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Man sieht, Viktor Emanuel konspirirt mit Garibaldi   zum Zwecke einer Revolution in einem Nachbarstaate, die er beschleunigt wissen will, damit der bedrohte Fürst nicht vorher Zeit bekomme, seinem Volke eine Verfassung zu verleihen. Gewaltsame Revolution um jeden Preis.

Aber, Revolution nicht um die Freiheit, nicht um des Volkes willen, sondern Revolution um der nationalen Einheit willen, der nationalen Einheit, die Garibaldi   sich als freie italienische Republik dachte, von der aber Viktor Emanuel   wußte, daß sie die Einheit unter der Dynastie Savoyen sein werde.

Diese Revolution ist denn auch von den christlich- konservativen Regie­rungen sanktionirt worden, der Revolutionsanzettler Viktor Emanuel  starb tief betrauert" von allen gekrönten Häuptern Europa's  . Moral:

Revolution um des Raubes, um bloßen Wechsel des Herrschers willen gute, anerkennenswerthe Revolution. Revolution für die Freiheit eines unterdrückten, für das Wohlergehen eines ausgebeuteten Volkes schlechte, verwerfliche Revolution. Und wir, weh uns! gehören zur Partei der schlechten, verwerflichen Revolution.

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Mehr als ganze Bände von Abhandlungen sprechen folgende, vom Pester Lloyd" angeführte Zahlen, welche den Export von Brodstoffen( Weizen, Reis, Roggen, Gerste, Hafer, Mehl 2c.) aus den Vereinigten Staaten   während der mit dem 30. Juni 1850, 1860, 1870 und 1880 beendigten Jahre in Dollars angeben ( 1 Dollar 4 Mt. 25 Pf. oder 5 Fr. 40 Cts.): 1850 Doll. 13,066,509

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1860 1870 1880

24,422,320

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72,250,933 288,036,835

Letztere Summe, welche in Mark sich auf 1,224,156,548,& ine Milliarde, zweihundert vierundzwanzig Millionen, hundertsechsundfünfzig Tausend fünfhundert und achtundvierzig beläuft, muß in dem laufenden Rechnungsjahr- vom 1. Juli 1880 an, nach den bisher veröffentlichten Zahlen eine ganz außerordentliche Steigerung erfahren haben.*)

Die Bedeutung dieser Zahlen für die europäischen   Verhältnisse springt in die Augen. Es ist allerdings wenig schmeichelhaft für Personen, die sich einbilden, Weltgeschichte machen zu können, daß alle ernsthaften Leute diesem Phänomen ihre volle Aufmerksamkeit widmen und nicht ihnen. Wir nden es deshalb nur zu begreiflich, daß sie sich dafür durch witzig sein sollende Phrasen, wie revolutionäres Korn", rebellische Buttermilch" c. zu rächen suchen. Die Verachtung der wissenschaftlichen Forschung ist nicht blos dem Genialen" eigen, sie ist ein Spezifikum aller verkannten großen Männer".

Soll das Wort Moderner Sozialismus" nicht blos eine leere Phrase sein, so haben diejenigen, die sich als seine Anhänger geriren, alle Erscheinungen des modernen Lebens sehr sorgfältig zu beachten und zu studiren, sie könnten sonst eines Tages sehr unmoderne, sehr altmodische Sozialisten werden und trotz der revolutionärsten Phrasen zu den Reaktionären gerechnet werden müssen. Einen recht deutlichen Beweis dafür liefert z. B. Herr Dühring. Was hat der Mann sich nicht seiner Zeit mit seinem Ultraradikalismus gebrüstet! Nicht von rechts, sondern von links greife ich Marx und Lassalle an, war seine Lieblingsphrase. Nun, wo ist Herr Dühring heute mit seiner Theorie von der höheren Gerechtigkeit"? Bei den Antisemiten. Und man kann nicht sagen, daß Herr Dühring sich untreu geworden ist. Sein höheres Gerechtigkeitsgefüht" gestattet es eben nicht, daß man den Juden dieselben Rechte, wie den christlichen Germanen einräumt, sein geläuterter" Sozialismus, welcher der freien Persönlichkeit" erst zu ihrer vollen Ent­faltung verhelfen soll, kann diese unangenehmen Gesellen nicht vertragen, sie müssen auf die eine oder andere Art ausgerottet werden, und jede freie Kommune der Dühring'schen freien Gesellschaft" wird an ihren Häusern die Inschrift tragen:" Das Mitbringen von Juden und Katzen ist streng untersagt".

Kehren wir von dieser Abschweifung zur Sache selbst zurück. Wie sehr die Produktivität Amerika's   die alte Welt zu erschüttern droht, zeigt am besten die Angst aller derjenigen, die am Aufrechterhalten der bestehenden Verhältnisse in Europa   ein Intereffe haben. So befindet sich augenblicklich, wie das Wiener   ,, Vaterland" vor einiger Zeit mittheilte, eine Expedition ungarischer Magnaten,( bestehend aus: Graf G. Andrassy( Neffe des früheren Ministers), Graf E. Hoyos, Baron G. Gudemus, der Grafen Geza und Imre Szechenyi  , unter Begleitung des bekannten sozialkonservativen Schriftstellers Dr. Rudolph Meyer) in Amerika  , ,, um die Gefahr(!!) der agrikolen und industriellen Produktion Ameritas für das begonnene Dezennium durch sorgfältiges Studium an Ort und Stelle zu ermessen und festzustellen."

Die Gefahr der industriellen und agrikolen Produktion Amerikas  "! Gefahr für wen? Doch nicht für das Volk, doch nicht für die Menschheit? Nein, wohl aber für die auf Ausbeutung und Massenelend beruhende bürgerliche Gesellschaft, die zu Grunde geht an demselben Faktor, dem sie ihre Blüthe verdankt, an der gesteigerten Produktivkraft, an der Maffenproduktion.

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Zur Völkerslucht. 21,117, in Worten: Einundzwanzig­tausend einhundert und siebzehn Personen verließen im Monat April über Hamburg   das deutsche Reich, um sich dessen segensreichen Institutionen zu entziehen. Die Zahl ist noch in feinem Vor­jahre erreicht worden. Deutschland  , Deutschland über Alles, über Alles in der Welt!"

Vom deutschen   Reichstage. Bismarcks Miethssteuer­paragraph ist von dem hohen Hause" in dritter Lesung angenommen worden, ebenso in zweiter Lesung der Antrag auf vierjährige Legislaturperioden. Dagegen wurde der Antrag auf zweijäh­rige Budgetperioden abgelehnt. Die Herren wollen zwar alle Jahre das Recht haben, mit der Regierung zu kompromiffeln, fürchten aber für die Ruhe des Volkes", wenn es gar zu oft an die Wahlurnen gerufen wird. Prinzipiell trat eigentlich Niemand für das Recht der Wähler ein, die Herren sprachen vielmehr noch von fünf- und sechsjähriger Legislatur periode, nur mit Rücksicht auf die eigenthümlichen schwankenden Zu­stände in der inneren Politik wollten Nationalliberale und Fortschrittler die dreijährigen Perioden aufrecht erhalten.

Von unseren Genossen kam während dieser Debatten Niemand zum Wort; Hasenklever, der sich mehrere Male rechtzeitig gemeldet hatte, brandmarkte das Mundtodtmachungssystem mit Recht als Terroris mus und erhielt dafür den obligaten Ordnungsruf".

Das famose Wehrsteuergesetz ist im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen mit Glanz abgefahren. Neue Steuern können heute dem Volke nur noch abgeschwindelt werden. Keine einzige Stimme erhob sich für den Bismarck'schen Wechselbalg, der große Schweiger" verduftete vor der Abstimmung, Puttkamer   zog es vor, zu spät" zu kommen, und Minister Lucius stimmte sogar dagegen. Das ist bitter".

So sind z. B. während des ersten Vierteljahrs 1881 gegenüber dem gleichen Zeitraum 1880 in dem Verkehr des deutschen  Bollgebietes mehr eingeführt worden:

Weizen 274,630 Doppelzentner,

Roggen

Hafer

3,316 125,328

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Gerste 317,499 Mehl 77,657

Wie viel davon auf Amerika  , wieviel auf Desterreich- Ungarn   und Rußland  , ist nicht angegeben.

-Sehr gut. Aber ich mag nicht in den Händen meiner Gegner sein; dieses Gefühl verdirbt mir jeden Gefallen an und jedes Behagen in meiner Stellung, wenn ich mich für irgend etwas in den Händen meiner politischen Gegner befinde, die bei mir Haussuchung halten können in Begleitung meiner Dienerschaft, während meiner Abwesenheit meine Sachen perlustriren"... Also sprach gelassen am 29. April 1881 Deutschlands großer Kanzler vor verſam­meltem Reichstage, der Mann, auf dessen Veranlassung hunderttausende deutscher   Staatsbürger Tag für Tag es sich gefallen lassen müssen, daß ihre politischen Gegner während ihrer Abwesenheit in Begleitung, zwar nicht ihrer Dienerschaft, aber ihrer Hausgenossen Haussuchung halten und ihre Sachen perlustriren( ausschnüffeln).

Wir nageln das Wort hiermit an und rathen unsern Genossen, es dem saubern Herrn und seinen Helfershelfern bei jeder Gelegenheit unter die Nase zu reiben.

Der Vater des Reptilienfonds, der Gönner Stiebers, der Spießgefelle Poststephans, beklagt sich über Haussuchungen und Perlustrirungen. Das ist klassisch!

Quis tulerit Gracchos de seditione querentes! In unser geliebtes Deutsch:

em Bismarck   klagt über politische Verfolgung? Gipfel der Frechheit!

Als eine ,, un würdige Verdächtigung" hat Herr Eugen Richter   in derselben Sitzung die Behauptung Bismarcks, daß die Fortschrittspartei in einem Kartell mit der Sozialdemokratie stehe, zurück­gewiesen. Wir sind Herrn Richter für diese Erklärung außerordentlich dankbar, sie ist eine Bestätigung dessen, was wir in unserer vorigen Nummer über Herrn Richter und seine Partei gesagt.

Auch Herr Albrecht Träger hat sich jüngst in einer fortschritt­lichen Versammlung zu einer ähnlichen Bemerkung veranlaßt gefunden, wobei der edle Herr augenscheinlich vergessen hat, mit wessen Hülfe er 1874 in Gera   gewählt wurde.

Dagegen meinte in einer Versammlung in Breslau   Herr Rechtsanwalt Munkel, die Sozialisten huldigten zwar vielen Jllusionen, sie seien aber höchst intelligente Leute, die da wüßten, was sie von der Fortschritts­partei für Vortheile zu erwarten hätten, und deshalb auch für die fort­schrittlichen Kandidaten stimmen.

Herr Munkel ist Kandidat der Fortschrittspartei in Breslau   und ein sehr geschickter, ein ausgezeichneter Rechtsanwalt. Aber die Fort­schrittspartei vor unserm Tribunal zu vertheidigen, das bringt er doch nicht fertig. Dafür sind wir wirklich zu intelligent.

- Ganz unsere Ansicht. Das demokratische Stuttgarter ,, Vaterland" macht den Vorschlag, wenn Bismarck   die fortschrittlichen Berliner   Quälgeister gar zu unbequem werden, so möge er sie doch ein­fach auf Grund des Sozialistengesetzes ausweisen.§ 28 beschränkt die Ausweisung keineswegs auf Sozialdemokraten, er ist auf Fortschrittler, Sezessionisten, kurz auf alle widerhaarigen Elemente anwendbar, denn er redet nur von Personen, von denen eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu erwarten ist."

Wie gesagt, ganz unsere Ansicht. Also, nur immer' raus damit! Und sollte irgend einer der Betroffenen so naiv sein, den genialen Staats­mann an das Versprechen von der loyalen Handhabung" zu erinnern, so wird er, das zweifeln wir nicht, folgende Antwort erhalten:

Dummer Teufel! Was scheert mich das Versprechen! Gerade soviel als mein bei Gott   dem Allmächtigen und Allwissenden" abgelegter Eid auf die preußische Verfassung.

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Einstimmig hat am 5. Mai der deutsche Reichstag   die Wahl des Herrn von Schlieckmann für ungültig erklärt, somit find unsere Abgeordneten der Schande enthoben, mit diesem Herrn, der die Frechheit hatte, sich noch am 30. April an der namentlichen Abstimmung über das sehr auf der Kippe stehende Bismarck'sche ,, Miethsteuergesetz" zu betheiligen, in demselben Raum sich aufhalten zu müssen.

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Was liegt auch an der Kanaille"! In Langensalza  , be­richten einige Zeitungen, wurde Ende April vom Armenarzt Dr. Seyffarth dem Herrn Senator Fischer( zweitem Bürgermeister) ein armer franker Handwerksbursche mit der Bescheinigung überwiesen, daß dessen Aufnahme ins Krankenhaus wegen eines stark entwickelten Fiebers nothwendig sei. Der betr. Senator schickt den armen Schlucker nicht ins Krankenhaus, sondern in Arrest und am andern Morgen ist der arme Bursche- todt!"

Todt, hoher Adel und verehrungswürdiges Publikum! Todt! Und damit ist die Geschichte aus. Oder sollte wirklich ein Staatsanwalt sich den Lurus einer Untersuchung gestatten? Wir haben bis jetzt nichts davon vernommen, sie dürfte auch wenig Zweck haben, denn Herr Fischer wird um eine Ausflucht nicht verlegen sein, und der Todte wird durch sie auch nicht wieder lebendig.

Ihr aber, Arbeiter, denen jeden Tag das Loos bevor­steht, auf die Straße geworfen zu werden, merkt's Euch!

Aus Deutschland   regnet es Nachrichten über Polizeigenie­und Polizeischurkenstreiche. Wir können dieselben nur noch summarisch behandeln und werden eine Ertrarubrik dafür anlegen. Sie soll, da das Sozialistengesetz nur erst durch die allerhöchste" Sanktion in Wir­kung getreten ist, und damit es nie in Vergessenheit geräth, wem vor allen Dingen die wohlthätigen Folgen dieses Gesetzes zu ver­danken sind ,,, Kaiser Wilhelmsspende" genannt werden. Ehre dem Ehre gebührt. Also:

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Kaiser Wilhelmsspenden: In Karlsruhe   wurden einem behaussuchten Arbeiter, bei dem man nichts Verbotenes fand, eine Anzahl Nicht Verbotenes abgenommen. In Breslau  wurde unser Genosse Kayser, als er vom Bahnhof tam, überfallen und einiger nicht verbotener Zeitungen, worunter o unverdientes Schicksal zwei summern des Freien Rhätier", beraubt, von Polizeibeamten natürlich. In Düsseldorf   war am 30. April Haus­suchung bei den Sozialisten Klinnert und Huster, bei Ersterem mit noch größerer als der gewohnten Brutalität, die Ordnungs" banditen warfen Alles drunter und drüber. Resultat großartig: 10 Exemplare Re­vanche" und mehrere Einzelnummern des Sozialdemokrat". In Liegnitz   am 28. April Massenhaussuchungen mit obligatem Diebstahl von Einzelexemplaren und allerhand Nichtverbotenem; nebenbei eifrige Fahndung auf ein Gruppenbild von 24 Köpfen, Polizisten machen Riesen­übungen im Zählen, finden aber leider kein Bild mit der gewünschten Anzahl, daher am nächsten Tage wiederholtes Herumlaufen und Zähl­übungen, aber immer fruchtlos. Wehe dem Gesangs-, Turn-, Theater-, Lese, Schüßen, Krieger- 2c. Verein, der ein Gruppenbild mit 24 Kö­pfen hätte aufnehmen lassen!

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Aus Carlsruhe   schreibt uns ein Genosse: Am 1. Mai fand in der Garnison Rastatt   eine riesige Schlägerei zwischen Süd und Nord" statt. Badener   sollen 17 verwundet sein, von dem schlesischen 22. Regiment 11. Einer soll das Zeitliche gesegnet haben. Ueber die ganze Geschichte herrscht Dunkel. Die hiesigen Blätter, sowie die Rastatter hüllen sich in Schweigen. Ob die Franzosen schon so viel Verluste auf­zuweisen haben in ihrem Tunis  , wie diese friedlichen Vertheidiger der ( nach Moltke  ) göttlichen Weltordnung?

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Der Graf von Chambord, schreibt entzückt das klerikale Wiener   ,, Vaterland", hat dem heiligen Vater seinen jährlichen Peters­pfennig im Betrage von 10,000 Fr. in Gold übersendet, welchen die von mütterlicher Seite mit der Familie Bourbon verwandte Fürstin Franziska Massimo überreicht hat. Der heilige Vater war tief gerührt von diesem neuen Beweis kindlicher Ergebenheit des Grafen Chambord

und ließ ihm seinen besonderen Segen übermitteln." nischt, sagt der jottlose Berliner  .

Det tost't

Vom Kreisgericht zu Olmütz   wurden am 21. April zwölf Sozia listen aus Proßnitz   wegen Störung der öffentlichen Ruhe und Verbrei tung verbotener Druckschriften zu zusammen 46 Wochen Gefängniß ver­urtheilt. Nun ist die öffentliche Ruhe" wieder hergestellt.

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Aus dem freien" Ungarn   ausgewiesen wurde der Arbeiter Andreas Esst, entgegen dem Gesez, nach welchem er, der sich bereits 24 Jahre in Ungarn   aufhält, als ungarischer Staats­bürger zu betrachten ist. Grund: Esst sei Sozialrevolutionär, habe mehrere Agitationsreisen unternommen und revolutionäre Flugschriften verbreitet. Für Sozialisten gibt es feine politischen Rechte, keine Verfassungs­paragraphen in Desterreich wie in Preußen.

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Nur gemeine Verbrecher wurden bei dem vielversprochenen Gnadenerlaß Franz Josephs aus Anlaß des glücklichen Familienfestes" berücksichtigt. Sie gehören auch, wie es scheint, zur Familie.

Aus London  , 6. Mai, schreibt man uns: Der Fall Most, schon an und für sich eine Anomalie in der englischen Rechtsgeschichte, wird mit jedem Tage mysteriöser und verworrener.

Am 2. Mai wurde die Session der Geschwornen zu Old Bailey eröffnet. Da 83 Anklagen vorlagen, konnte man nicht hoffen, daß Most, der sich unter den letzten befand, bald daran kommen werde. Trotzdem befremdete es, daß der Tag, an dem die Schlußverhandlung stattfinden solle, nicht bekannt gegeben wurde. Die Blätter sprachen offen die Ansicht aus, man sei sich noch nicht einig darüber, auf Grund welches Paragraphen die Anklage erhoben werden solle. Endlich hieß es, der Attorney General ( Oberstaatsanwalt) habe den Auftrag erhalten, Freitags, den 8. Mai, die Anklage zu führen. Neues Erstaunen. Ist der Fall so wichtig oder so verzweifelt, daß die Regierung sich bemüssigt fühlt, den Attorney General in's Feuer zu schicken?" So fragte man sich allgemein.

Am 4. Mai tam Most endlich vor die Grand Jury. Diese, aus 24 Mitgliedern bestehend, hat nur die Anklage zu prüfen, ob sie gerechtfertigt sei( true bill) oder gänzlich unbegründet( no bill). In letzterem Falle wird der Angeklagte sogleich freigelassen, in ersterem kommt er vor die eigentliche Jury. Die Grand Jury erkannte die Anklage gegen Most als gerechtfertigt, ja noch mehr, die geistreichen Herren Shopkeeper's( Krämer) fühlten sich bewogen, in ebenfalls ungewöhnlicher Weise zu erklären, die Auf­reizung zum Mord sei brutal und unenglisch und müsse von den Obrig teiten energisch bekämpft werden. Daß dieser Erklärung, abgegeben ohne daß man die Vertheidigung gehört hatte, nicht allzugroße Tragweite bei zumessen ist, ist klar.

Nach dem Verdikt der Grand Jury erwartete nun Alles für Freitag die Verhandlung. Und was geschieht? Gestern, den 5. ds., wird diese unerwartet abgehalten.

Die Serie der Ueberraschungen ward aber damit noch nicht erschöpft. Der Vertheidiger, Mr. A. M. Sullivan, der stets gedrängt hatte, man möge doch den Tag der Verhandlung festsetzen, erklärte, der Anklageaft sei erst den Tag vorher fertig geworden, er sei sehr lang und komplizirt, und er ersuche daher, um ihn genauer studiren zu können, um Ver­tagung zur nächsten( Juni) Session. Mr. Poland erklärte, er habe sich mit dem Attorney General berathen, sie hätten nichts gegen die Vertagung einzuwenden. Dieselbe wurde daher akzeptirt, Most kommt erst Anfang Juni( wenn's gut geht, Ende Mai) vor die Geschwornen.

Die verschiedensten Auslegungen dieses sonderbaren Ver fahrens werden laut. Die einen sagen, der Vertheidiger habe in Folge des Beschlusses der Grand Jury Angst bekommen und wolle eine günstigere Zusammen setzung der Geschwornenliste abwarten. Andere wieder behaupten, die Vertagung beruhe auf einer Abmachung zwischen dem Attorney General und Herrn Sullivan. Die Regierung wolle, daß der Prozeß erst verhandelt werde, wenn die öffentliche Meinung sich nicht mehr mit demselben be­schäftige.

Nun ist es richtig, daß die en glische öffentliche Meinung ein sehr kurzes Gedächtniß hat und daß nach einem Monat Most die Engländer kaum mehr interessiren wird, als er sie vor seiner Verhaftung interessirte. Der Regierung muß aber Alles daran liegen, daß der Prozeß sich so still wie möglich abspielt, denn in Folge ihrer bunten Zusammensetzung muß ihr eine Verurtheilung Most's ebenso unangenehm sein als seine Freisprechung. Seine Freisprechung ist eine Niederlage, indem sie zeigt, wie ungerecht­fertigt die Verfolgung Most's war. Seine Verurtheilung aber ist ein solcher Schlag in's Gesicht der altenglischen Tradition ebenso, wie der neuradikalen Prinzipien, daß sie Tories wie Radikale in gleicher Weise gegen das Kabinet benützen werden. Herrn Dilke   muß eine Verurtheilung Most's ebenso unangenehm sein, als Herrn Harcourt dessen Freisprechung: das einzige Mittel, um allen diesen Schwierigkeiten zu entgehen, ist, daß man den Prozeß möglichst in die Länge zieht und ihn so still wie mög­lich begräbt. Der Regierung braucht also die Vertagung durchaus nicht unangenehm zu sein.

Ebensowenig aber den Anhängern Most's. Anfangs waren dieselben allerdings stolz auf seine Verhaftung, als eine Anerkennung seines Radi talismus, wie sie noch Niemandem vor ihm passirte. Ueberdies betrachteten sie den Fall als eine fam ose Reklame. Bei solchen Anschauungen ist es tein Wunder, daß das Defence- Committee"*) eine Reihe schwerer Fehler beging. Schon die Wahl des Vertheidigers ist ein solcher. Herr Sullivan ist ein guter Stumpredner und wird also wahrscheinlich eine ordentliche Bauke loslassen, aber er ist irisches Parlamentsmitglied, also in den Augen des englischen Spießers eine Art Fenier, so wie Most demselben als eine Art Nihilist gilt, obwohl er auf die Hinrichtung Alexander II.  wahrscheinlich nicht mehr Einfluß geübt hat, als Herr Locher von den Zürcher Nachr." Ob die Vertheidigung des Nihilisten" durch einen Fenier" in dem englischen Philister nicht eine Art Gruseln erwecken

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wird?

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Ein noch größerer Fehler war der, daß das Defence- Kommittee" nicht den Kampf gegen das Ministerium und für die bedrohte englische   Freiheit ( ohne Gänsefüßchen) zu seiner Parole machte, sondern seinen Hauptnach­druck darauf legte, die sozialrevolutionäre Freiheit"( mit Gänsefüßchen) zu rechtfertigen und zu propagiren. Revolutionäre Körperschaften und Personen wurden nicht einmal aufgefordert, sich den Bemühungen des Kommite's anzuschließen, sobald sie nicht zur sozialrevolutionären Fahne schworen. Die meisten Derjenigen, welche bereit gewesen wären, für die bedrohte englische   Freiheit einzutreten, bedachten sich natürlich, für die Anarchisten Reklame zu machen, und so kam es, daß die Thätigkeit des Defence- Kommittee" fast ganz fruchtlos blieb, daß alle versuchten De­monstrationen mißglückten, und von der Inszenirung einer Massendemonstration, die sicher Eindruck gemacht hätte, abgesehen werden mußte.

Indeß sind die Herren denn doch zur Einsicht gekommen, daß ein bischen Reklame für die Freiheit" mit einigen Jahren Kerkerstrafe Most's doch zu theuer erkauft wäre, und somit muß auch ihnen die Vertagung willkommen sein. Jeder Tag Aufschub vermindert zwar den Effekt des Ausganges, verbessert aber die Chancen des Angeklagten.

Ebenso wie im Fall Most tritt die Haltlosigkeit und Zwiespaltigkeit des Ministeriums in der auswärtigen antisozialistischen Politik zu Tage. Ich habe in meiner letzen Korrespondenz eine Rede von Sir Charles Dilke   angeführt. Den geraden Gegensatz dazu bildet die des Sir Wil­ liam Harcourt  , den 5. d. Mts. gehalten anläßlich einer Interpellation des Mr. Cowen wegen der letzten Sozialistenverhaftungen in Wien  , zu denen die hiesige Polizei das Material geliefert hatte, bestehend in Briefen und dem Chiffrirschlüssel, die man bei Most gefunden hatte.

*) Vertheidigungskomite.