Erscheint
wöchentlich einmal
in
Verlag
Rafinoftraße 3.
Doppelporto.
N: 7.
Donnerstag, 9. Februar.
Avis au die Korrespondenten und Abonnenten des„ Sozialdemokrat".
Da der Sozialdemokrat" sowohl in Deutschland als auch in Oesterreich verboten ist, bezw. verfolgt wird, und die dortigen Behörden sich alle Mühe geben, unsere Verbindungen nach jenen Ländern möglichst zu erschweren, resp. Briefe von dort an uns und unsere Zeitungs- und sonstigen Sendungen nach dort abzufangen, so ist die äußerste Vorsicht im Postverkehr nothwendig und darf keine Vorsichtsmaßregel versäumt werden, die Briefmarder über den wahren Absender und Empfänger, sowie den Inhalt der Sendungen zu täuschen, und lektere dadurch zu schützen. Haupterforderniß ist hiezu einerseits, daß unsere Freunde so selten
Der Giftbaum.
Vor einigen Jahren bezeichnete der preußische Minister May bach die Börse als den Giftbaum, der das Leben der Nation tödte.
Die
Derselbe Herr Maybach, der den Giftbaum theoretisch so scharf und so richtig verurtheilt hatte, that aber praktisch Alles, was in seinen Kräften stand, um diesen„ Giftbaum" der Börse zu pflegen. Die preußische Eisenbahnpolitik unter der Leitung des Herrn Maybach war eine systematische Wider legung der tugendhaften Theorie des Herrn Maybach. Theorie des Herrn Maybach wurde durch die Praxis des Herrn Maybach Lügen gestraft und ad absurdum reduzirt. Die Verhältnisse sind eben stärker als die Menschen, und Herr Maybach, der doch nur mag er denken und erstreben was er will ein Kind und Organ der modernen bürgerlichen Gesellschaft ist, mußte im Geist der modernen bürgerlichen Gesellschaft handeln, ihr Handlangerdienste leisten.
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Der„ Tanz um das goldene Kalb" wurde unter den Auspizien des Herrn Maybach auf der Berliner Börse mit einer orgienhaften Energie betrieben, die in einer halbwegs, moralisch" eingerichteten Gesellschaft Anwartschaft auf das Zuchthaus verliehen hätte.
Machen wir hieraus Herrn von Maybach einen persönlichen Vorwurf? Nein!
Wir nehmen ihn für das, was er ist, für das Kind und Organ der modernen bürgerlichen Gesellschaft und verurtheilen nicht ihn persönlich, sondern in seiner Person die moderne bürgerliche Gesellschaft, deren Kind und Organ er ist.
Und die Orgien, welche soeben in Frankreich unter dem Giftbaum" gefeiert worden sind die tollen Orgien mit dem " Krach" als unvermeidlichem Nachspiel. Eine alte Geschichte. Auch nicht ein neuer Zug darin. Alles, Alles schon dagewesen,- der Schwindel, die Börsenschlacht in allen Details, sogar der Kampf zwischen semitischem und„ chriftlichem" Kapital. Und gerade darin, daß es eine alte Geschichte ist, liegt die Bedeutung und Moral.
Nach jeder Orgie unter dem„ Giftbaum" bekommt die bür gerliche Gesellschaft Kazenjammer und schwört heilig und theuer, es nicht wieder zu thun. Aber die guten Vorsätze sind ver geffen, sobald der Kazenjammer vorbei ist. Die Orgie beginnt von Frischem. Erst mit einiger Vorsicht und Schamhaftigkeit, dann wachsend mit zügelloser Tollheit, ohne Schaam, ohne Rücksicht, wild, wahnsinnig bis zum unvermeidlichen Nachspiel, dem „ Krach". Dann wieder Katzenjammer, gute Vorsätze, neue Orgien, neuer Krach. Und so weiter, in infinitum, bis ans Ende, zwar nicht der Welt, aber der bürgerlichen Gesellschaft.
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In diesen cercle vicieux*) ist bie bürgerliche Gesellschaft hineingebannt, fein Gesetz, keine Macht der Erde kann sie daraus erlösen.
Unklare Köpfe meinen, und verschmitte politische Taschenspieler geben sich den Anschein, als ob sie meinen, man könne diejen fehlerhaften Kreis durch Beschneiden des„ Giftbaums"( Börsensteuer 2c.) oder Fällen desselben( Verbot der Differenzgeschäfte ) aus der Welt schaffen. Das ist die Weisheit der Schildbürger. Was ist denn das„ Unfittliche" im Börsenspiel? Etwa die Spekulation auf Steigen und Fallen der Kourse? O. Ihr Klugen und tugendhaften Leute, so schaut Euch doch um, wie es außer halb der Börse ausschaut! Wer spekulirt denn heute nicht, wer schließt heute nicht Geschäfte auf Zeit" ab? Besteht nicht gerade das Verdienst des reellen" Geschäftsmannes, sei er Händler, Fabrikant oder Landwirth, im Ausnüßen der guten Konjunktur"? Und ist dieses Ausnüßen günstiger Preise möglich ohne Abschließen von Geschäften auf Zeit", von Lieferungsgeschäften? Verjagt die Spekulation vom Aftienmerkt und sie flüchtet sich auf den Produktenmarkt, wie sie es in den Jahren des Krachs 1874 77 ohne gefeßlichen Zwang gethan, einfach, weil es im Fondsgeschäft ,, nichts zu verdienen" gab.
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Oder beruht die Unfittlichkeit" etwa im arbeitslosen Erwerb? Heuchler und Pharisäer, die Ihr seid, wovon lebt Ihr denn? Beruht nicht in Stadt und Land Eure ganze ,, bürgerliche Gesellschaft" auf der Ausbeutung befitloser Proletarier? Und ist nicht diese Ausbeutung der Waare" Arbeitskraft die Mutter der Spekulation, der Korruption, des Schwindels?
Der auf die eigene Arbeitskraft angewiesene Mensch kann nicht spekuliren, er muß arbeiten oder verhungern. Wer aber über Anderer Arbeit verfügt, der kann, der muß heute spekuliren. Und ehe Ihr diese Ausbeutung nicht radikal beseitigt, werdet Ihr den fatalen ,, Giftbaum" auch nicht los. Fatal, ja wohl, denn er ist Euer Verhängniß.
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Der Giftbaum" gehört zur bürgerlichen Gesellschaft, er ist mit Naturnothwendigkeit aus ihrem Sumpfboden hervorgewachsen, und sein verderbenspendender, tödtlicher Schatten liegt nicht blos auf der Börse, sondern auf der ganzen bürgerlichen Gesellschaft. Nur daß auf der Börse die Wirkungen des ,, Giftbaums" am drastischsten, greifbarsten zum Ausdruck kommen. Auf dem Ge=
*) Wörtlich: fehlerhafter Kreis.
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3-
1882.
als möglich an den Sozialdemokrat", resp. dessen Verlag selbst adressiren, sondern sich möglichst an irgend eine unverdächtige Adresse außerhalb Deutschlands und Oesterreichs wenden, welche sich dann mit uns in Verbindung feht; anderseits aber, daß auch uns möglichst unverfängliche Zustellungsadressen mitgetheilt werden. In zweifelhaften Fällen empfiehlt sich behufs größerer Sicherheit Refommandirung. Soviel an uns liegt, werden wir gewiß weder Mühe noch often scheuen, um trotz aller entgegenstehenden Schwierigkeiten den Sozialdemokrat unsern Abonnenten möglichst regelmäßig zu liefern.
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sammtgebiet der kapitalistischen Wirthschaft dieselbe Korruption, dieselben Orgien der Geschäftsblüthe, dasselbe Finale des Krachs, derselbe cercle vicieux. Gs beruht das im Wesen der bürgerlichen Gesellschaft. So wenig ein Mensch aus seiner Haut schlüpfen kann, ebensowenig kann die bürgerliche Gesellschaft aus ihrer Haut heraus.
Es gibt nur
eine Erlösung aus diesem verhängnißvollen cercle vicieux. Allein das ist keine Erlösung für die bürgerliche Gesellschaft, es ist die Erlösung von der bürgerlichen Gesellschaft.
Ein Brief von Wera Sassulitsch .*)
An die in Zürich am 5. Februar versammelten deutschen Sozialdemokraten.
Bürger!
Mein Freund Axelrod hat mir geschrieben, daß Sie, werthe Bürger, eine Versammlung veranstalten wollen, um dem Ziele des„ Rothen Kreuzes" zu Hilfe zu kommen. Diese Nachricht hat mich sehr erfrent und ich beeile mich, Ihnen, werthe Bürger, meine tiefe Dankbarkeit auszudrücken.
Sie waren die Ersten, die auf den Anruf der russischen Sozialisten an Westeuropa, Beistand für die zahlreichen Opfer der despotischen und unmenschlichen russischen Regierung zu sammeln, eine freundliche Antwort
In einem auf Arbeit beruhenden Gemeinwesen kann der Giftbaum" nicht bestehen. Er geht zu Grunde auch ohne gegeben. Strafgesetze.
In der liberalen Presse aller Schattirungen findet man hier und da einen Artikel veröffentlicht, in welchem ein„ Achtundvierziger" seine Erlebnisse in den Gefängnissen und auf der Flucht während und nach der deutschen Revolution schildert. Meistens haben diese Schilderungen einen humoristischen Anstrich und erinnern dadurch an den Verlauf jener Bewegung, in welcher die deutsche Bourgeoisie ihre Unfähigkeit zur Herrschaft demonstrirte. Auch wir Sozialdemokraten können mit derartigen Schilderungen aufwarten; daß indeß der Humor aus den deutschen Gefängnissen und Gerichtssälen verschwunden ist, zeigt folgende Statistik aus unserer Stadt, welche am Besten den erbitterten Kampf zeigt, den man, ohne Rücksicht auf Recht" und Gerechtigkeit, gegen uns führt. Diese Statistik zeigt die Maßregeln, welche die Behörden im Laufe der letzten 1%, Jahre seit 1880 gegen hiesige Parteigenossen trafen. Wir empfehlen den Genossen aller Zentralorte unserer Bewegung, eine gleiche oder ähnliche Zusaminenstellung und Veröffentlichung. Die vereinigten Blätter dieser Statistik geben ein Schuldbuch des deutschen Richterthums, welches uns zur gelegenen Zeit günstige Dienste leisten soll, und welches dem künftigen Kulturhistoriker Material liefern wird zur Beurtheilung der jetzigen Zustände, zur Geschichte von Deutsch= lands Schande.
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Von Dresdner Gerichten wurden seit Juli 1880 nicht weniger als 90 Parteigenoffen wegen politischer Vergehen verurtheilt, von welchen 45 eine Gefängnißhaft von einer Woche und darunter, und 45 eine solche von mehr als eine Woche erlitten. Die Gesammtsumme der gegen uns verfügten Haft seit jener Zeit beläuft sich auf 17 Jahre 6 Monate und 16 Tage( in anderthalb Jahren!), eine Zeit, die wohl den eifrigften Sozialistenverfolger zufriedenstellen dürfte.
Von diesen 17 Jahren u. s. w. sind nur 12 Jahre 5 Monate 14 Tage Straf haft, während die übrigen 5 Jahre 1 Monat 2 Tage auf Unterfuchungshaft tommen, ein Verhältniß zur Strafhaft, welches selbst den deutschen Richtern, wenn sie nicht alle Scham verloren, die Röthe ins Gesicht treiben sollte. Die Gesammtuntersuchungshaft belief sich auf 5 Jahre 10 Monat 16 Tage; doch hatten die Dresdner Richter die Güte, von diesen nahezu 6 Jahren man höre: 9, schreibe neun Monate und 14 Tage für Strafe zu verrechnen, nach deren Abzug sich die oben genannte Summe von 5 Jahren 1 Monat 2 Tagen er gibt. In der langen Liste der Bestraften steht der Zeit nach Paschky mit 1 Jahr 15 Wochen obenan. Ihm folgt Weidner mit 1 Jahr 9 Wochen, Schlüter mit 1 Jahr und Geyer mit 11, Monaten. Nichtmitgerechnet in dieser Statistik sind jene Verurtheilungen, die wegen der von der Polizei gemachten Unruhen an den beiden Wahltagen erfolgten, und welche sich an einem Verhandlungstage allein auf 4 Jahre und 9 Monate Zuchthaus und 1 Jahr 8 Wochen Gefängniß belief, ungerechner der zahlreichen schon verhandelten und noch schwebenden Prozesse in dieser Sache, die auch noch mehrere Jahre Gefängniß er
geben. Wenn die hierin Verurtheilten auch größtentheils der Partei ferne stehen, so kommt doch ihre Sache mit auf das Konto der Dresdner Richter; haben diese doch geglaubt, Sozialdemokraten vor sich zu haben, daher diese horrenden Urtheile, bei welchen auch die Bourgeoisie durch ihre Geschworenen, die ihr„ Schuldig des Aufruhrs" aussprachen, ihr Einverständniß mit dem Richterthum bekundete, und dadurch aufs neue zeigte, daß sie im Kampje mit uns alle ihre ,, liberalen Errungenschaften", auf welche sie so stolz war, das unabhängige Richterthum gehörte ja dazu verleugnet, wenn es dem aufstrebenden Arbeiterstande gilt. Doch weiter im Schuldbuch der Dresdner Behörden!
Unter den Gefangenen befanden sich Lange und Büttner, die durch die Mißhandlung der Dresdner Richter zum Das Selbstmord getrieben wurden. waren deutsche
Richter!
Die Verwaltungsbehörden wirthschafteten in derselben Weise. Auch ohne Belagerungszustand haben wir hier im genannten Zeitraum 10 Ausweisungen. Gegen 60 Personen wurde der Druckschriftenvertrieb entzogen. Mehr als 300 Haussuchungen fanden statt, und gegen etwa 50 Genossen wurde zeitweilig Briefsperre verhängt.
Dies die Verfolgungsstatistik der Sozialdemokratie aus einer deutschen Stadt!
Und die Dresdner Arbeiter? Wer sie von früher her kennt, wird sie heute nicht wieder erkennen. Aus heiteren fröhlichen Menschen sind mißtrauische, verbitterte Personen geworden, denen nur ein Gefühl die Brust bewegt: der Durst nach Rache, nach Vergeltung! Schweigend nehmen sie jede Nachricht von einer neuen Schandthat der Dresdner Behörden entgegen, aber die Faust ballt sich im Grimme, und die Dresdner Richter mögen versichert sein, daß die Arbeiter ihrer nicht vergessen werden!
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Dieser Aufruf konnte nicht für Euch, deutsche Sozialisten, etwa befremdend sein. Sie sind schon so weit mit dem Wesen unserer Bewegung und überhaupt mit dem Gange ähnlicher Bewegungen vertraut, um zu wissen, daß die Macht einer sozialistischen, demokratisch- politischen Partei nicht in dem Gelde besteht, dieses war in unserer Bewegung nie im Ueberflusse, sondern in der unbezwinglichen Energie ihrer Mitglieder, in den Sympathien der Besten des Landes, in der allgemeinen dumpfen Unzufriedenheit, in der Erfahrenheit im Konspiriren endlich, die unsere Partei im zehnjährigen Kampfe erworben. Ihre Geldmittel schöpft die Partei hauptsächlich aus jenen Kreisen, aus denen ihre Reihen sich füllen, aus jenen Kreisen, aus denen Tausende in Verbannung und Gefängniß gehen. Darunter sind auch mit Mitteln versehene Leute, aber doch ziemlich selten; die große Mehrzahl dagegen ist nur teich an Selbstaufopfe rung und Energie und gibt für den Kampf ihre letzte Habe hin, stets bereit, wann es nöthig, auch das Leben für denselben einzusetzen.
Hinter dieser zahlreichen und unerschöpflichen Reserve der Partei, dem geistigen Proletariat und den beständig anwachsenden Arbeitergruppen in den Hauptstädten, befindet sich eine Masse Leute aller Klassen und Stände, die mit Ungeduld dem Ende der jetzt so gespannten Situation entgegenharren, die aber zu sehr von ihren eigenen Interessen in Anspruch ge= nommen, zu sehr egoistisch und passiv sind, um an dem Kampfe irgend welchen aktiven Antheil zu nehmen. Denn jeder Rubel, der den Revolutionären gegeben wird, kann besten Falls der Grund zur Polizeiaufsicht und zum Verlust des Erwerbes, oft auch zur Verbannung werden.
Aber nicht für den Kampf verlangen die russischen revolutionären Sozialisten die Unterstützung: die Mittel zum Kampfe schafften sie sich immer selbst und werden sie sich stets zu verschaffen wissen. Sie wissen wohl, daß die Lage derjenigen Parteien, auf deren Sympathien die russischen Revolutionäre bauen können, überall eine zu ungesicherte ist, und daß eine Unterstützung im Kampfe auf sie selbst die Verfolgungen herbeiführen würde seitens der Feinde, die an jedem Orte untereinander eng verbunden sind. Aber eine Hilfe für die Gefangenen und Verbannten kann, wenn auch indirekt, ein sicherstes Mittel werden, um die Entwickelung der russischen sozialistischen Partei zu fördern. Nicht das Mitleid allein, nicht nur die moralische Verpflichtung, für die gemaßregelten Genossen zu sorgen, veranlaßt die revolutionäre Partei, den im Eril befindlichen zu Hilfe zu kommen, sondern auch die strenge Ueberlegung, die Sorge für den nächsten Tag. Es ist für Jeden klar, daß der Tag nicht mehr fern ist, an dem der russische Absolutismus auf diese oder jene Weise verschwinden wird. Diesem Ereigniß wird unzweifelhaft eine allgemeine Bewegung, eine belebte Thätigkeit aller Elemente der Gesellschaft folgen. Dann wird unsere im Entstehen begriffene Bourgeoisie auf die Bühne treten und Anstrengungen machen, die Früchte des Sieges für sich zu sichern. Dann wird auch die sozialrevolutionäre Partei aller jener Kräfte benöthigen, auf die sie rechnen kann, um mittels einer ausgedehnten Agitation und Propaganda der sozialistischen Ideen, Grund zu legen zu einer Massenorganisation der Bauern und Arbeiter, und so den Uebergriffen der Bourgeoisie mit Erfolg entgegen zu wirken. Es wäre überaus verfehlt, wollte die Partei nicht Alles, was in ihren Kräften steht, thun, um den Tausenden, die in Verbannung schmachten, in dem jetzigen fürchterlichen Moment zu Hilfe zu kommen, würde sie dieselben dem Hunger und der Kälte in den nördlichen Eiswüsten überlassen. Man kann ohne Uebertreibung sagen, daß jetzt in der Verbannung die Blüthe einer ganzen Generation zu Grunde geht. Ich habe oft gehört, daß in einigen südrussischen Städten, wo Totleben, Banjutin, Sudejtin gewüthet haben, es wörtlich keine einzige Familie mehr gibt, in der nicht ein Mitglied dem Absolutismus zum Opfer gefallen ist. Und wer sind diese Opfer? Es sind das die besseren Schüler, die in den örtlichen Schulen ihr Studium absolvirt haben, und Zirkel zum Studium und zur Propaganda der sozialen Lehren unter den Arbeitern und ihren Genossen gründeten. Es sind das die besten Arbeiter, zuweilen Autodidakten, die die besten Ideen ihres Jahrhunderts predigten. Es sind das Dorfschullehrerinnen, die die Bauern über ihre Lage aufklärten. Hingeschleppt an die Gestade des Eismeeres, in die Wüstenmoräste Sibiriens und dort ohne Eristenzmittel, ohne die mindeste Existenzmöglichkeit, dent Hunger, der Willkür brutaler Beamter preisgegeben, bleiben sie den einmal erlangten Ueberzeugungen dennoch treu.
Während des kurzen Regimentes von Loris- Melifow wurden alle Mittel angewendet, die Verbannten zu Gnadengesuchen zu veranlassen, in denen wenigstens ein Schatten von Reue oder eines Versprechens, sich zu bessern vorgekommen wäre. Wer ein solches Gesuch einreichte, wurde sofort in Freiheit gesetzt. Und doch gelang es den Behörden bei allen Anstrengun gen, aus der ganzen Masse von Unglücklichen nur bei 20-30 Mann ein solches Gesuch zu erzwingen; die Uebrigen blieben unerschütterlich und wollten nicht die Freiheit gewinnen um den Preis eines auch nur erheuchelten Verrathes an ihrer Fahne. Auf solche Genossen kann man bauen; sie werden einen vorzüglichen Kern zu einer massenhaften sozialisti schen Organisation in Rußland bilden, wenn die Möglichkeit zu einer solchen eintritt. Ihnen diesen Moment erleben zu helfen, ist die Pflicht eines Jeden, der den Triumph des Sozialismus herbeisehnt.
Deutsche Sozialisten, Eure freudige Opferwilligkeit für die Opfer Eueres Kampfes ist mir Bürgschaft, daß Ihr mich verstehen werdet. Die Solidarität, die alle Kämpfer des großen Kampfes für Freiheit und Wohl aller Glieder der großen Menschenfamilie vereinigt, wird das Uebrige thun! Mit sozialistischem Gruß
Sassulitsch.
*) Wir glauben, daß dieser Brief aus verschiedenen Gründen verdient, von den Genossen allerorts gelesen zu werden.