Stunde in's Freie, und dies nur, wenn es dem Kerkermeister gerade gut paßt. Untersuchungsgefangene tommen gar nicht und im Winter überhaupt Niemand in's Freie. Wie solche Behandlung auf die Gesundheit wirken muß, läßt sich denken. Das Lotteriespielen aber ist unbedingt gestattet. Warum auch nicht? Hat doch der Staat sein Profitchen dabei!

Untersuchungsgefangene und Sträflinge, Vagabunden, Diebe, Mörder, Betrüger und die politischen Gefangenen sperrt man ohne Unterschied zusammen. Warum sich auch mit der Klassifikation der Gefangenen viel Mühe machen?

So respektirt man also die Staatsverträge, so verfährt man mit Männern, die nichts verbrochen haben, als daß fie die Volksaufklärung auf ihren Schild erheben, die Schlechtigkeit und das Elend zu beseitigen suchen und menschenwürdige Zustände herbeiführen möchten, die jeder­mann zur Arbeit verhelfen wollen, die dafür eintreten, daß, wer arbeitet, auch zu leben habe, daß unsere Kinder guterzogen werden und unsere Greise nicht mehr betteln gehen!

Euch Arbeiter Oesterreichs aber fordern wir auf, Euch um so fester zusammenzuschließen, je mehr man Euch verfolgt und je brutaler man gegen Euch vorgeht. Vergeßt allen Hader, seid einig, um diesem korrupten System, das längst dem Bankrott verfallen ist, recht bald ein Ende zu bereiten, damit endlich bessere Zustände Platz greifen können.

Sozialpolitische Rundschau.

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B.

Zürich, 14. Februar 1883.

Aus dem deutschen Reich 8 tag. Aus Berlin , 8. Februar, schreibt man uns: Jm Parlament" gab es zur Abwechslung gestern wieder einmal sozialdemokratische Bemerkungen". So belieben nämlich die Herren, welche den Reichstag als ihre Domäne und unsere Partei­genoffen als Eindringlinge betrachten, diejenigen Reden unserer Genossen zu nennen, welche sich um den Etat drehen, da ste annehmen, daß derselbe uns nichts anginge"! Bei den einmaligen Ausgaben für das Reichsamt des Innern ergriff Genosse Grillenberger das Wort, um das skandalöse Verbot des Nürnberger Notizkalenders und die Art und Weise, wie die sogenannte ,, Reichskommission" die eingereichten Beschwerden zu behandeln pflegt, ins richtige Licht zu setzen. Er setzte dabei den Hebel bei der finanziellen Seite der Frage ein und rechnete in drastischer Weise den Arbeitslohn" der Herren aus, welche die Aufgabe haben, sozial­demokratische Beschwerden abzuweisen. Denn etwas Anderes macht ja die saubere Gesellschaft welche nach den Aeußerungen des Regierungs­tommiffars Weymann nur Gott und ihrem Gewissen verantwortlich" ist ( ein nettes Gewissen"!) doch nicht.

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Für diese Kommission ist die horrende Summe von 18,750 mt. pro Jahr eingesetzt. Nun fällt es ja, außer bei ganz groben Verfassungs­verletzungen oder sehr schwerer Vermögensschädigung, wie sie namentlich im Nürnberger Fall vorliegt, feinem vernünftigen Menschen mehr ein, gegen ein Vereins., Flugblatt- oder ähnliches Verbot noch eine Beschwerde bei dieser Kommission einzureichen, da man von vornherein weiß, daß alle solche Beschwerden, zumeist noch mit ganz unverschämter, beleidigender Motivirung" abgewiesen werden. Die Herren, fünf Stück an Zahl, haben daher das Jahr hin­durch höchstens acht Tage Arbeit", was bei solcher Bezahlung, und da für Fuhrkosten" und sonstige sachliche Ausgaben faft nichts auf­gewendet zu werden braucht, einen Taglohn von 470 Mt. oder bei 10ftündiger täglicher Arbeitszeit( die aber wohl kaum eingehalten werden wird) einen Lohn" von 47 Mt. pro Stunde darstellt! Grillenberger beantragte daher den Betrag von 18,750 Mt. auf 750 Mt. zu reduziren, da die Kommiffion für ihre, nebenbei noch durchaus nachlässige, Arbeisleistung nicht mehr verdiene und bei einer solchen Normirung immer noch der ganz anständige Taglohn von 20 Mt. pro Kopf heraus­tomme, was um so mehr genügend sei, als ja diese Angehörigen der modernen Sternkammer ohnehin allesammt noch in anderen Aemtern an­gestellt sind und daher das Bischen Beschwerdeabweisen eigentlich ganz umsonst machen könnten.

Für den Ausdruck nachlässige Arbeitsleistung" erhielt der Redner einen Ordnungsruf von dem Präsidenten. Sehr richtig verwies Grillen­berger darauf, daß, wenn die Polizei das Recht der provisorischen Be­schlagnahme habe und dem Beschwerdeführer nur eine achttägige Frist zur Anbringung seiner Beschwerde gelaffen sei, auch diese Kommission angewiesen werden müsse, die Beschwerden stets sofort zu erledigen, und sie nicht Monate, ja halbe Jahre lang herumzuziehen und dadurch die betroffenen Geschäfte an Kredit und Erwerb schwer zu schädigen. Einigen Eindruck machte es doch auf das hohe Haus", als Grillenberger auf den verdächtigen Zusammenhang dieses Verbote mit seiner Belage rungsrede verwies und offen erklärte, daß derselbe nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Racheaft der Berliner Polizei und ihrer Hintermänner sei.

Das hinderte aber die Mehrheit natürlich nicht, trotzdem für die Be­willigung der Regierungsforderung zu stimmen; für den Antrag Grillen­bergers stimmten außer unseren Genossen nur die Volkspartei und die Fortschrittler. Letztere mit Ausnahme des Herrn Günther( Berlin ), der bekanntlich in Nürnberg gegen Grillenberger unterlegen ist und auf diese Weise seinem alten Groll Luft machen wollte.

Dem Demokraten Schott, welcher sich zum Wort gemeldet hatte, wurde dasselbe durch Debatteschluß abgeschnitten. Natürlich, die Debatte war ja fast der ganzen Hause sehr unangenehm, und der Herr Regie­rungsvertreter wußte weder auf den schweren Vorwurf, daß das Verbot ein Aft der Rache sei, noch auf den der unerhörtesten Verschleppung auch nur ein Wort zu entgegnen. Auch den Vorwurf, daß die meisten Er­laffe der Kommission in einem groben, an Ungezogenheit ftrei­fenden" Ton abgefaßt seien, steckte die Gesellschaft ruhig ein. Der ,, teusche" Buttkamer war, wie immer, wenn sichs um solche Angelegen­heiten handelt, nicht anwesend, um kurz nach Erledigung der Sache plößlich aufzutauchen.

Ein Konflitt in Sicht! Ein Konflikt, natürlich mit dem Reichs­fanzler und in der Etatsperiodenfrage. Der Herr Reichskanzler wünscht bekanntlich das ohnehin schon arg beschnittene Budgerecht des diätenlosen und beinahe auch rechtlosen, jedenfalls sehr recht-( und macht) armen Reichstags noch mehr zu beschneiden und auf ein lächerliches Restchen zu reduziren, indem er die sogenannten zweijährigen Etatsperioden einführen, d. h. den Reichstag statt alle Jahre, blos alle zwei Jahre zu einer wirk­lichen Session zusammentreten lassen will. Das wird zwar geleugnet ( nach dem Grundsatz der politischen Heuchelei) und steif und fest versichert, es handle fich blos um eine reine Formalität, um eine Maßregel zur befferen Vertheilung der parlamentarischen Arbeiten und zur Entlastung des Reichstages, und Niemand denke daran, die verfassungsmäßigen jährlichen Seffionen abschaffen zu wollen, allein man kennt ja die Zärtlichkeit des Herrn Reichetanzlere für den Barlamentarismus im Allgemeinen und den widerspänftigen Reichstag im Besonderen, und was würden die jährlichen Sessionen, falls fie Spaßeshalber bestehen blieben, noch zu bedeuten haben, wenn das Budget( der Etat, wie es in preu­Bischem Reichsdeutsch heißt) nur alle zwei Jahre festzustellen wäre? Wie man weiß, ist der Versuch, die zweijährigen Budgetperioden auf dem geraden Wege der Gesetzgebung und der Verfassungsänderung( durch die famose Klinte der Gesetzgebung") einzuführen, abgeblitzt, und da soll es denn nun mit dem ungeraden Wege probirt werden. Als der Reichtag Ende November v. J. nach den großen Ferien" wieder zu­sammentrat, fanden die Herren Reichsboten unter ihren Atten statt eines Etats deren zwei außer dem Etat für das folgende Etatsjahr

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1883/84 den für das Etatsjahr 1884/85. Bei Beginn der Etatsberath­ungen wurde nun allerdings das corpus delicti durch ein parlamen­tarisches Manöver zur Thüre hinausgeworfen, und die liberalen Reichs­boten glaubten bereits, über alle Berge zu sein da ist das corpus delicti gestern urplößlich zum Fenster hinein geworfen worden. Es war mehr als eine Ueberraschung es war eine Ueberrumpe­lung. Und das ging so zu. Am Schluß der Sitzung, als Niemand dachte, kündigte der Präsident ganz unschuldig an, er werde für die nächste Sitzung den Etat von 1884/85 auf die Tagesordnung setzen. Auf der Rechten, die, in das Geheimniß eingeweiht, sich fast vollzählig eingestellt hatte, verständnißvolles Lächeln, auf der Linken, die zu zwei Drittheilen fehlte, komische Verblüfftheit. Aber das geht ja nicht!" stammelt Herr Rickert. Wir haben ja die Berathung schon abgelehnt." Hilft nichts. Herr Windthorst, der seine Gründe hat, mit der Regierung zu kokettiren, meint: Die Vorlegung des Etats sei keineswegs verfassungs­widrig, man müsse ihn kapitelweise ablehnen." Die Rechte hatte die Mehrheit, die Linke mußte fich fügen, und der Etat für das Jahr 1884/85 wurde auf die Tagesordnung gesetzt. Zwar wurde kein ,, 2och in die Verfassung" gemacht, aber doch ein Riß, in welchen das dünne Ende des Keils eingeklemmt werden kann.

Was thun? Das Gescheidtefte wäre gewesen, die Linke hätte beschlossen, den Saal zu verlassen, sobald der Etat für 1884/85 zur Diskussion ge­stellt werde. Dann wäre das Haus beschlußfähig, und die Absicht der Regierung war auf's Wirksamste vereitelt. Doch so radikale" Mittel sind nicht nach dem Geschmacke der Fortschrittspartei und sonstigen Libe­ralen. Man beschloß, die Dinge an sich herankommen zu lassen und abzu­warten, was die Rechte thun würde.

Den 9. Februar.

Im entscheidenden Moment erhoben sich heute erst Herr Windt. horst und hierauf Herr von Kardorf und erklärten im Namen ihrer Fraktionen( Zentrum und Freikonservative), sie würden jede Po­fition des Etats für 1884/85 ablehnen. Herr von Minnigerode dagegen, der Führer und das Schreckenskind der Deutschkonservativen, erklärte kühn, sammt seiner Gefolgschaft für die Positionen stimmen zu wollen. Hätte Herr Minnigerode jetzt das Zeug gehabt, so würde er zu jeder Position eine Rede gehalten und sich dadurch an der Linken für alle erlittenen Unbilden grausam gerächt haben, aber das traurige Bürsch­chen klappte zusammen und hatte schließlich nicht einmal mehr den Muth, zur Abstimmung aufzustehen.

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So ist denn der Konflikt" vorläufig im Sande verlaufen. Der Ein­zige, der dabei zu Schaden gekommen, ist der Präsident, welcher eine Viertelstunde lang sämmtliche Positionen des fraglichen Etats herunter­lesen mußte und davon fast heiser geworden ist. Judeß aufgeschoben ist nicht aufgehoben der Konflikt" wird zu geeigneter Zeit wieder ,, in Sicht" erscheinen. Aus der heutigen Sitzung ist nur noch eine Rede des, großen Schwei­gers" zu Gunsten eines Militärkasinos und ein Geschäftsordnungsantrag Kayser's, die Wahlprüfungen noch vor der Vertagung erledigen zu laffen. Der Antrag Kayser's fand keine Unterstützung sämmtliche andere Parteien haben ein gemeinsames Interesse, die heitle Materie möglichst in die Länge zu ziehen und der große Schweiger", der seinen Namen leider sehr schlecht verdient, schwäßte Blech, was ihm schon öfters paffirt ist."

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Soweit unser Korrespondent. Nachtragen wollen wir noch, daß am 5. Januar Genosse Hasen clever beim Etat des Reichsamt des Innern mit dem Reichssekretär für das Auswanderungswesen scharf in's Gericht ging und die Auswanderungsverlockungen nach Honolulu gebührend kennzeichnete.

Politische Heuchelei. Die deutsche Presse, und diesmal ganz besonders die liberal- fortschrittliche, thut ganz entrüstet darüber, daß die französische Republik heute einen Mann zum Kriegsminister hat -beiläufig den ersten wirklich republikanischen der 1870 deutscher Kriegsgefangener auf Ehrenwort war, und dieses Ehren­wort gebrochen hat, um für die Republik weiter kämpfen zu können. Wir schwärmen nun feineswegs für die gegenwärtige Majorität der französischen Kammer, noch für die politischen Einrichtungen der dritten Republik, haben also absolut keinen Grund, uns sonderlich für Herrn Thibaudin zu erwärmen; aber dieses tugendhafte Geschrei wegen des ge­brochenen Ehrenwortes können wir doch nicht unbeantwortet lassen.

Zu welchem Zweck hat Herr Thibaudin sein Ehrenwort gebrochen? Etwa im persönlichen Interesse? Nein! Der Mann ist entflohen, um sein Vaterland vom Feinde, der es besetzt hielt, zu befreien, um sein Leben auf's Neue in die Schanze zu schlagen. Er stellte die Sache, der er diente, über sein persönliches Intereffe. Und, man bedenke, daß er, als er sein Ehrenwort abgab, nicht frei war, sondern sich in einer 3 mangslage befand.

Das Ehrenwort ist nur eine andere Form für den Eid, es soll diesen gewiffermaßen ersetzen. Was ist nun eine unter solchen Umständen er­folgte Verlegung des Ehrenwortes gegen einen nur im persönlichen, dynastischen, bezw. Herrschafts interesse erfolgten Eidbruch? Der Entscheid kann da nicht schwer sein. Und wenn der servile deutsche Liberalismus über den französischen Republikaner zetert, dann müssen wir immer und immer wieder darauf hinweisen, daß es Deutschland ift, wo der Meineid regiert, gefeiert und verherrlicht wird.

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Wer hat die preußische Verfassung beschworen, wer geschworen, sie auf­rechtzuerhalten, so wahr mir Gott helfe"? König Wilhelm, Bismarck und der ganze Beamtentroß. Wer hat diese Verfassung mit Füßen getreten, wer entgegen dem Geldbewilligungsrecht der Volksvertretung das Geld ge­nommen, wo er es fand? Bismarck , im Auftrage Wilhelms. Gegen wen rief einst Professor Gneist öffentlich aus, daß seine Politik das Rainszeichen des Eidbruch& an der Stirne trage? Gegen Bismard, der im Einverständniß mit seinem allerhöchsten Herrn und Alle Preußen sind vor dem Gesetze gleich, Standesvorrechte finden nicht König handelte. Wer hat den Artikel 4 der preußischen Verfassung ftatt" beschworen? König Wilhelm, Bismard und die ganze preußische Beamtenschaft. Wer tritt diesen Artikel täglich mit Füßen durch Voll­ziehung des infamen Ausnahmegesezes, wer steht au der Spize des mit der Verfaffung in direktem Gegensatz stehenden militärischen Ehren­gerichts", unter weffen Leitung und Gutheißung werden, wie in den letzten Reichstagsverhandlungen zynisch zugestanden wurde, diese Standes­vorrechte in der Kammer geradezu gezüchtet? Antwort, Ihr Herren Liberalen! Wer hat 1864 mit seinem lieben Bruder" Franz Joseph Waffenbrüderschaft geschlossen und gleich darauf die Stoß ins Herz­Depesche" gegen denselben veranlaßt? Wer hat die ungarischen Soldaten zum Bruch des Fahneneides veranlassen wollen? Bismard, im Einverständniß mit Wilhelm. O, Ihr tugendhaften deutschen Catone, die Ihr jetzt mit so großem Behagen aus Büsch'chens Memoiren den Ausspruch Bismarcks wieder­triegt, so sollte man sie hängen in ihren rothen Hosen und holt: Wenn man solche Schurken, die ihr Wort gegeben haben, wieder­auf das eine Bein parjure( meineibig), auf das andere infame schreiben," Eure Entrüstung ist faul, Ihr habt die Eid- und Ehrenwortsverleger näher sitzen. Fangt da an, wenn Ihr Muth habt, Euer Schimpfen auf den Franzosen ist nichts als eitel politische Heuchelei!

- Zur Naturgeschichte des praktischen Christen thums. An den in unserem Leitartikel gekennzeichneten Agrariertag schloß sich der Kongreß der Landwirthe", der natürlich aus denselben Elementen zusammengesetzt war. Robbertus, der diese Sorte Menschen gründlich kennen gelernt hatte, nannte den Berliner Klub der Land­wirthe" in seinen Briefen nie anders als den Klub der Ignoranten, und diese Bezeichnung trifft auch für den Kongreß zu. Grauenhafteres Blech ist noch selten zu Tage gefördert worden, als von dieser erlauchten

Krautjunkergesellschaft. Wie Dummheit aber stets mit Schlechtigkeit Hand in Hand geht, so auch hier. Das zeigte sich namentlich bei der Diskussion der, Bagabundenfrage". Als Referent fungirte Paftor Bo del schwingh, der Leiter der bereits früher von uns charakterisirten Kolonie Wilhelmsdorf . Und dieses auf entschieden christlicher Grundlage" aufgebaute Musterinstitut, von welchem rundweg erklärt wird, daß die Lohnsäze so niedrig bemessen sind, daß der Arbeiter sich nur dann bewogen fühlen kann, dort eine Zuflucht zu suchen, wenn er von allen Mitteln entblößt ist und es ihm schlechterdings nicht gelingen will, außerhalb desselben Arbeit zu finden" darin aufgenommen zu werden aber jeder Kolonist, als eine Wohlthat empfinden" soll, erfreute sich das fast hätten wir gesagt, jauchzenden zenden Beifalls der ganzen Gesellschaft.

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- grun­

Der Stein der Weisen war ja jetzt gefunden. Keine Unterstützungen mehr, nur noch Arbeitskolonien. In jeder Provinz, in jedem Kreise ein Wilhelmsdorf das ist praktisches Christenthum.

Uns aber schreibt ein Genosse, der von der Frage wirklich etwas ver­steht, über dieses neue Universalheilmittel:

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Also: Jeder, der arbeiten will, bekommt in Wilhelmsdorf Arbeit." Damit wäre ja die soziale Frage thatsächlich gelöst. Schade nur, daß ähnlich wie bei den Grundrechten deutscher Verfassungen ein Nachsatz tommt, der das vorher Gesagte wieder aufhebt. Um zu verhindern, daß die Masse der Arbeitslosen, die arbeiten wollen, sich in die Wunder­anstalt drängen, find an die Thore dieses Paradieses verschiedene Engel mit flammendem Schwert, in Gestalt einer Anzahl von praktisch­chriftlichen Bestimmungen, gestellt, welche Jedem, der nicht von allen Mitteln entblößt ist", d. h. die äußerste Stufe des Elends erreicht hat, den Eintritt unmöglich machen. Das praktische Christen­thum" bezahlt nämlich entweder gar keinen Lohn oder einen Hundelohn, den der gemeinste Bourgeois seinen Arbeitern anzu­bieten sich schämen würde, und unterwirft die Unglücklichen, die ihm in die Hände fallen, einem wahren Gefängnißregime, sowohl was die Behandlung, als auch was die Ernährung betrifft.

Der durch die Bourgeoispreffe laufende Reklameartikel sagt in dieser Beziehung schon genug, und noch mehr ist zwischen den Zeilen zu lesen. Und das etwa noch Fehlende wird durch die Berichte von Arbeitern ergänzt, welche das Pech gehabt, in der Kolonie Wilhelmsdorf " Arbeit und Stillung des Hungers zu suchen. Genau und bei Lichte betrachtet, präsentirt sich die Wunderanstalt als ein alter Bekannter. Sie gleicht dem englischen Workhause wie ein Ei dem andern. Die­selbe heuchlerische Versicherung, Jedem Arbeit zu gewähren, der arbeiten will; dieselben Engel mit flammendem Schwert an den Pforten; die­selbe Unwürdigkeit und Unfruchtbarkeit der Arbeit; dieselbe Unwürdigkeit der Behandlung. Mit Einem Worte: Degradation der Arbeiter, statt Emanzipation der Arbeiter.

Und neben der Degradation die schamloseste Ausbeutung der Arbeiter!

Das ist die Lösung der sozialen Frage" durch das praktische Chriften­thum."

Der einzige Unterschied zwischen dem englischen Workhause, dieser ,, Bastille des armen Mannes" und der praktisch- chriftlichen Wunderanstalt Wilhelmsdorf ist der, daß die Wunderanstalt eine Privateinrich tung und vorläufig in einem einzigen Exemplar vorhanden ist, während das englische Workhouse Staat 8 oder Gemeindeinrichtung und in hunderten von Exemplaren über das ganze Land verbreitet ist." Indeß auch dieser Unterschied löst sich in Nichts auf, wenn die ein stimmig beschlossene Resolution zur Verwirklichung gelangt, in der das Zusammenwirken der Staatsregierung und der Organe der soge­nannten Selbstverwaltung( Provinzen, Kreise, Gemeinden) gefordert wird, auf daß die freie Liebesthätigkeit" o chriftliche Liebe! ,, unter­stützt von den Provinzial, bezw. Kreisverbänden, zur Beschaffung von Arbeitsgelegenheit ländliche Arbeiterkolonien für größere Distrikte( Pro­vinzen und Kreise) in's Leben ruft, in welchem eine sittlich reli­giöse Einwirkung auf die Kolonisten möglich ist." Worauf es am Schlusse heißt: Als ein nachahmungswerthes Beispiel für die Einrich­tung der Punkt B erwähnten ländlichen Arbeiter Kolonien empfiehlt die Versammlung die Ackerbau- Kolonie Wilhelmsdorf bei Bieledorf der Be­achtung aller betheiligten Kreise!"

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Die Arbeitskolonie" über das ganze Land verbreitet, mit Stationen versehen, aus öffentlichen Mitteln unterstützt, Alles das ist schon längst im manchesterlichen England vorhanden und hat sich so vortrefflich be­währt, daß der englische Proletarier vor Entsetzen schauert, wenn man ihm vom Workhouse" spricht.

Und somit läuft die Lösung der sozialen Frage durch das praktische Christenthum" auf die verrufenste und brutalfte Schöpfung des nackten Manchesterthums hinaus.

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An ihren Früchten werdet Ihr sie erkennen!"

- Muderlogit! Ein gottvolles Argument für die Nothwendigkeit der Sonntagsheiligung brachte am 30. Januar der konservative Pro­feffor Arnold aus Marburg im Reichstage vor: Haben wir denn vergessen", meinte dieser fromme Mann, daß der 2. Juni 1878 auch auf einen Sonntag fiel? Meine Herren, das mag Zufall sein( daß am 2. Juni 1878 Sonntag war?), aber es war doch wohl kein Zufall, daß man geglaubt hat, das, was an einem Werktage nicht gelungen sei, werde an einem Sonntage leichter gelingen."

Reizende Logit, in der That! Als ob nicht Nobiling, gerade weil es Sonntag war und er sonst nichts Besseres zu thun hatte, dem alten Wilhelm aufzulauern vermochte! Wäre anderseits Wilhelm am 2. Juli 1878 hübsch zu Hause geblieben und hätte fleißig, regiert", anstatt den Sonntag zu ,, heiligen" und auszufahren, so wäre ihm die intime Bekanntschaft mit Nobiling's Schrot auch wahrscheinlich erspart geblieben. Oder will der Herr Professor etwa ein Ertragesetz erlassen: Am Sonntag ist das Schießen auf Könige streng untersagt"?

Wenn die Leute verrückt werden, sagt der Berliner, dann werden sie es zunächst im Kopfe.

Frankfurterliches. Am 29. Januar telegraphirte der leitende Geist der Frankfurter Zeitung " aus dem Reichs­tage folgendermaßen an sein Blatt:

,, Auch heute war die Volksvertretung nicht in der Geberlaune. Nur in ungewöhnlich langsamem Tempo rückte die Berathung über die einmaligen Ausgaben des Militäretats vor. Schritt vor Schritt wurde dem Kriegsminister das Terrain bestritten. Bei den Abstim­mungen wurden außer den erheblichen Abstrichen der Kommission noch weitere 1,260,000 m. abgesetzt. Nur wenige Stimmen fehlten, und es wäre zu weiteren ansehnlichen Abstrichen gekommen. hot Wären nur die 7 fehlenden Sozialdemokraten anwesend gewesen, so würde das Abstimmungs­resultat noch ein wesentlich günstigeres gewesen fein."

Die freundschaftliche Absicht dieses Telegramms springt in die Augen: die sozialdemokratischen Abgeordneten sollen bei den Wählern diskreditirt werden, die 8100 Stimmen in Frankfurt waren gar zu bedenklich. Es ist nun aber bekannt, daß unsere Abgeordneten, die keine so üppige Geldquellen be­fizzen wie andere Leute, solange sich nicht verpflichten können, während der ganzen Dauer der Seffionen das theure Pflaster Berlins zu treten, als dem Reichstage nicht Diäten bewilligt werden, und um so weniger fich dazu genöthigt sehen, als sie bei der dritten, entscheidenden Lesung ftets vollzählig am Blaze sind und den ganzen Etat grundsätzlich ablehnen. Weil aber das Fehlen von 7 Sozialdemokraten so besonders hervorge­hoben wurde, haben wir uns den Spaß gemacht und im Stenogramm nachgeschaut, wie es denn mit den anderen Parteien, vor Allem mit den Freunden der Frankfurterin selbst aussah. Am 29. Januar fand keine namentliche Abstimmung statt, dagegen konstatirte die Auszählung, daß