während die mittleren und höheren Kategorien weit mehr Haushaltungsvorstände, d. h. also verhältnißmäßig mehr Köpfe repräsentiren. Die Thatsache ist unbestreitbar; wenn wir die Zahlen der Gesammtbevölkerung in Betracht ziehen, so verschieben sich die Prozentsätze einigermaßen, und die unterste Kategorie erscheint fleiner. Dagegen zeigt der Vergleich von 1881 gegen 1877 ganz dieselbe Entwickelung wie die Statistik der eingeschätzen Personen.
Von der Gesammtbevölkerung gehören zur Klasse der
1877
1881
Steuerbefreiten
1. Stufe
6,425,533 8,448,526
Prozentsatz 25-35 33.34
Prozentsatz
7,825,761
29-29
8,818,340
33.01
dürftige
14,874,059
58-69
16,644,121
62:30
8,367,400
33-01
7,906,542
29.59
mittlere
1,508,505
5.95
1,520,119
gute
520,553
2.05
563,922
reichliche
67,352
0.27
73,030
sehr große
8,408
0.03
8,967
5.69 2.11 0.28 0.03
fleine
25,346,277 100.00 26,716,701 100.00
-
Auch hier sehen wir, daß der Zuwachs der Angehörigen der untersten Klasse, der Steuerbefreiten, von 1,400,248 Personen den der Gesammtbevölkerung- 1,370,424 noch übersteigt, während er bei gleichen Verhältnissen nur 347,635 hätte betragen dürfen. Dagegen ist die Klasse der kleinen und mittleren Einkommen, sowohl was die Zahl der Erwerbenden, als auch was die Gesammtzahl ihrer Angehörigen anbetrifft, relativ und absolut zurückgegangen. Es ist dies, wie Samter mit Recht sagt, das denkbar ungünstigste Resultat. ,, Mögen diese Zusammenstellungen", schließt er, dazu beitragen, daß die Reformbedürftigkeit unserer gesellschaftlichen Zustände von immer größeren Kreisen erkannt werde."
"
Ein edler Wunsch, dem wir uns von Herzen anschließen. Aber mit der Erkenntniß der Reformbedürftigkeit allein ist es noch nicht gethan, es muß auch aus diesen Zahlen erkannt werden, nach welcher Richtung sich diese Reformen zu bewegen haben.
Daß mit der ganzen vielgepriesenen Bismarckischen Sozialreform an dieser denkbar ungünstig ft e n" Entwickelung gar nichts geändert wird, liegt auf der Hand. Die Kranken-, Unfall- und selbst die in nebelgrauer Ferne liegende Altersversicherung schützen, selbst wenn sie auf wirklich arbeiterfreundlicher Basis durchgeführt würden, den Proletarier nicht vor Noth und Elend, so lange er nicht verunglückt, frank oder im eventuell pensionsberechtigten Alter ist, sie schützen vor allen Dingen den Handwerker und Arbeiter nicht vor weiterer Verarmung, geben keinerlei Gewähr gegen Sinken der Löhne und Steigerung der Lebensmittelpreise. Daß die Schutzpolitik in Deutschland die Lage der Arbeiter in feiner Weise zu verbessern vermag, sondern sie im Gegentheil noch bedeutend verschlechtert, liegt heute auf der Hand. Sind doch die Zahlen von 1881 schon aus einem Jahre der vielgepriesenen Schutzzollära. Das Bismarckische Rezept, von dem ja auch Herr Samter nichts wissen will, tommt also außer Betracht.
Aber was dann? Mit dem Manchestergaul kommen wir ebenso wenig vorwärts, sonst hätte ja der Satz von der Reformbedürftigkeit unserer gesellschaftlichen Zustände" feinen Sinn. Er muß vielmehr, soll er keine bloße schönrednerische Phrase sein, auf eine Aenderung unserer Einkom mens- und in logischer Folge unserer Eigenthums verhältnisse abzielen.
Wenn man nun die obigen Zahlen betrachtet und sieht, welche erdrückende Zahl von dürftigen Einkommen der der großen gegenübersteht, so sollte man fast meinen, selbst bei einer gleichen Vertheilung des Gesammteinkommens werde für den Einzelnen nicht viel mehr herausschauen, die Geschichte mit Rothschild's Pfennig sei doch nicht so ganz ohne. Es ist dem aber nicht so. Wir finden da in der Abhandlung noch eine der Steuerbehörde. Nach derselben betrugen 1881 die Einkommen der Mr. 1,651,117,020 Steuerbefreiten
1. Steuerstufe
"
1,788,581,520
dürftigen Einkommen Mt. 3,439,698,540
776,583,600
fleinen mittleren
"
"
2,057,666,550
814,273,200
guten
"
reichlichen
"
"
sehr großen
"
339,817,200) 203,726,000
Wit. 7,631,765,090 Samter meint nun, und wer die Verhältnisse einigermaßen kennt, wird ihm darin Recht geben, daß diese Summe entschieden zu niedrig ist, und daß man, um der Wahrheit näher zu kommen, mindestens ein Viertel zu derselben zuschlagen muß. Darnach beläuft sich das GesammtJahreseinkommen der Bevölkerung Preußens auf zirka 10 Milliarden Mart. Bei einer Bevölkerung von 26,716,701 täme somit, bei gleichmäßiger Vertheilung dieses Einkommens, auf den Kopf derselben 375 Mart, auf eine fünfköpfige Arbeiterfamilie eine Jahreseinnahme von 1,750 Mart, beziehungsweise eine Wocheneinnahme von 33,65 Mart. Man sieht, daß wenn nicht nur Rothschild, sondern auch die halben, die viertels, und die Achtelsrothschilds wirklich einmal anfingen,
sei es aus chriftlicher Menschenliebe, sei es aus Angst oder per Muß- ernsthaft zu theilen, die Sache sich für mehr als fünf Sechstel der Bevölkerung sehr gut rentiren würde. Denn wo finden wir heute eine Arbeiter, wo eine untere Beamten- oder Handwerkerfamilie, welche ein Einkommen von 1750 Mart bezieht?
Es würde also, selbst wenn in der sozialisirten Gesellschaft die Produktion keine Erhöhung erfahren würde, bei fommunistischer Vertheilung der Produkte die Lebenshaltung der großen Masse der Bevölkerung auf jeden Fall eine erhebliche Besserung erfahren. Nun wird aber infolge erstens des Verschwindens der bedeutenden Zahl der Nichtsthuer und zweitens allseitiger Durchführung der Produktion auf großartigstem und erfahrungsgemäß erträglichstem Maßstabe die Letztere eine so bedeutende Steigerung erfahren, daß selbst diejenigen, welche heute den höchsten Satz der mittleren Einkommen beziehen( 3,000 Mt.) in der kommunistischen Gesellschaft nicht zu kurz kommen werden. Es bleiben dann höchstens- immer die preußischen Verhältnisse vorausgesetzt 1,94 Prozent der Erwerbenden, bezw. 2,42 Prozent der Bevölkerung übrig, welche ein wirkliches ökonomisches Interesse gegen Einführung des Kommunismus haben könnten.
-
-
was
Jedenfalls aber lehrt die obige Statistik, daß eine Verschiebung der Einkommensverhältnisse im Sinne einer Verbesserung der Lage des Proletariats, der dürftigen und niederen Einkommen" möglich und nothwendig ist. Auf welche Weise aber kann sie erreicht werden? Daß weder Schußhandel noch Freihandel, weder Zünfte noch Jnnungen, weder industrielle Theilhaberschaft noch Schulze'sche Genossenschaften, weder Spar noch Konsumvereine im Stande sind, auch nur nennenswerthe Verbesserungen in den Einkommensverhältnissen der Arbeiter zu bewirken, ist zum Theil durch die Erfahrung bewiesen, zum Theil wird es z. B. die Zünfte anbetrifft auch nicht einmal behauptet. Lohnerhöhungen durch Streiks 2c. wären, wie in früheren Artikeln gezeigt wurde, bis zu einem gewissen Grade dazu geeignet, aber ihre Vortheile werden durch Geschäftsstockungen, neue Erfindungen und dergleichen bald paralyfirt es bleibt, wohin wir auch blicken mögen, kein anderer Weg übrig, als direktes Eingreifen der organisirten Gesellschaft in die Produktionsverhältnisse zu Gunsten des Proletariats. Wer ist aber die Gesellschaft? Die obigen Zahlen zeigen es. Es find 92 Prozent Hungernde und Darbende, 6 Prozent Genießende und 2 Prozent Schwelgende. Die Genießenden und Schwelgenden haben natürlich keine Luft, in diesem Sinne einzugreifen, sollten aber die 92 Prozent Hungernder und Darbender nicht mit der Zeit einmal Luft dazu bekommen?
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Left sie noch einmal genau durch, die todten und doch so beredtsamen Zahlen, Ihr Proletarier der Muskel und des Hirns, diese Zahlen, die Euch immer und immer wieder das Schreckenswort der kapitalistischen Ausbeutergesellschaft zurufen:„ Lasciate ogni speranza voi che entrate"
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Laßt jede Hoffnung fahren, die Ihr hier eintretet, left aus ihnen heraus, wenn Ihr sie noch nicht an Euch selbst gefühlt habt, die Verurtheilung zu immer tieferem Elend, zu immer grauenhafteren Zuständen, left diese grausamen, vernichtenden Zahlen und dann antwortet: Wollt Ihr?
Aus der Reichshauptstadt.
Leo.
Wir haben zwar schon in voriger Nummer die letzten Ausweisungen aus Berlin und die sich an dieselben knüpfenden Vorgänge besprochen, wir denken aber, daß die nachstehenden, uns direkt zugehenden Briefe über dieselben es wohl verdienen, an hervorragender Stelle im Parteiorgan veröffentlicht zu werden. Sie sind nicht nur interessant und erhebend, sie sind auch im hohen Grade politisch belehrend belehrend sowohl was die heutigen Zustände als auch namentlich was die Moralität ihrer Träger anbetrifft.
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Allerlei aus Berlin . Wie ein feuerspeiender Berg zeitweilig durch glühende Lärmausbrüche der Außenwelt zu beweisen trachtet, daß er noch der alte ist und alles in seinem Innern brodelt und glüht, so ergeht es auch unserer Polizei mit der Handhabung des kleinen Belage rungszustandes. Man könnte ja leicht zu dem Glauben kommen, sie sei menschlich geworden und habe Schamgefühl bekommen, wenn sie nicht von Zeit zu Zeit eine Reihe menschlicher Existenzen und glücklicher Familienleben mit ihrer brutalen Faust zerstörte.
Ein solch barbarischer Akt vollzog sich wieder in den Tagen vom 12. bis 15. Juli, wo abermals zehn unserer bravsten Parteigenossen die bekannten Dekrete zugeschickt erhielten, mit der Weisung, binnen 24 resp. dreimal 24 Stunden Berlin und das Gebiet des kleinen Belagerungszustandes zu verlassen.
Die Namen der Betroffenen find folgende: Sendig, Maschinenbauer, verheirathet, Vater von zwei Kindern; Strehmel, Tischler; Malchert, Eisendreher, verh., 1 Kind; Neumann, Tischler, verh., 3 Kinder; Wopciechowsti, Schuhmacher; Schulze, Tischler; Hertel, Fabritarbeiter, verh.; Reuter, Tischler, verh., 3 Kinder; Lauck, Maurer , verh.; Wintolf, Tischler, verh., 2 Kinder.
Die Ausgewiesenen gelten sämmtlich als sehr tüchtige Arbeiter und besitzen die ausgezeichnetsten Zeugnisse; einige von ihnen sind 12, 9, 7, 5 und 3 Jahre ununterbrochen in derselben Werkstatt oder Fabrik thätig. Doch was fragt die Polizei dar nach, je tüchtiger und solider ein Sozialdemokrat ist, je größer der fittliche Ernst ist, mit dem er seine Ueberzeugung erfaßt und vertritt, de sto gefährlicher ist er, und mit solchen Menschen muß aufgeräumt werden. Der Polizei ist nur mit charakterlosen Menschen und Lumpen gedient, und wenn sie solche nicht findet, da sucht sie solche zu machen. So wurden zweien der Ausgewiesenen, Hertel und Strehmel, von Polizisten 300 Mt. offerirt, wenn sie sich herbeiließen, die Verräther zu spielen; beide haben das Anfinnen mit Entrüstung zurückgewiesen, und dafür wurden sie auf's Pflaster geworfen und aus der Heimath gejagt.
Wir wiederholen: die Polizei kann nur Lumpe brauchen; wo rechtschaffene Leute und Charaktere sind, da fühlt sie sich genirt. Hier ein weiteres Beispiel:
Der Ausgewiesene Sendig soll den Empfang seiner Ausweisung bescheinigen. Sendig weigert sich dessen und erklärt: Wenn er jetzt noch nicht gewühlt habe, so werde er es fünftig erst recht thun. mußte the cause... Polizey, Puigende, Grycia anvi font the..nd weiß Sendig sich diesen zu entziehen; unglücklicherweise läuft er aber 24 Stunden später seinen Verfolgern in die Arme; er sucht sich ihnen abermals zu entziehen, aber die Geheimen verfolgen ihn noch per Droschke, holen ihn ein und schleppen ihn auf das 60. Polizeirevier in der Deminstrasse. Dort wird er, ohne daß man ihm etwas zu essen anbietet, in ein tellerartiges Gefängniß geworfen, aus dem man ihn am nächsten Morgen 4 Uhr herausholt und in den sog. Blechwagen zu Huren und ähnlichem Gesindel packt, um ihn nach dem Molkenmarkt zu transportiren, nachdem der Wagen auf der Rundfahrt bei so und so viel anderen Polizeirevieren seine volle Ladung erhalten.
Auf dem Molkenmarkt angekommen, wird Sendig nach mehrstündigem Warten der Kriminalpolizei übergeben, die ihn nach weiterem mehrstündigem Warten der politischen Polizei abliefert. Von dieser wurde ihm ein Polizist als Begleiter mitgegeben, der ihn direkt nach der Bahn schaffte. Während der ganzen Zeit, nehr als 24 Stunden, wurde Sendig ohne Nahrung gelassen.
Herauszuheben ist eine Aeußerung die der Polizeikommissar, Herr von Bodungen, gegen Sendig machte Er( B.) kenne Alles, er wisse, daß er( Sendig) das letzte Flugblatt geblt habe, und daß er sich zu diesem Zweck den Schnurrbart habe abnehnen lassen und einen Klemmer getragen habe. Auch die Organisation tenne er.
Kriminalpolizist Stuhlmann, deieinen vergeblichen Beftechungsversuch machte, sagte zu einem der Ausgewieenen: Wir wissen was Sie treiben, es hat sich einer bei mir angeboten, der ist aber aus dem Komité hinausgeworfen worden und kann mir nmalte aufgewärmte Sachen mittheilen, die ich nicht brauchen kann.
Der Lump, der sich dem Stuhlman als Spion angeboten haben soll, heißt Radenburg. Derselbe ha Gelder, die für die Familien der Ausgewiesenen gesammelt wurden, uterschlagen und riß aus, als er zur Verantwortung vor eine Anzahl Peteigenossen geladen wurde.
Nach der Abreise von Berlin erleten acht der Ausgewiesenen noch ein kleines Abenteuer in Leipzig . Dieselben waren von Berlin nach Dresden und von dort nach Leipziggefahren, hatten aber, da sie hörten, daß Liebknecht und Bebel agenblicklich in Borsdorf seien, dort einige Stunden Aufenthalt genmmen. Donnerstag, den 20. Juli, Mittags in Leipzig ankommend, wi Reuter, der durch einen hellblonden Vollbart sich auszeichnete, af dem Bahnhof sofort von der Polizei gefaßt und ih gesagt, er habe in Bors dorf mit Bebel gesprochen und ihm die Frage vorgelegt, wer seine Begleitr seien. Nachdem er Auskunft gegeben, wurden sämmtlichen acht Mann die Reiseeffekten noch im Bahuwagen untersucht, aber nich das geringste Konfiszir bare gefunden. Die Prozed machte unter den Mitreisenden großes Aufsehen, die anfangs glaiten, eine Bande von Verbrechern vor sich zu haben und sich schen rückhielten, als sie aber erfuhren, daß es sich um Ausgewiesene hande, über das rücksichtslose Verfahren der Polizei sehr entrüstet waren.
Es ist offenbar, daß von einem zahlten oder freiwilligen Spion in Borsdorf der Leipziger Polizei e Ankunft der Ausgewiesenen und ihr Verkehr mit Liebknecht und Bebelelegraphisch angezeigt worden war, da aber die Ausgewiesenen in orsdorf weder Sprengbomben noch Dynamitpatronen geholt hatten, sewwar die Liebesmith' der Leipziger Bolizei vergeblich.
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Berlin , 16. Juli. Unsere lie gute Polizei blamirt sich mitunter recht gründlich, wie folgendes Vorkenniß beweist: Anfang Juni wurde in der Nähmaschinenfabrik von Saning am Gesundbrunnen , die ca. 90 Arbeiter beschäftigt, bei drei Artern : Malchert, Schulz und Dähne gehaussucht. Gefunden wurde nie, Grund der Durchsuchung un
bekannt.
Diese Haussuchung war aber munin kleines Vorspiel. Bierzehn Tage
später rückten zwei Kommissare mit zwölf Geheimen und sechs bewaffneten Polizisten abermals vor, resp. in die Fabrik, und nahmen diesmal eine sehr gründliche, allgemeine Durchsuchung vor, der selbst der Meister und dessen Kisten und Kasten nicht entgingen.
Resultat dieser großen Razzia: Null.
Veranlassung zu dieser Haussuchung, so verlautet jetzt, soll die Vermuthung gewesen sein, daß der von London importirte„ Rebell" in der Fabrik Verbreiter habe. Niemand in der Fabrik hatte aber bisher jenes Blatt gesehen, und so ist wahrscheinlich die Polizei das Opfer einer falschen Denunziation geworden, die sich freilich sehr leicht erklärt. Das viele faule Volk, das nur vom Reptilienfond und den geheimen Fonds der Berliner Polizei gefüttert wird, muß doch etwas leisten, und wenn sie nichts entdecken können, dann erfinden sie.
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Berliner Polizeiorgien. Gelegentlich der letzten Ausweisungen hat die Polizei eine unglaubliche Rohheit an den Tag gelegt. Nachdem schon am Mittwoch, wo zwei der Gemaßregelten Berlin zu verlassen hatten, ein kleines Vorspiel inszenirt worden war, tam es am Freitag, wo die Mehrzahl der Geächteten abreisen mußte, zu den empörendsten Gewaltthätigkeiten. Außer den Frauen und Kindern gaben Hunderte von Genossen den Scheidenden das Geleite nach dem Anhalter Bahnhof . Jm Wartsaal 3. Klasse mochten etwa 1000 Personen versammelt sein. Die Polizei, welche durch etwa 30 Schußmänner in Uniform und einen ganzen Schwarm bekannter„ Geheimer" vertreten war, verhielt sich einige Minuten lang ziemlich anständig fie war offenbar durch die Masse der Anwesenden verblüfft- bis sie Ordre eingeholt hatte. Dann wurde plötzlich in rohester Weise zur Räumung des Wartesaals aufgefordert, und als die Räumung den Zarucks nicht schnell genug von statten ging, wurden die Polizisten handgreiflich, schlugen mit der Plempe" drein, schleiften Frauen auf der Erde fort nach der Thür, kurz, verübten Exzesse schlimmster Art. So wurde zum Beispiel die Frau Hertel, die mit ihrem. Mann noch ein paar Worte sprechen wollte, an den Haaren hinausgeschleift, Hertel selbst, der seine Frau vor den Fäusten der Unmenschen erretten wollte, der Rock, die Weste und das Hemd zerrissen. Natürlich verlief die Sache nicht ganz so glatt, als den Polizisten erwünscht sein mochte. Und manche von ihnen haben erfahren, daß die Sozialisten teine Hammel sind. Ungefähr 18 oder 20 Verhaftungen wurden vorgenommen jedoch scheinen nur noch zwei Personen in Haft zu sein.
Der Zweck der Polizei, eine Demonstration zu verhüten, wurde indeß doch nicht erreicht. Die aus dem Wartesaal Vertriebenen folgten den Scheidenden nach dem Perron, und als ihnen am Thor bedeutet ward, daß nur Inhaber von Fahrbilleten Eintritt haben könnten, löften mehrere Hunderte sich Billete bis Lichterfelde , wodurch ein Aufenthalt entstand, weil man neue Wagen anschieben mußte. Diese Zeit wurde zum ingrimmigsten Aerger der Polizei dazu benutzt, daß die Bleibenden den in die Verbannung Getriebenen, von Frau und Kind, von Heim und Eristenz gejagten Opfern schandbarer Willkür in wärmster, zum Theil leidenschaftlichster Weise ihre Sympathie und ihre unverbrüchliche Prinzipientreue ausdrückten. Es waren erhebende Momente. Unter einem brausenden Hoch auf die Sozialdemo kratie fuhr der Zug ab aus der„ belagerten" Reichshauptstadt. Und die Szene wiederholte sich in Lichterfelde , wo die Berliner umkehren mußten. Mancher von diesen wird wohl auch der Ausweisung verfallen. Das wissen sie sehr wohl. Allein das hat keinen gehindert, der Stimme des Herzens und der Pflicht zu folgen.
A
Ein Korrespondent der„ Berliner Volkszeitung" meint unter Bezugnahme auf die eben geschilderten Vorgänge, die Zustände, welche der Relanerungszustand herbeigeführt, würden immer unerträglicher und be
Ganz recht. Nur nicht für uns. Wir können den Belagerungszustand ertragen, und die furchtbare Saat des Hasses, die er Tag für Tag ausstreut, ist uns nichts weniger als bedenklich. Die Anhänger der heutigen Ordnung der Dinge haben aber wohl Ursache zu Besorgnissen. Mit der Berliner Arbeiterwelt ist seit dem Attentatssommer eine merkwürdige Veränderung vor sich gegangen. Das Sozialistengesetz und der Belagerungszustand schüchtert Niemanden mehr ein; die Genossen sind auf Alles gefaßt und zu Allem entschlossen, was das Parteiinteresse erheischt. Und wenn unsere Feinde es so forttreiben, werden sie zu ihrem Schaden finden, daß sie hier wie anderwärts das geschaffen haben, was sie in ihrer furzsichtigen Reaktionswuth zerstören wollten: eine entschlossene Revolutions armee!
Hoch erfreulich ist das Umfichgreifen der republikanischen Bewegung in Europa . Konnten wir in unserer jüngsten Rundschau von republikanischen Demonstrationen in den romanischen Ländern berichten, so haben wir heute das mächtige Anwachsen der republikanischen Bewegung im Norden zu registriren. Aus Norwegen einlaufende Berichte melden übereinstimmend, daß im ganzen Reiche und was für uns ganz besonders interessant gerade bei dem Landvolk die republikanische Propaganda die Oberhand gewinnt. Nur in einigen großen Städten hält die Bourgeoisie noch am Königthum feft.
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Ein weiterer Beweis übrigens für die im„ Sozialdemokrat" mehrfach geltend gemachte Behauptung, daß die Bourgeoisie im Grunde durchaus antirepublikanisch ist, d. h. Gegnerin jeder wirklichen, auf die Gleichberechtigung Aller basirten Republik .
Wenngleich wir Sozialisten selbstverständlich mit einer bloßen Aenderung der Staats form uns in keiner Weise zufrieden geben noch sie in die erste Reihe stellen dürfen, so haben wir doch allen Grund, uns über die Fortschritte des Gedankens der Volkssouveränetät zu freuen. Je mehr er um das mit Blut und Eisen zusammengekittete Hohenzollernreich herum Boden gewinnt, um so widerstandsunfähiger wird dieses gegen den Ansturm von Innen, um so begründeter vielmehr die Aussicht auf die Niederwerfung des Despotismus im Lande der Gottesfurcht und frommen Sitte, auf die Errichtung der sozialen Republit in Deutschland .
Darum: Glück auf, Ihr nordischen Bauern!
Themis in Uniform. Bei der neulich erfolgten Einweihung des neuen Justizpalastes" in Hannover erklärte der Vorsitzende des Oberlandesgerichts zu Celle in einer feierlichen Ansprache:
" In diesem Tempel der Themis foll Recht gesprochen werden im Namen und im Sinne des Königs. Ich habe um so mehr Grund, dies gerade hier zu betonen, als ein Mann aus hiesiger Stadt( der Abgeordnete Bruel ) zu meinem Bedauern die Kühnheit, gelinde gesagt, gehabt hat, im Reichstag zu behaupten, daß man in Preußen Jdolatrie ( Gößendienst) treibe mit der Person des Königs. Dieser Musterrichter, Kühne heißt der Mann, der diese„ Kühnheit, gelinde gesagt, gehabt hat", verdient unsere volle Achtung, spricht er doch endlich einmal von der Leber weg. Ja: im Sinne des Königs" und des jeweiligen Regiments haben die„ unabhängigen" Richter Recht zu sprechen, heute so, morgen so stets auf Kommando gehorchend, als trügen sie des ,, Königs Livrée", die wir deshalb als einzig
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nomen est omen-,