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Sozialpolitische Rundschau.
Zürich , 8. Februar 1882. Zahlen reden. Noch immer gibt es harmlose Gemüther, welche glauben, die bestehenden friedlichen" Zustände würden noch lange währen und wir noch lange Zeit vor den Schrecken" einer Revolution bewahrt bleiben.
Die Zahlen der Statistik reden anders. Sie zeigen klar und deutlich, daß wir mit Sturmeseile dem Bankerott der kapitalistischen Gesellschaft entgegeneilen. Ebenso wenig, als wir die Revolution ma chen können, ebenso wenig können wir sie auch nur um einen Tag hinausschieben, selbst wenn sie uns unangenehm wäre, wozu aber für das revolutionäre Proletariat, das nichts zu verlieren und Alles zu gewinnen hat, nicht der mindeste Grund vorliegt.
Am sprechendsten unter den„ objektiven" Zahlen sind die der Heirathsfrequenz. Es ist bekannt, daß in guten Zeiten viele Ehen geschlossen werden, in schlechten wenige. Die Ziffer der Eheschließungen ist also ein vollkommener Barometer des Zustandes der Gesellschaft. Sehen wir uns daher diese Ziffern näher an. Es betrug die Zahl der Eheschließungen in
1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 201,267 205,615 202,010 201,212 201,874 194,352 190,054 181,719 423,900 416,049 400,282 386,746 366,912 347,810 340,016 335,113 352,754 321,238 303,113 300,427 291,366 279,094 279,650 282,776 40,084 40,598 40,328 39,050 38,228 36,964 36,669 37,421 30,189 31,671 31,353 31,553 31,699 31,470 30,710 30,655 192,406 194,815 189,017 180,349 176,148 161,337 164,233 169,088 202,361 214,906 207,997 230,486 225,453 214,972 199,885 213,096 Eine noch deutlichere Sprache als diese absoluten reden die relativen Zahlen:
Es betrug die Zahl der Eheschließungen auf je zehntausend Köpfe in 1872 1873 1874 1875 1876 1877 18781879
England und Wales
Desterreich
Italien
77
87 88 85 84 83 79 76 72 103 100 95 91 85 80 77 75 98 89 83 82 79 75 77 76
75 76
72 72 68
67 68
83
86 84 83 82
93
93 89 84 81
81 74
75
80 77 84 81
77
77 76 74 76 70 175
Welche rapide Abnahme der Ehen! Namentlich in den beiden Musterländern Deutschland und Desterreich, wo bekanntlich die Polizei das Wohl der Arbeiter am meisten überwacht!
In Deutschland hat sich die Zahl der Eheschließungen von 1872 bis 1879 um nicht weniger als 88,787 vermindert, in Oester reich von 1873 bis 1877 um 33,478, in Deutschland per je 10,000 Köpfe um 28, in Desterreich um 19.
Um mehr als den vierten Theil haben die Eheschließungen in Deutschland abgenommen!
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Eines der mächtigsten Motive in der menschlichen Brust ist die Geschlechtsliebe die Ehe diejenige Institution, welche unter den heutigen Verhältnissen allein die Möglichkeit bietet, diesen Drang ohne Gefährdung seiner selbst oder die eines anderen Wesens zu befriedigen. Von welcher Summe von Elend und Noth sprechen diese Zahlen, welche Zunahme der Prostitution, der Geschlechtskrankheiten, der Verzweiflung verkünden fie uns!
Einen Kommentar dazu bietet die Selbstmordstatistik. In der Periode von 1871-1875 tamen jährlich in Europa 99 Selbstmorde auf eine Million Einwohner. Von 1875-1880 dagegen deren je 119, also eine Zunahme von 20% in fünf Jahren!
Welch verrottete Zustände!
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Und was thun die herrschenden Klassen? Nichts, nichts und wieder nichts! Alle ihre Reformvorschläge sind Flunkereien, mit denen sie theils das Volk, theils sich selbst zu täuschen versuchen. Die Pfaffen in Bayern heulen nach Bestrafung des Konkubinats, um die Arbeiter zu zwingen, Ehen einzugehen. Die vornehmen Herren ob weltlich ob geistlich dürfen sich nach wie vor so viel Dirneu halten als sie vom zusammengescharrten Schweiße des Volkes zu zahlen vermögen, der Arbeiter aber muß heirathen, denn der verheirathete Arbeiter ist das beste, wiederstandsunfähigste Ausbeutungsobjekt. Je mehr Kinder, um so williger der Vater, um so billiger die Arbeit.
Abschaffung der Zivilehe! heult in Nord und Süd der Pfaffentroß, deffen Sporteln abnehmen: der Staat muß wieder christlich werden! Und um für diese Verchristlichung, das will heißen Verpfaffung des Staates, die Massen zu gewinnen, haben sie die große Lüge vom christlichen" Sozialismus erfunden, diesen Sozialismus, der die Ausbeutung nicht beseitigt, dem Kapitalismus nicht wehe thut, die politische und ökonomische Ungleichheit vielmehr heiligt und verewigt.
Und mit diesem Wechselbalg will man das Elend, welches aus den obigen Zahlen flammende Worte zu jedem redet, der zu lesen versteht, aus der Welt schaffen! Nicht doch, nicht aus der Welt schaffen, nur hinauslügen, vertuschen, verbergen! Dulden soll der Proletarier nach wie vor, aber er soll schweigend dulden. Hallelujah und Kyrie eleyson sollen den Ruf nach Freiheit und Brod übertönen.
Ihr täuscht Euch, fromme Brüder in Christo. Eurer Liebe Müh' ist umsonst. Mit Euren Hostien sättigt Ihr keinen Verhungernden! Und all' Eure himmlische Weisheit, alle Eure Taubenklugheit und Schlangenunschuld wird zerschellen an den beiden mächtigen Faktoren, welche die Menschheit von jeher bewegt haben und bewegen werden, an Hunger und Liebe!
Ueber Stieber, dessen Tod wir in voriger Nummer berichteten schreibt uns ein Genosse aus Deutschland :
"
Einer der größten Hallunken des neunzehnten Jahrhunderts ist gestorben, der Erzschuft Stieber, der, wie fanm ein zweiter, die ganze Infamie des Polizeistaates in seiner Person verkörperte. Dieser Mann gehört der Geschichte an er ist ein Stück preußischer und deutscher Geschichte. Und merkwürdig: die Nekrologe, welche die deutschen Zeitungen ihm schreiben, lassen durchweg seine politische Karriere erst im Jahr 1848 beginnen. Damals war aber Herr Stieber schon eine Berühmtheit, hatte sich schon die Unsterblichkeit der Infamie erworben. Freilich nicht unter seinem eigenen Namen. Als ,, Maler Schmidt" hatte er in der Mitte der 40er Jahre die schlesischen Hungerdistrikte bereist, eine„ kommunistische Verschwörung" angefertigt und gegen eine Anzahl der Regierung mißliebiger Männer, darunter den Lehrer Wander und den Fabrikanten Schlöffel, eingefädelt. Die Geschichte dieser kommunistischen Verschwörung", die von der heutigen Generation leider fast ganz vergessen ist, wurde von Schlöffel und noch ausführlicher von Wander in seinem 3 Jahre aus meinem Leben"*) geschrieben. Auf lettere Schrift, die von einem Gönner des Hrn. Stieber auf Grund des Sozialistengesetzes verboten ward, von der Reichskommission aber wieder freigegeben werden mußte, machen wir die Leser ganz besonders aufmerksam. Da sehen sie Herrn Stieber in seiner Glorie; und in der Person des Herrn Stieber steht der preußische Polizeistaat am Schandpfahl.
Auf den Lorbeeren des Malers Schmidt ruhte Herr Stieber sich einige Zeit aus, bis das ,, tolle Jahr" 1848 ihn wieder in die Oeffentlichkeit brachte. Als nach dem großen Krach" des 18. März Friedrich Wil helm IV. den famosen Umritt mit seinen lieben Berlinern" hielt, die er Tags zuvor so liebevoll hatte zusammenkartätschen lassen assistirt von seinem Bruder, dem jetzigen Heldengreis", da war er flankirt auf der einen Seite von dem hauswurstigen Thierarzt Urban, auf der *) Im Verlag der Genossenschaftsbuchdruckerei in Leipzig erschienen.
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andern von dem Hrn Referendar Dr. Stieber, welch' letzterer eine schwarz- roth- goldene Fahne schwenkte. Ein schönes Bild!
Ein Schächer rechts, ein Schächer links
Der Hohenzoller in der Mitten!
könnte man den Goethe'schen Vers*) abändern.
Maler Schmidt war begraben, der Referendar Dr. Stieber lebte in dulci jubilo, spielte den Ultrademokraten und sonnte sich in den Strahlen erworbener Volksgunft. Er hatte damals sogar die Frechheit, von der Neuen Rheinischen Zeitung ", die an seine Schmutzvergangenheit erinnert und ihm die Demokratenmaske vom Gesichte gerissen hatte, eine Ehrenerklärung zu verlangen, wofür ihm aber von Mary die gebührende Züchtigung ertheilt ward.
Die Reaktion" kam, und die Demokratenmaste hatte keinen Sinn mehr. Der Demokrat wurde begraben und der„ Maler Schmidt" feierte seine Auferstehung. Und mit dem„ Maler Schmidt" die„ kommunistische Verschwörung". Aus einer schlesischen Lokalverschwörung wuchs sie zu einer ganz Deutschland umfassenden und über die Grenzen Deutschlands hinausreichenden furchtbaren, Staat und Gesellschaft in ihren Grundfesten bedrohenden Verschwörung mit obligatem Hochverrath.
Der Kölner Kommunistenprozeß, zu dem Herr Stieber die erweiterte und verbesserte Auflage seines vorachtundvierziger JugendOpus verwerthete, bildet den Glanzpunkt Stieber'scher Polizeigröße. Der Mann hatte seit der Maler Schmidt- Episode auch entschiedene Fortschritte in der Niedertracht gemacht. Er fälschte unverschämter und umfangreicher. Man denke nur an das berühmte Protokollbuch. Wer die Details dieser konzentrirten Polizeinfamie, genannt ,, Kölner Kommunistenprozeß ", nicht in frischem Gedächtniß hat, der lese die klassische Schrift von Mary. Und nicht blos Polizei infamie, auch Richter infamie. Die Opfer der Stieber'schen Fälschungen wurden verurtheilt.
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Daß Stieber nach allerhand Abenteuern worunter notorische Spitzbübereien mit Schwindeleien 1866 Vertrauensperson des Königs von Preußen war und im 1870-71er Krieg einen ähnlichen Vertrauensposten einnahm, ist eine ebenso bekannte, als die Bismarck- Heldengreisliche Nationalpolitik brandmarkende Thatsache. Der Stieber paßte offenbar zu den Hohenzollern , war für sie prädestinirt; 1848 für Friedrich Wil helm IV. , 1866 und 1870-71 für Wilhelm I. Niemand kann seinem Verhängniß entgehen. Die letzten Thaten Stieber's find: Westerwelle, die Kullmannia de und eine Reihe von Polizeischurkereien, die in dem berüchtigten Hochverrathsproß des vorigen Herbstes( vor dem Reichsgericht) an den Tag gekommen sind.
Welche Rolle Stieber bei den Attentaten des Schandjahres 1878 ge= spielt, ist noch nicht ganz aufgeklärt. Wie wir aus authentischer Quelle wissen, hatte der deutsche Kronprinz den Lump Stieber im Verdacht, die Hödel- Lehmann'sche Blindschießerei inszenirt zu haben.
Stieber ist todt
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seine Freunde und Gönner leben; das System, zu dessen Hauptträgern er zählte, besteht fort. Ein Pfui! über den todten Stieber! Mögen seine Freunde und Gönner nicht gleich ihm durch den Tod dem strafenden Arm der Gerechtigkeit entrissen werden! Und ein Fluch dem System Stieber, das zu keiner Zeit in Deutschland so florirt hat wie gegenwärtig!
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Arbeiter oder Viehstatistik? Als im deutschen Reichstag jüngst über die vorzunehmende Berufsstatistik debattirt wurde, welche die Grundlage abgeben soll zu der geplanten Sozialreform des großen" Sozialpolitikers, da stellten unsere Genossen Kräcker und Frohme die Forderung, in die Fragebogen auch folgende Fragen aufzunehmen:
Ist die gegenwärtig in Industrie, Handel oder Gewerbe ausgeübte Beschäftigung, resp. Dienstleistung als Beruf erlernt, und wenn nicht, welche anderen?
Wie hoch betrifft sich der Tag, Wochen- oder Monatsverdienst oder der durchschnittliche Verdienst der Affordarbeiter pro Tag? Ob zur Zeit arbeitslos und wie lange, und welche Einbuße an Verdienst nach Maßgabe des letzten Verdienstes erlitten?
Die Nothwendigkeit dieser Fragen zur Erzielung eines einigermaßen zuverlässigen Bildes über die sozialen Verhältnisse der Jetztzeit liegt auf der Hand. Unsere Genossen wiesen sehr richtig darauf hin, wie z. B. die gegenwärtigen Bestrebungen auf Wiedereinführung der Innungen erst durch Beantwortung der ersten Frage nach ihrem wahren Werthe beurtheilt werden können, wie nothwendig eine zuverlässige Lohnstatistik iſt, um die Wirksamkeit der sozialen Reformprojekte kritisiren zu können, und von welcher Bedeutung eine Statistik nicht der„ Vagabunden", wie der klerikale Junker von Ludwig meinte, sondern der Arbeitslosen
wäre.
Und was that der hohe" Reichstag diesen Anträgen gegenüber? Mit einigen leeren Redensarten, wie man dürfe sich die Aufgaben nicht zu weit steden, man müsse sich eine gewisse Beschränkung auferlegen 2c. gingen die Herren, Konservative wie Liberale, über diese unangenehmen Fragen hinweg und stritten sich lieber über den Antrag der Konservativen, daß mit der Berufsstatistik eine Vieh zählung verbunden werden solle. Und als es zur Abstimmung kam, siehe, da wurde die Viehzählung mit großer Majorität genehmigt, die Anträge unserer Abgeord neten aber flogen unter den Tisch.
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Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, bemerkte uns ein Arbeiter trocken, als er von diesem Vorgehen der„ Erleuchteten" des deutschen Volkes erfuhr, und mit diesem Wort traf er das herrschende System auf den Kopf. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!" Je unbestimmter, je verschwommener die Verhältnisse dargestellt werden, um so mehr Gelegenheit, in's Allgemeine hineinzuschwätzen, allerhand Sozialpfuscherei zu treiben, jeder wirklichen Reformmaßregel aus dem Wege zu gehen. Die Herren, rechts wie links, vom Regierungstisch wie von der bürgerlichen Opposition, haben Grund, eine ernsthafte Statistif unserer sozialen Zustände zu fürchten, und so sehr sie sich sonst bekämpfen, in diesem Punkte herrscht unter ihnen die stillschweigende Uebereinkunft, den Schleier des Bildes nicht zu liften.
Die Berufsstatistik, wie sie der Reichstag beschlossen, wird Bismarck Material liefern, allerhand Humbug zu treiben, und den Herren Richter, Bamberger und Konsorten Gelegenheit geben, diesem Humbug in„ glänzenden" Reden ihren Humbug gegenüberzustellen. Das parlamentarische Sozialreform- Ballwerfen wird mit Grazie fortgesetzt, und der Arbeiter hat das Recht, mit aufgesperrtem Maule zuzuschauen, von Zeit zu Zeit einen geschickten Wurf mit Hurrah! zu begrüßen und, wenn das Werfen pausirt, sich mit dem trostreichen Bewußtsein niederzulegen, demnächst genaue Auskunft zu erhalten über den- Viehstand im deutschen Reiche.
Der Kulturkampf ist todt, es lebe der Kulture kampf. Diesmal gilt's aber nicht den Pfaffen, sondern der Börse. Unser Leitartikel war bereits gesetzt, als die Nachricht eintraf, daß die Verluste seiner„ höchsten“ und„ allerhöchsten" Freunde beim jüngsten Börsenkrach die ganze feudal- christlich- konservative Sippschaft sitzt trot
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allen Ableugnens bei der Union generale" des ultramontanen Bontour drin Deutschlands großen" Kanzler in die sittlichste Entrüstung über die Immoralität des Börsenspiels versetzt haben. Hundsfott, wer schlecht darüber denkt! Das Börsenspiel ist ja in der That höchst unmoralisch, besonders wenn man dabei verliert! Also Kulturkampf gegen die Börse! Wie ernst es dem großen Kanzler mit diesem ist, geht aus der Thatsache hervor, daß er zu den Berathungen, wie dieser Kulturkampf am besten zu führen, seinen Falk, den Ex, Edelfalken" des Natio
Prophete rechts, Prophete links,
Das Weltkind in der Mitten." ( Die 2 Propheten waren Lavater und Basedow , das Weltkind Goethe selbst.)
nalliberalismus, zu Rathe gezogen. Welche treffende Selbstironie liegt in der Wahl dieses Rathgebers!
Niemand repräsentirt besser als Herr Falk die Ohnmacht des heutigen Staates, auf irgend einem Gebiete radikale Reformen durchzuführen. Wie sein kirchlicher Kulturkampf an der Halbheit zu Grunde ging, so muß auch sein Börsenkulturkampf elendiglich scheitern, denn jeder ernsthafte Schlag gegen die Börse würde den Kapitalismus, das materielle " Fundament" des heutigen Bourgeoisieftaates, ebenso treffen, wie jeder ernsthafte Schlag gegen die katholische Kirche das ganze kirchliche Verdummungssystem, dieses sittliche Fundament" der heutigen Gesellschaft, getroffen hätte. Mag er deshalb auch mit noch so großer Wucht ausholen, wenn sein Hammer niedersaust, wird ihm zu rechter Zeit" irgend eine hohe Person" in den Arm fallen und rufen:„ Halt! So war's nicht gemeint, das verlegt ja auch Meine berechtigten Interessen!" Darum nur keine Angst, Ihr großen und kleinen Jobber! Von der Seite wird man Euch nichts zu Leide thun. Bismarck und Konsorten brauchen die jüdischen Fixer ebenso nothwendig, wie sie den priesterlichen Flaumacher brauchen. Eine kleine Erhöhung der Schlußscheinsteuer, und die Sache ist abgemacht.
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Für den Ausfall wird er Euch schon anderweitig entschädigen!
Nein, eine ernsthafte Feindschaft zwischen Bismarck und der Börse ist gar nicht denkbar. Die Börse war ja stets seine getreueste Helfershelferin. Wer hat zuerst nach Schutzöllen geschrien? Die Börse. Wer hat gegen anständigen Rabatt die Verstaatlichungen der Eisenbahnen, negoziirt"? Die Börse? Wer schwärmt" jetzt wieder für die staatliche Falschmünzerei, genannt Doppelwährung? Die Börse. Und wer erträgt dabei mit heroischer Duldermiene die Angriffe der für die Uebertölpelung des„ kleinen Mannes" bestimmten Schimpfpresse? Immer wieder die Börse! Und einem so brauchbaren Institut sollte Bismarc ernstlich zu Leibe gehen? Fällt ihm gar nicht ein!
Einen tragikomischen Eindruck machen die krampfhaften Versuche der bei Bontour hineingefallenen weltlichen und geistlichen Herrschaften, ihre Verluste in Abrede zu stellen. Dementi folgt auf Dementi, und wer den Humbug nicht kennt, der mit diesem Dementiren( auf deutsch : a bleugnen) getrieben wird, sollte wirklich meinen, der Bontour habe nur sein eigenes Geld und das Geld seiner Aktionäre verpulvert. Die Klerikalen wollen plötzlich mit Bontour nichts zu thun haben, während thatsächlich feststeht, daß die„ Union generale" sich eines eigenhändigen Segens von Papst Leo XIII. erfreute. Der serbische Minister schreit in die Welt hinaus, daß seine Regierung beim Krach der„ Union " gar nichts verliere, während alle Welt weiß, daß es sich um Millionen handelt, mit denen die neue„ Großmacht" hineingefallen ist. Ebenso hat Heinrich von Froschdorf, genannt Graf Chambord, zu dessen Wiedereinsetzung auf den Thron von Frank reich die„ Union " die Mittel beschaffen sollte, keinen Heller bei Bontour eingebüßt- wenn man den Zeitungen Glauben schenken würde. Und Franz Joseph hat den Bontour nicht aus Habsburgischer Geldgier mit lukrativen Konzessionen überschüttet, die allergnädigsten Audienzen hatten nicht den Zweck, die Kapitaleinlage und Gewinn betheiligung Sr. apostolischen Majestät festzustellen, sondern lediglich das Interesse seines Volkes bestimmte den geliebten Herrscher von DesterreichUngarn, den unternehmungsluftigen Franzosen für Desterreich zu gewinnen. So sagen es die offiziösen Dementi's und wer's nicht glaubt, verdient gegen die südslavischen Räuber- und Diebsbanden" die„ höhere westeuropäische Kultur" zu vertheidigen.
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,, Unmoralisch, höchst tadelnswerth, im höchsten Grade verwerflich" erklärten die Herren im Reichstage die Wahlbeeinflussungen der Fabrikanten gegen ihre Arbeiter, als unser Genoffe Liebknecht die ungültigkeitserklärung der Wahl des im Wahlkreise Frankenthal Speyer nur mittelst des kolossalen ökonomischen Druckes gewählten nationalliberalen Fabrikanten Groß verlangte. Das ist doch gewiß anerkennenswerth, und der gemeine Mann würde mit seinem beschränkten Unterthanenverstande daraus schließen, daß eine mit solchen im höchsten Grade verwerflichen Mitteln erzielte Wahl nun auch für ungültig erklärt werden müßte. Fehlgeschossen, lieber Freund, es entspricht nicht der Praxis des Reichstages, aus derartigen im höch- sten Grade verwerflichen Mitteln einen Grund herzuleiten, eine Wahl zu beanstanden. Ja, die amtliche Wahlbeeinflussung, das ist ganz etwas Anderes, da könnten ja auch die Herren Fabrikanten, Kaufleute 2c. selbst einmal drunter leiden, wollten sie aber die wirthschaftliche Beeinflussung abschaffen, so müßten sie fast sammt und sonders selbst aus dem Tempel hinaus, die Herren Fortschrittler nicht zuletzt.
Beiläufig ist die„ amtliche" Wahlbeeinflussung, soweit sie nicht in Verhaften und Konfisziren besteht, für Arbeiter sehr ungefährlich. Die kümmern sich den Teufel um den Herrn Landrath. Die Bourgeoisie aber muß sich gut mit ihm stehen, damit er ihr allerhand Liebesdienste erweist 2c. Daher die endlosen Reden der Richter und Genossen gegen die amtlichen Beeinflussungen.
Wie aber die ganzen Institutionen der heutigen Gesellschaft un moralisch, höchst tadeln swerth, im höchsten Grade verwerflich sind, so verträgt sie es auch sehr gut, wenn ihre Wahlen nach denselben Grundsätzen vor sich gehen. Das bezeugt die bewährte Praxis bei den Wahlprüfungen."
Nichts natürlicher als das nämlich daß Minister Maybach den Packhof in Berlin verlegen will, da der bisherige den gewachsenen Ansprüchen nicht mehr genügt. Daß er ihn neben dem Güterbahnhof der Berlin- Lehrter Eisenbahn anlegen will, daß zu diesem Zweck das angrenzende Terrain vom Staat angekauft werden muß gibt es Etwas selbstverständlicheres? Und daß gerade dieses Terrain zur Zeit Bismarcks Liebling, dem Botschafter Graf Paul Haßfeld, der noch vor Jahresfrist wegen gänzlich zerrütteter Finanzen akkordiren mußte, gehört wer wagt es, das nicht natürlich zu finden im Reiche der Gottesfurcht und frommen Sitte? Wir nicht, wir sind sogar fest überzeugt, daß der Herr Graf und seine stillen Kompagnons bei diesem Geschäft nichts verlieren werden, denn der preußische Staat kann zahlen, er hat's dazu. Man frage nur bei den Unterbeamten nach; die führen ein wahres Götterleben. Warum sollte also der preußische Staat gerade bei dieser Affäre knickern?
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Kapitalistische Pädagogie. Eine tugendhafte Kapitalistenseele ergeht sich in der„ Gladbacher Zeitung", und findet in der „ Norddeutschen Allgemeinen" ein promptes Echo, in herzbrechenden Klagen über die Bestimmung der Gewerbeordnung, daß Kuaben zwischen 14 und 16 Jahren nur höchstens 10 Stunden in Fabriken beschäftigt werden dürfen, das sei der wahre sittliche Ruin unserer„ heranwachsenden Jugend". So lange es nicht gestattet ist, 14-16jährige Knaben mit voller Stundenzahl( d. h. nach Belieben der Herren Aus beuter) in den Fabriken zu beschäftigen, nehmen die Fabrikherren in der Regel Knaben dieses Alters nicht an." Darum weg mit dieser Bestimmung, welche die Knaben in der Zeit der wesentlichsten körperlichen Entwickelung vor Ueberanstrengung schützen soll, denn es wäre ein wahrer Segen für diese Jungen, für ihre Eltern und für uns, wenn sie mit voller Stundenzahl zur Fabrik an die Arbeit gehen könnten."
Man müßte ein Herz von Stein haben, um nicht durch dieses Klagelied gerührt zu werden. Sicher wird der große Sozialreformator" ein Einsehen haben und die böse Bestimmung aufheben lassen. Was den 14-16jährigen Knaben aber recht ist, das ist den 12-14jährigen billig, auch sie verkommen moralisch, wenn sie nicht ununterbrochen in den Fabriken beschäftigt werden. Also nur gleich ordentlich aufgeräumt mit der falschen Humanität". Es lebe die Ausbeuterfreiheit und Fabrikspädagogie!
Das ist der christliche" Staat ohne Phrase.