt des neuen Sozilisten gesezes. Nicht etwa, daß sich viele Redner verschiedener Parteien an der Berathung betheiligt hätten war die Sache doch bereits thatsächlich entschieden und han­delte es sich nur darum, ihr den herkömmlichen Abschluß zu geben so wie sich in einem rechtschaffenen Lustspiel schließlich immer doch kriegen", gleichviel was vorangegangen. Doch das Interesse der Verhandlung litt durch die geringe Zahl der Redner teineswegs, konzentrirte sich aber fast ausschließlich auf den Redner der Sozialdemokraten und seine Ausführungen.

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Gen. Liebknecht wies zu Eingang auf den glänzenden sozialistischen   Wahlsieg in Hamburg   als eine Frucht des Sozia­listengesetzes hin, auf dessen Entstehung er dann noch einmal zurückging. Hiebei kam er auch auf den bekannten, vom So­zialdemokrat" beröffentlichten Brief des Dr. Lewin über Nobiling zurück, den kein deutsches Blatt im Wortlaut zu beröffentlichen gewagt hatte. Er begann denselben zu verlesen, wurde aber von dem, loyalen" Präsidenten an der Beendigung der Verlesung gehindert, worauf er eine kurze Zusammenfassung des Briefes gab, die denselben Dienst leistete und den Minister Eulen­xburg später zu einem ſauren Geständniß zwang. Während nämlich die berufsmäßige Lügnerin, Bismarcks Leibblatt Nord­deutsche Allgemeine 3tg.", sofort nach Veröffentlichung des Briefes durch uns die freche Stirn hatte, den Brief wiederholt eine " schamlose Fälschung" zu nennen, mußte der Minister schwer es ihm auch ankam und so gewunden er es that Aechtheit des Briefes zugestehen, machte seinem Aerger über diese Nothwendigkeit jedoch dadurch Luft, daß er behauptete, der Brief sei auf unrechtmäßige Weise" in unsere Hände ge tommen. Die jetzige Regierung, für welche der organisirte Brief diebstahl eines der unentbehrlichsten Regierungsmittel bilbet, die uns Sozialisten hunderte von Briefen stiehlt, wirft den Bestoh­lenen Unehrlichkeit vor! Die alte Diebsmanier: Haltet den Dieb, schreit bei einem Diebstahl der Stehler am lautesten, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Liebknecht   erklärte denn auch, daß der Lewin'sche Brief jedenfalls auf rechtmäßigere Weise in unsern Besitz gekommen sei, als unsere in die anderer Leute.

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Eine zweite durch Liebknechts Rede hervorgerufene Episode von hohem Interesse war die Angelegenheit des Wormser Abgeordneten Heyl, dem Liebknecht   vorwarf, daß er eine Rede unseres Gen. Oppenheimer nach dem Attentat hatte steno graphiren lassen, um sie dem Staatsanwalt zu denun­ziren! Als Liebknecht über diese ehrlose Handlungsweise ein Pfui rief, wurde er zur Ordnung" gerufen, weil er sie nicht erwiesen" habe. Gleich darnach aber mußte Abg. Heyl seine Schande selbst eingestehen. Und solche Buben nennen sich Volksver treter! Jm weitern Verlauf seiner einschlagenden Rede warnte Liebknecht die Gegner vor den Folgen ihres jezigen Unterdrückungs­Wenn Sie das Gesetz systems und schloß mit den Worten: verlängern, so werden Ihre Anstrengungen entweder pro nihilo ( für nichts) sein, oder sollten dieselben Erfolg haben, so arbeiten Sie pro nihilisimo( für den Nihilismus, die gewaltsame Re­volution)"!

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Von den übrigen Rednern ist nur wenig zu melden. Der Ultramontane Heeremann, der gegen das Gesez sprach, fand die einzige Hilfe gegen den Sozialismus in der Religion. Ohne fie, rief er, ohne die Jdee einer Bergeltung im anderen Leben, einer ausgleichenden Gerechtigkeit, gliche die Welt mit ihren un­vermittelten Gegenfäßen des größten Reichthums und des tiefsten Pauperismus einem Tollhaus, und es wäre Niemandem zu ver

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benken, wenn er die Ansprüche auf gleiche Genüsse wie jeder Andere erhebt." Da nun aber die ausgleichende, göttliche Ge­rechtigkeit" ein Ammenmärchen ist, so der Schluß ist leicht. Der Fortschrittler Günther bezeichnete das Gesetz fälsch­lich als eine Schlafkappe für das deutsche Volt, während es doch eine solche nur für die deutsche Bourgeoisie ist; der Ultramon­tane Ballestrem, der mit einer Minorität für das Gesetz stimmte, verglich es mit einem Betäubungsmittel, dessen zu schnelle Ab­gewöhnung schaden könnte! Zuletzt sagte auch noch der Minister Eulenburg sein Sprüchlein, das weiter nichts Bemerkenswerthes bot, als die Bestätigung, daß von den s. 3. viel gerühmten po­sitiven" Vorschlägen zur Lösung der sozialen Frage zunächst nichts zu erwarten sei, sondern daß man es bei der Wilhelmsspende bewenden lasse! Schließlich klagte der Mann noch, daß die So­zialisten auf das Gesetz nur mit Hohn und Spott geantwortet hätten, was doch nicht die richtige Antwort sei. Wir glauben nun gerade, daß es, neben der planmäßigen Unterminirung der ganzen Sozialistengesetz- Gesellschaft, keine bessere gibt. Schließ lich wurde natürlich das Gesetz" angenommen; es wird uns so wenig Schaden thun, als das erste und haben wir uns des­halb wenig darum zu kümmern.

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Die weitere Entwicklung der die ganze deutsche Bourgeoisie gewaltig aufregende Hamburger Frage hat zu einem Knall­Effekt geführt. Nachdem der grollende Jupiter Varzinius in einem seiner Bierkonventikel schon seiner schlechten Laune freien Lauf gelassen, erschien er plößlich im Reichstage, setzte sich in die bekannte protige Pofitur und sagte den Herrn Volksvertretern auf's gründlichste seine Meinung, sich über ihre angebliche Dis­ziplinlosigkeit beschwerend, um schließlich den Wehmüthigen zu spielen, von, Todtmüthigkeit" zu sprechen und dem erschreckten Reichstag auf's Neue das Gespenst seiner Abbankung näher und drohender denn je vor die Augen zu zaubern. Vielleicht zum letten Mal spreche er vom Ministertisch zum Reichstag, denn er fühle das Bedürfniß nach beschaulicher Einsamkeit und er könne nicht mehr mitthun, wenn jeder sich berufen fühle, die Grund­lage des Reiches in Frage zu ziehen,( d. h. Bismarck   zu wider sprechen) u. f. f. Natürlich verfehlte das Schauspielerstückchen nicht seine Wirkung, und als schließlich noch Bennigsen eigens zur Anbahnung einer Versöhnung angereist kam, und der schlaue Windthorst, der die Umstände seiner Wettbewerbung günstig hält, dem Kanzler eine goldene Brücke baute, da schmolz die li­da schmolz die li­berale Oppofitionsbutter unter der Maiensonne bedenklich zusam­men, und die Haupt- und Staatsaffaire endete vorläufig mit einem Kompromißchen. Der Reichstag   sagt zur Elbvorlage we­der Nein noch Ja( die Sache wird an die Kommission zurück verwiesen und damit vertagt) und Bismarck   gibt scheinbar seine Feindseligkeit gegen die Hansestadt auf. Allzugroß ist sein Er­folg freilich um so weniger, als er mit dem unwürdigen Rühr­stückchen seinen letzten Trumpf ausspielte. Ohne Zweifel ist die Situation eine sehr verfahrene, und Unzufriedenheit, Verwirrung und Zersetzung auf allen Ecken und Enden. Es gibt keine Par­tei, die an diesen unerquicklichen Dingen nicht mehr oder minder betheiligt ist; nur die Sozialdemokratie geht's nichts an- hat sie doch ihre Freude d'ran!

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Ueber die Einkommenverhältnisse in Preußen 1872-1878 hat Prof. Seetbeer fürzlich in einem Buch ( Umfang und Vertheilung des Volkseinkommens im Preuß. Staate") Untersuchungen angestellt, welche zwar keineswegs be­sonders eindringende genannt werden können, aber immerhin manches Beachtenswerthe bieten. Das gesammte Volkseinkommen. in Preußen wird für das Jahr 1872 auf nahe an 7 Milliarden Mark geschätzt, während dasselbe im Jahre 1878 bereits 8 Mil­liarden Mark überstiegen haben soll. Die Richtigkeit dieser lezz­teren Angabe vorausgeseßt, könnte es demnach scheinen, als ob trotz des Nothstandes die Einkommensverhältnisse der Bevölkerung sich gebessert hätten, indeß weiß jedermann im Volke, daß das gerade Gegentheil der Fall ist. Die Gründe für diesen schein­baren Widerspruch von Thatsachen und Erhebungen liegen vor allem in dem Umstand, daß sich infolge der zunehmenden Kapital Konzentration wohl das Einkommen der oberen Zehntausend" vermehrt, das des Volkes aber vermindert hat. Ferner ist zu berücksichtigen, daß gerade in den letzten Jahren die Steuer­schraube sehr start angezogen worden ist und vielfach Einkommen mit ihrem ganzen Betrage zur Steuer herangezogen worden sind, welche früher nur mit einem Theilbetrage in den Listen figurirten. u. a. m. Was die Entwickelung der Einkommensverhältnisse in den einzelnen Volksschichten betrifft, so unterscheidet Soetbeer: dürftige Einkommen bis zu Mr. 525, sodann kleine Einkommen mr. 525-2000, mäßige Einkommen 2000-6000 m., mittlere Einkommen 6000 20,000 Mt., große Einkommen 20,000- 100,000 r., endlich sehr große Einkommen über 100,000 Mt. Von diesen Gruppen zeigen den relativ größten Zuwachs an Einkommen die mäßigen 2000-6000 Mt. und die mittleren 6000-20,000 Mt. Einkommen. Ein anderes Bild gewinnt man von der Entwickelung der dürftigen und kleinen Einkommen. Die kleinen Einkommen von Mt. 525 bis Mt. 2000, welche das Gros der Bevölkerung umfassen, sind in den letzten Jahren ziemlich stationär geblieben und die dürftigen Einkommen bis Mt. 515 haben sich stärker vermehrt, so daß eine Verschlechterung der Situation der arbeitenden Klassen und des kleineren Mittelstandes nicht wohl geleugnet werden kann!

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Die verschiedenen Gruppen betheiligten sich am Gesammtein­kommen 1878 in folgender Weise:

Dürftige Einkommen bis zu 525 Mt. 3,506,423 1,402,570,000 Kleine 4,816,833 4,417,294,000 Mäßige Mittlere Große Sehr große

525-2000

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2000-6000

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6000-20,000

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20,000 100,000

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396,895 1,265,592,800 61,972 593,215,700 7,671 289,394,200 491 über 100,000 101,770,000 zusammen Mt. 8,790,285 8,069,837,300 Demnach haben also weit über 31%, Millionen unter 525 Mr., ein Einkommen, das wohl nur schönrednerisch ein dürftiges" genannt werden kann, in der That aber die blanke Armuth und das lautere Elend ist. Denn jene 525 Mt. Höchstbetrag stellen selbstverständlich nicht das Einkommen eines Einzelnen dar- obwohl auch das schon gering genug wäre, sondern an ihnen parti­zipirt die ganze Familie, Frauen, Kinder, arbeitsunfähige Eltern u. f. w. Und wie groß die Familien gerade bei den Armen zu sein pflegen, ist bekannt; 4, 6, 8 Kinder sind gerade bei den Aermsten der Armen, den sächsischen und schlesischen Webern z. B.

keine Seltenheit. Jedenfalls ist eine Durchschnittszahl der von jenem höchst en Einkommen der untersten Steuerklasse zu er­nährenden Angehörigen des Steuerzahlers von erwachsenen drei Personen weit eher zu niedrig als zu hoch angenommen, und es ergibt sich sonach als durchschnittliches Höchstein­tommen von fast zwei Fünftel des preußischen Volkes ein Einkommen von 175 Mt. jährlich oder noch nicht eine halbe Mark täglich, d. h. zwei Fünf­theile des preußischen Volkes lebt in ununterbrochener Sorge um den unentbehrlichsten Lebensunterhalt, in Armuth, in verschwie­gener Noth oder offenem tiefsten Elend!

Aber auch die Besitzer der kleinen Einkommen" sind in ihrer Mehrzahl zu den dürftigen zu rechnen. Da der Einkommen um so weniger werden, je mehr sie wachsen, so ist das Durchschnitts­einkommen dieser Steuerklasse mit 1260 mt. entschieden bei weitem zu hoch berechnet. Aber auch diesen Betrag zugelassen, so ergibt das nur ungefähr 420 Mr. jährlich oder Mt. 1.18 täglich auf die Person. Und selbst bei 2000 Mt. stellt sich das Einkommen für die Person erst auf 666 Mt. jährlich oder 1.80 Mt. täglich. Wie man also die Sache auch wenden mag, so steht zahlenmäßig fest, daß von 8,790,285 Steuerzahlern und ihren Angehörigen volle 8,323,256, d. h. 94 Prozent der ganzen Bevölkerung sich in einer mehr oder minder ärmlichen Lage befinden! Es hat somit an der Erhaltung der heutigen Ordnung" lediglich die Handvoll von 6 Prozent der Bevölkerung ein Interesse und man begreift leicht, daß diese herrschende Klasse alles daran sezen muß, um jene 94 Prozent, das arbeitende, gedrückte und nothleidende Volk nicht durch die sozialdemokratische Propaganda zum Bewußtsein seiner Lage kommen zu lassen. Freilich werden alle diese Mittel auf die Dauer nichts helfen und die aufgeklärten 94 Prozent werden dann wissen, was sie zu thun haben!

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Herrn Dr. Mar Hirsch ist es dieser Tage schlimm er­gangen. Er wollte in Leipzig   vor einer öffentlichen Versamm­lung den Segen seiner Gewerkvereine darlegen, kam indessen nicht dazu, da in der zum weitaus größten Theil aus Sozial­demokraten bestehenden Versammlung solche Unruhe herrschte, daß die Versammlung geschlossen werden mußte, ehe Hirschchen daran kam. Die Bourgeoispreffe macht ein großes Aufhebens von der Wir angeblichen" Sprengung" durch die Sozialdemokraten. wissen nicht, was daran ist; aber wir können uns mit der Taktik, den Leuten, welche uns den Mund versperren, ebenfalls das Sprechen unmöglich zu machen, nur vollkommen einver= standen erklären.

W. Berlin  , 30. April. Es wurde mir mitgetheilt, daß Gastwirth Schicke, der in dem Prozeß der 16 Genossen figurirt, im Sozialdemo­frat" als der Spionage verdächtig bezeichnet ist. Meiner begründeten Ansicht nach ist dem Manne Unrecht geschehen. Obwohl nicht zur Partei gehörig, hat er sich in dieser Prozeßangelegenheit als ein achtungswerther Mann bewiesen, und war jene Verdächtigung eine übereilte. Welch eigenthümliche Kombinationen die Kriminalpolizei bisweilen macht in ihrem Kampfe gegen die Sozialdemokratie, beweist folgender eklatanter Fall: Eine Kiste mit Sozialdemokraten" fiel mit einem Züricher   Briefe der Polizei in die Hände, Dank verschiedener Zufälle". Dieser Brief war adressirt an Windelmann"; wer ist und wo steckt dieser gefährliche Mensch? In einem Lustspiele, das einst in heiterer Gesellschaft aufgeführt wurde, trägt eine der handelnden Personen diesen Namen und derselbe übertrug sich auf einen Genossen, au dessen Adresse der Brief gerichtet war. Die Polizei aber sucht und entdeckt eine große Aehnlichkeit dieses Namens mit dem Namen Kindermann! Und sofort wird der unglück­liche Träger desselben, ein Zigarrenarbeiter, ausgewiesen. So ist wieder eine Eristenz vernichtet, eine Familie dem Elend preisgegeben, ohne daß auch nur ein Schein von ungesetzlicher" Handlung vorlag.

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Z. Ratibor, 2. Mai. Der Nothstand ist offiziell" beendet. Die Suppenanstalten sind geschlossen; man weist die Hungrigen auf die Noth standsarbeiten", d. h. Wegebauten, bei denen der Arbeiter, wenn er sich den ganzen Tag müde rackert, höchstens 60 Pfg. verdient. Mag sie hun­gern die Kanaille; jetzt ist es ja warm, da erzeugt sich nicht so leicht der Typhus! Denn nur aus Furcht vor diesem unheimlichen Gaste wurde in der halben Welt herumgebettelt; und von den Hunderttausenden, als Nothstandsgaben für Oberschlesien   eingingen, warf man dem Hung­rigen einen Knochen vor, damit er nicht auf der Stelle verhungere und ansteckende Krankheiten erzeuge. Hätte es doch der Typhus ja auch ge­legentlich mit einem zufrieden lächelnden Bourgeois oder einem feisten Pfaffen oder gar mit einem faullenzenden Tagediebe von adeligen Aristo­fraten, die hier vorzüglich wie Giftpflanzen wuchern, versuchen können! Wie die Sammelgelder sowie die Unmassen von Kleidungsstücken, Na­turalien u. s. w. vertheilt worden sind, hat der Sozialdemokrat" schon erörtert. Von den Landräthen wurden die Gaben den Gemeindevorstehern auf den Dörfern überwiesen. Diese haben die Gaben zuerst an sich und ihre Verwandten, dann an einige Grundbesitzer vertheilt. Die Armen wurden täglich mit einem Liter Suppe abgespeist. In den Städten ha­ben es die verschämten Armen" bekommen. Wer sind nun aber die ,, verschämten Armen"? Nun, größten theils solche, die nicht arbeiten wollen, die durch eigene Schuld arm geworden sind, und doch vor der Deffentlichkeit um keinen Preis als Arme gelten wollen. Man braucht seine Armuth wohl nicht öffentlich zur Schau tragen; aber der Arme, der ohne seine Schuld arm geboren und trotz redlicher Arbeit.arm ge­blieben oder geworden ist, braucht sich seiner Armuth durchaus nicht zu schämen. Hier am Orte pfeiffen es die Spatzen von den Dächern, die feineren Würste, Zucker, Kaffee und feinere Kleidungsstücke, welches alles in Menge einging, vertheilt worden sind; kein wirklich Armer hat etwas davon erhalten. Doch genug davon. Es ist das alte Lied wie bei allen früheren Nothständen, und die Bourgeoisgesellschaft wird es faum jemals anders machen. Die allgemeine Haussuchungsepidemie hatte sich infolge des berüchtigten Mühlhausener Briefdiebstahls auch hie­her erstreckt. Am 18. März wurde wiederum bei zwei hiesigen offiziell bekannten Genoffen nach dem Sozialdemokrat" gehaussucht. Bei dem einen wurde nichts, bei dem andern einige einzelne Exemplare von Bro­schüren und ein Exemplar des Sozialdemokrat" gefunden und auch mit­

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genommen. Bei letzterem Genossen wurde außerdem noch ein von einem jetzt auf der Wanderschaft befindlichen Genossen zurückgelassener Koffer vorgefunden. In diesem Koffer glaubte man nun das Corpus delicti zu finden, zumal der Koffer demselben Adressaten gehörte, an den der Brief von Mühlhausen   gerichtet war. Also wurde der Koffer versiegelt und nach einigen Tagen geöffnet; es wurden jedoch nur einzelne Erem­plare von Broschüren gefunden. Selbstverständlich wurden sie mitge nommen, um ebenfalls zur Staatsanwaltschaft zu wandern, wurden aber nach einigen Wochen von dieser den Eigenthümern durch die Polizei wie­Bemerkt muß werden, der zugestellt. Es war wieder einmal nichts. daß im Gegensatze zu andern Orten die Polizei sehr anständig und for­reft vorging. Von einem Genossen befragt, theilte der Kommissär ihm mit, daß die in Mühlhausen   gestohlenen Briefe alle nach Berlin   gesandt worden seien.(?) Von da aus wurden die Staatsanwälte an denjenigen Orten, nach welchen gestohlene Briefe adressirt waren, beauftragt, Haus­suchungen vornehmen zu lassen. Wie aus dem Schriftstücke, das der Kommissär einem Genossen als Legitimation überreichte, zu ersehen war, hatte die Staatsanwaltschaft bei dem hiesigen Amtsgericht um Genehmi gung zur Haussuchung nachgesucht, welche auch ertheilt wurde. Sie wickelte sich viel forrekter ab, als im November 1878. Damals hielt die Polizei auf eigene Faust bei drei Genossen Haussuchung und nahm einige fünfzig vorgefundene Einzeln Exemplare von Broschüren, sowie ganze Jahrgänge sozialistischer Zeitungen weg, um dieselben nach Oppeln   an die Landespolizeibehörde zu senden; diese verbot hierauf, was noch nicht verboten war( auch die Quintessenz" von Schäffle, die aber bekanntlich

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