Wenn aber die Darwinisten, die sich für so schlau halten, ihren Kampf um's Dasein in die Sozialwissenschaft einführen, so thun sie schließlich nichts Anderes, als zurückgeben, was sie entlehnt, und ihre ökonomische Lektion auf naturivissenschastlich wiederkäuen; sie wissen nicht, daß ihre neue, aus den Kampf ums D sein basirte Theorie der Bildung der Arten eine glänzende Bestätigung des Marx'schen swirthschaftlichen) Mo- terialismus ist, der da sagt, daß die Religions- und philosophischen Systeme in den wirthschastlichen Verhältnissen wurzeln. Es ist in der That ein seltsames Zusammentreffen, daß die Dar- win'sche Theorie in England sormulirt worden ist, dem Lande, wo die wirthschastliche Konkurrenz den höchsten Grad ihrer Cntwickelung erreicht hat, daß sie in allen Ländern allgemein anerkannt ward, wo diese wirth- schaftliche Konkurrenz herrscht, und für die herrschenden Klassen ein Mittel geworden ist, die sozialen Ungleichheiten zu erklären und im Namen der Natur die Produzente» zu Elend und Degradirung zu ver- urtheilen. *.* Untersuchen wir jetzt, was dieser famose Kampf um's Dasein sowohl vom naturwissenschaftlichen als auch vom sozialen Gesichtspunkte aus werth ist. Wir haben gesehen, daß er nicht im Stande ist, eine ganze Anzahl von Erscheinungen sSprachorgan der Papageien, antimütterliche, anti- egoistische Gefühle ic.) zu erklären. Es bleibt aber zu ermitteln, ob der Kampf um's Dasein, der auf das Ueberleben des der äußeren Umgebung am besten Angepaßten hinausläuft, stets eine Ursache des organischen Fortschrittes ist. Der Sieg, das Gebiet bleiben dem am meisten ange- paßten Thier, das ist eine nicht abzuleugnende Thatsache; aber ist das angepaßte Thier stets das am meisten begabte, das entwickeltste Thier? Ist nicht oft das am feinsten organisirte Thier unfähig, sich an die niedrigen Lebensbedingungen anzugewöhnen, muß es daher nicht oft, besiegt, das Feld räumen? Darwin deutet diesen Umstand an; Ray Lankaster hat ihn vollständig ausgehellt.„Es ist unzweifelhaft", sagt er,„daß oft die natürliche Aus- wähl im Sinne einer Abnahme der Größe auf eine Thierrasse wirkt. Da die Kleinheit gewisser Thiere ihre Lebensdauer begünstigt, so haben sie sich unter verschiedenen Verhältnissen aus mikroskopische Dimensionen reduzirt. Diese auf's Aeuherste getriebene Reduktion führt jedoch zum Verlust oder der Unterdrückung einiger der wichtigsten Organe. Die Bedürfnisse der sehr kleinen Thierchen sind, verglichen mit denen eines großen Thieres, beschränkt; und man findet oft, daß Herz und Blut- gefäße, Kiemen und Nieren neben Beinen und Atuskeln von den redu- zirten und entarteten Abkömmlingen einer größeren Rasse verloren ge> gangen sind."*) Als Beispiel für diese Art Entartung führt Ray Lankaster die Rotiferen(Räderthierchen), die Polyzoen ic. an. So ist sogar im Thierreich der Kamps um's Dasein nicht immer eine Ursache des Fortschrittes, oft vielmehr eine Ursache des Rückschrittes. Sehen wir nunmehr, welche Rolle er in der menschlichen Gesellschaft zu spielen vermag. Das wilde Thier zieht von den Eigenschaften, die es erwirbt, allein den Vortheil; ist dies auch beim zivilisirten Menschen der Fall? Die Hammel Südafrikas haben die Eigenschaft erworben, Fett in ihrem Schwanz aufzuspeichern, die Hottentoten sammeln es in ihrem Gesäß: Hammeln und Hottentoten leben in Zeiten des Mangels von ihrem Fett. Ein Tagelöhner produzirt mehr Getreide, als er in einem Jahre ver- zehren kann; da er es jedoch nicht unter seiner Haut einmagazinirt, so findet er es nicht, wenn er deffelben bedarf. So wird, wie die Biene ihres Honigs, der Arbeitsmann der Früchte seiner Arbeit vom Grundbesitzer und anderen Raubthieren beraubt. Spitze Zähne und scharfe Krallen sind die Arbeitsinstrumente der Löwen, d. h. ihre Mittel, sich den Lebensunterhalt zu beschaffen; die List ist das Arbeitsinstrument der Füchse. Da diese Instrumente aber mit ihrem Körper untrennbar verbunden sind, können sie nicht von an- deren Thieren gegen sie gekehrt werden. Aber die vom Menschen ver- fertigten Werkzeuge sind nicht in ihm verkörpert; die Gedanken seines Hirns können herausgeholt und in Büchern, in technischen Erfindungen, in chemischen Entdeckungen k. verstosflicht werden— Werkzeuge und Gedanken können vom Kapitalisten angeeignet werden, der sie gegen ihren eigenen Schöpfer kehrt. Die Erfindungen ruiniren den Erfinder, bereichern aber die Kapitalisten und Industriellen, die nichts erfunden haben als die Kunst, den Erfinder zu bestehlen. Die Eisenbahnen bringen den Arbeitern, die Tag und Nacht für sie thätig sind, nur magere Löhne, fette Zinsen jedoch den Aktionären, die nur arbeiten, wenn sie den Kou- pon abschneiden und zur Kasse gehen. Der Kampf um's Dasein der Herren Darwinisten kann daher die menschliche Entwicklung nicht erklären, weil die Existenzbedingungen der Menschen von denen der Thiere und Pflanzen verschieden sind. Darwin ist es geglückt, eine ökononiische Theorie- die Malthus'sche Bevölkerungstheorie— in seine eigene Wissenschaft zu übertragen; die Darwinianer aber sind kläglich dabei verunglückt, als sie ihre Theorie vom Ueberleben(des Tüchtigsten) in die Sozialwissenschaft plump zurückbe- fördern wollten, von der sie soviel verstehen, wie ein Holzhacker von der Bota- nik. Die Menschen sind Thiere— einverstanden; die kapitalistische, aus die wirthschastliche Konkurrenz basirte Gesellschaft ist bestialisch— nichts richtiger als das; aber das sind keine genügenden Gründe, glauben zu machen, daß der Kampf um's Dasein unter den Menschen denselben Charakter annimmt als unter den Austern und Hühnern. In den menschlichen Gesellschaften spielt sich, seitdem sie aus dem ursprüng- lichen Kommunismus herausgetreten, der Kampf um's Dasein in zwei Formen ab: dem individuellen oder dem Kampfe von Individuum gegen Individuum, und dem kollektiven, von Klasse gegen Klasse; und es ist eines der großen Verdienste von Marx und Engels, schon 1847 diese beiden Formen des Kampfes um's Dasein in der Menschenwelt ausein- andergesetzt zu haben. Die Verbrecher und die Gesellschaft. sE in gesandt.) In Hamburg tagte am 15. Mai wieder einmal der„Nordwest- deutsche Verein für Gefängnißwese n". Ueber die Frage der„G e w o h n h e i t s v e r b r e ch e n" referirte Gefängnißdirektor Streng(in Fuhsbüttel bei Hamburg ), und find seine Aus- sührungen über dieses Thema wohl einer Erörterung im„Sozialdemo- krat" werth. Streng theilt die Gewohnheitsverbrecher in drei Gruppen: 1)„Willensschwache und unselbständige Menschen, die noch gute, ernst- gemeinte Vorsätze haben, aber die Kraft nicht mehr besitzen, die sich ihnen im Leben entgegenstellenden Schwierigkeiten, denen sie von Ansang an nicht gewachsen waren und die mit jeder Strafe und mit jedem wieder- holten Austritt aus dem Strashause sich steigern, zu begegnen, und welche deshalb immer wieder in das ihnen zur zweiten Heimath gewordene Strashaus zurückkehren, dessen Zucht sie sich ohne Widerstreben fügen und das sich in Zeiten der Krankheit und des zunehmenden Alters für sie in ein Asyl verwandelt."— Was der Referent hier von den„Willensschwachen" sagt, gilt aber auch von Willens st a r k e n: der heutige Staat thut Nichts, früheren Sträflingen den Wiedereintritt in die Gesellschaft zu ermöglichen; und daß die Thätigkeit der Vereine eine durchaus unzulängliche, ist unserer- seits schon wiederholt dargethan worden. Als zweite Gruppe betrachtet Streng: 2)„Menschen mit potenzirt bösem Willen, die das Verbrechen grund- sätzlich kultiviren, und deren Hang zum Verbrechen nicht selten die Ge- walt unbezähmbarer Leidenschaft erreicht, deren schlimme Neigungen und Gewohnheiten nur die Furcht vor der Disziplinargewalt und ausgiebigen Anwendung derselben im Zaum halten kann und die unter Entbehrungen des Strashauses im Innern den glühenden Wunsch und die Hoffnung nähren, mit wiedererlangter Freiheit durch neue Verbrechen sich für die ausgestandenen Leiden der Gesang-nschaft zu entschädigen." Sehr wohl! Nur vergißt Herr Streng zu bemerken, daß der böse Wille zurückzuführen ist auf die U n m ö g l i ch k e i t, anders sein Leben zu fristen als durch Verbrechen, wenn das von der Gesellschaft im Stich gelassene oder verwahrloste Mitglied nicht vorzieht, Hungers zu sterben. 3)„Neben Willensschwäche und potenzirt bösem Willen finden sich unter den Gewohnheitsverbrechern aber auch einzelne geistig abnorme *) Kiiy Lankaster, Degeneration: a ohapter in Darwinism. 1880.— Menschen, die jene Mittelzustände repräsentiren, die zwischen wissen- schaftlich festgestellten- Krankheitsformen und dem geistig gesunden Menschen liegen. Die„anthropologische" Schule spricht von natürlicher Degeneration, wenn in einzelnen Familien durch Generationen der Hang zum Verbrechen und zum ausschweifenden Leben herrschte, und von Moral Jnsanity(sittlichem Wahnsinn), wenn absoluter Mangel alles ethischen Gefühls in abstoßender Weise hervortritt." Wohl selten hat ein Gefängnißdirektor sich zu solcher Objektivität ausgeschwungen, wie Herr Streng. Wäre er Arzt, würde er wohl häufiger Geisteskrankheit als Ursachen der Gewohnheitsverbrechen konsta- tirt haben. Um die Gesellschaft gegen die Gewohnheitsverbrecher zn beschützen, wurden radikale Vorschläge gemacht. Dr. von Schwarze befürwortete die Einsperrung auf Lebenszeit in Arbeitshäusern, als polizeiliche Sicherheitsmaßregel; diese Anstalten sollen jedoch von den Arbeitshäusern für Bettler, Landstreicher u. s. w. streng getrennt gehalten werden. Was hat man sich nun unter einem Arbeitshause zu denken? Streng gibt darüber die beste Auskunft: „Das Arbeitshaus unterscheide sich in der Behandlung seiner Jnsaffen in keinem wesentlichen Punkte vom Zuchthaus. Es besteht in dem ersteren der gleiche Arbeitszwang, die gleiche Verpflegung, die gleiche Hausordnung wie im Zuchthaus. Lebenslängliche Verwahrung im Arbeitshause ist gleich einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe." Prinzipiell erklärt sich Streng gegen die Detention(Einsperrung) in Arbeitshäusern, weil sonst das Verbrechen wider das Eigenthum mit den schwersten Verbrechen, welche lebenslängliche Haft nach sich ziehen, gleich- gestellt würde. Ein anderer Redner, Dr. F ö h r i n g(Hamburg ) wies durch„schlagende Beispiele" nach, daß der den Richtern in Zeiten gehäufter Vergehen und Verbrechen vielfach gemachte Vorwurf einer ungerechtfertigten Milde auf einem Vorurtheil beruhe. Und wenn Streng mittheilt, daß „die Gewohnheitsverbrecher nur selten zu finden sind, welche eine Zuchthausstrafe von Ibjähriger Dauer überstanden haben" so könnten auch wir der ersten These des Referenten Streng zustimmen, daß „die Bestimmungen des Reichsstrafgesetzes ausreichend sind, zur Unterdrückung der Gewohnheitsverbrechen", wenn er statt Gewohnheitsverbrechen gesagt hätte: Gewohnheitsver- brech e r. Gegen den Vorschlag, Gewohnheitsverbrecher nach der Entlassung aus dem Strafhause in Arbeitshäusern lebenslänglich(d. i. für etwa 10 bis 15 Jahre!) unterzubringen, macht Streng auch praktische Bedenken gel- tend: Die Aufgabe des Arbeitshauses würde gefährdet werden.„Letz- teres ist das wirksamste Mittel zur Bekämpfung des gewohnheitsmäßigen Bettelns und des Vagantenthums und bietet den besten Schutz der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Belästigungen gemeingefährlicher Müssiggänger!" Gewiß! Alle Bettler ins Arbeitshaus(nach Obigem gleichbedeutend mit Zuchthaus!) gesteckt; dann halten die Widerstandsfähigsten es 15 Jahre aus, die meisten, weil durch Entbehrungen geschwächt, nur viel kürzere Zeit, und die Gesellschaft ist befreit. Aber große industrielle Krisen, Kriege:c. vermehren die Zahl der Bettler nothwendigerweise, und wenn nicht vorher die„arbeitsparenden" Maschinen Eigenthum der Gesammtheit geworden, das Volk selbst seine Produktion und Konsumtion regelte, würden die Arbeitshäuser in's Unendliche vermehrt werden müssen, und der Staat würde einsehen, daß er billiger verführe, wenn er die Bettler entweder eines schnellen Todes sterben ließe, sie köpfte, oder aber ihnen Arbeit verschaffte in Staatswerkstätten— das Recht auf Arbeit nicht nur proklamirte, sondern auch den Arbeitslosen wirklich Arbeit schaffte. Herbei, ihr Bismarck und S t ö ck e r, hier giebts zu thun! Die Versammlung stimmte, was wir als einen Ansang zur Besse- rung bezeichnen können, den Thesen des Direktor Streng zu, mit Aus- nähme einiger Prügelfreunde, welche entweder schärfere Anwendung des Strafgesetzbuches, wie Dr. Braband, Verdoppelung des Strafmaßes im Rückfalle(Dr. Wahlberg) oder gar Verwahrung der Rückfälligen auf Lebenszeit forderten. Im Lause der letzten 25 Jahre sollen die Verbrechen gegen das ge heiligte Eigenthum sich vermindert haben, namentlich in den letzten Jahren. Wenn die Statistiken richtig sind, so beweist das zwar noch nichts zu Gunsten der„ausreichenden" Strasbestimmungen, sondern in den„letzten Jahren" hatten die Herren Richter alle Hände voll zu thun, um den bösen Sozialdemokraten Urtheile zu schmieden, und die Staats- anwälte gar! Wir können bei dieser Gelegenheit nicht umhin, auch andere Klaffen von Gewohnheitsverbrechern gegen das Eigenthum zu denunziren: die hohe Polizei, die Fabrikanten, die gesammten Staatsbummler, welche Kategorien Herr Streng noch vergessen hat— sie sind ihm auch in seiner Praxis noch nicht vorgekommen. Erstere stiehlt uns Zeitungen, Broschüren, Briefe und Gelder(neulich noch eine Streikkasse in Han- nover), die Fabrikanten den Arbeitslohn und die Staatsbummler das, was die anderen übrig ließen. Wir werden die humanen Arbeitshäuser nicht abreißen, sondern ihnen die freiwilligen Gewohnheitsverbrecher, die freiwilligen Bummler, die wahren Bettler zuweisen, wenn die letzten unfreiwilligen Vaganten darin die letzte Verwünschung gegen diese milde Staatsversor- g u n g ausgestoßen haben werden!" Sozialpolitische Rundschau. Zürich, *. Juni 1884. — Rußlands Schergen. Unserer Notiz in voriger Nummer über die Auslieserungsaffaire B u l l y g i» haben wir heute zunächst nachzutragen, daß neuerdings als Grund der Auslieferung angegeben wird, Bullygin sei identisch mit dem russischen Sozialisten Leo Deutsch, der wegen Theilnahme an der Ermordung eines Spions, Namens Gorinowitsch, gerichtlich verfolgt wird. Selbst wenn dies wahr wäre, so wird die heimliche, bei Nacht und Nebel und hinter dem Rücken des Advokaten des Gesangenen erfolgte Abführung desselben aus dem Freiburger Gefängniß dadurch in keiner Weise beschönigt. Im Gegentheil. Dem Gefangenen wurde vielmehr dadurch jede Gelegenheit genommen, seine Identität nachzuweisen! Um aber die Angabe der russischen Regierung ihrem vollen Werthe nach schätzen zu können, muß man wiffen, daß dies nun schon der dritte Leo Deutsch ist, den sie in ihren Kerkern verschwinden läßt. Man erinnere sich nur, wie sie es beim Fall Netschajeff auch auf ein falsches Versprechen nicht ankommen ließ, nur um die Auslieferung Netschajeffs aus der Schweiz zu erlangen. Aber, wie gesagt, es ist absolut kein Schatten eines Beweises dafür da, daß Bullygin mit Leo Deutsch, dessen Vergehen übrigens auf jeden Fall unter die Rubrik der politischen Vergehen fällt, iden- tisch sei, vielmehr ist in Zürich und Genf seine Identität als Bullygin von verschiedenen ansäßigen Leuten konstatirt worden; trotzdem wird er auf die Aussage des ersten besten russischen Polizeibeamten hin aus- -geliefert— wenigstens zunächst an Preußen. Die badische Re- gierung hatte augenscheinlich noch eine Art Schamgefühl, darum übergab sie den Gesangenen, den sie zu feige war, dem Richterspruch gemäß freizulassen, au Preußen. Was dort mit Bullygin geschehen, ob man ihn schon, als Dank für die in dem Kraszewski - Prozeß enthüllte Be- s-pionirung, an Rußland ausgeliefert, öder ob er noch in irgend einem preußischen Gefängnisse steckt, darüber wird jede Auskunst verweigert. Die preußische Regierung fühlt sich um so zveyiger in ihren Maßnahmen beeinträchtigt, als bisher kein einziges deutsches Blatt e S g e w a g t h a t, für den russischen Freiheitskämpfer— wir sagen nicht einzutreten, sondern nur den Schutz der Ges�etze zu ver- langen! Als seinerzeit die russische Regierung die Auslieferung Hartmann's, dem man doch andere Dinge nachsagte als Deutsch, von Frankreich ver- langte, da erhob sich die gesummte radikale Presse einmüthig zum Pro- test gegen solchen Polizeidienst, der Druck der öffentlichen Meinung war so stark, daß die französische Regierung Hartmann freiließ und sich be- gnügte, ihn auszuweisen. Das geschah im verkommenen Frankreich , wo man ja angeblich aus ein Bündmß mit Ruhland hofft! In dem braven und biederen Deutschland aber wagt es nicht ein Organ, gegen einen so niedrigen Liebesdienst Protest einzulegen. Geben sich die Einen aus angeborner Bedientenhaftigkeit zu Schergen Rußlands her, so machen sich die Andern aus Feigheit zu ihren Mitschuldigen — in der That, die„unpraktischen Schwärmer" sind sehr, sehr praktische Leute geworden! — Gefangen. Bismarck ist zwar kein Mephistopheles, überhaupt kein Hexenmeister, allein das„Recht auf Arbeit " ist ihm doch zum „Drudenfuß"*) geworden, dessen Bann er sich nicht zu entziehen ver- mag. Umsonst sucht er zu entschlüpfen— der Zauber seiner eigenen Lüge hält ihn fest. Nichts Ergötzlicheres, als die„Norddeutsche Allgemeine" zu lesen! Keine Nummer, die nicht die komische Verlegenheit des„Eisernen " ab- spiegelte. Und das Komischste von Allem ist, daß er seine eigene Angst hinter der seiner fortschrittlichen Gegner verbergen will. Die grausamen Herren Bourgeois, die kein Herz haben für den armen Mann, sie leugnen in ihrer Hartherzigkeit das Recht aus Arbeit. „Den Vertheidigern jener verlebten Wirthschaftsanschauung, welche in der Manchestertheorie ihre doktrinäre Gestaltung ssio!) findet, hat das Wort des Reichskanzlers vom Recht auf die Arbeit einen gewaltigen Schreck eingejagt." So poltert mit erheucheltem Falstaffmuth die„Norddeutsche", läßt aber sofort die Tapferkeitsmaske fallen und setzt kleinlaut hinzu:„Wenig- stens beliebt man, zu thun, als ob dem so wäre." Ja, sie weiß recht gut, die„Norddeutsche", daß die Herren Bourgeois vor dem reichs- kanzlerischen„Rechte auf Arbeit" lange nicht so viel Angst haben wie der Herr Reichskanzler selbst. Die Herren Bourgeois sind kluge Leute; sü kennen ihre Pappenheimer und wissen, daß der Schnapsbrenner, Papier - fabrikant und dreißigfache Millionär Bismarck für das„Recht aus Arbeit" ebensowenig begeistert ist wie jeder andere Bourgeois und Ausbeuter, und daß er damit in der Hitze des Gefechtes blos ein demagogisches Schlagwort in die Massen hat schleudern wollen. Und sie wissen auch, daß dieses demagogische Schlagwort Niemanden unbequemer und gesähr- licher ist als seinem demagogischen Urheber. Wenn ihnen bei diesem Ma- növer etwas Besorgniß einflößt, so ist es nicht die staatsmännische Schlau- heit des Oberdemagogen, sondern im Gegentheil dessen mangelhafte Be> rechnung der Folgen. Die Herren Bourgeois irren sich in ihrem Bismarck um so weniger, als es nicht das erste Mal ist, daß er dieses Manöver anwendet. Poli- tische Schwindler haben mit unpolitischen das gemein, daß sie sich jeder eine eigene bestimmte Methode, Routtne, Schablone ausspintisiren, nach der sie regelmäßig verfahren. An der Art, wie irgend ein Betrug aus- geübt ist, erkennt der geübte Kriminalbeamte meistens den Thäter. So hat auch Fürst Bismarck seine ganz bestimmte Art des Vorgehens, an der man ihn immer erkennen und die nur Denjenigen täuschen kann, der getäuscht sein will. Schon vor 20 Jahren wurde zwar nicht das Recht auf Arbeit, aber doch die Mission des„Volkskönigthums", den Arbeitern für Brod und ein menschenwürdiges Dasein zu sorgen, feierlich proklamirt— noch feierlicher als jetzt das„Recht auf Arbeit ". Und die Person des Mon- archen wurde in den Vordergrund geschoben und engagirt— genau so wie jetzt. Man erinnert sich noch jetzt des Kultus, der da mit dein famosen„königlichen Versprechen" getrieben ward. Wohlan, das königliche Versprechen ist damals nicht gehalten worden, das Versprechen oder richtiger die Versprechungen des Junkers Bismarck sind damals nicht gehalten worden— der„Acheron" war nur um den Fortschrittlern Angst einzujagen, in Bewegung gesetzt worden, und iw Moment, wo die widerspänstigen Fortschrittler Miene machten, zu Kreuze zu kriechen, da wurde den Finthen des„Acheron" ein Quos ego I**) zugerufen. Die Herren Fortschrittler haben das nicht vergessen. Sie wissen auch sehr genau, daß der Zweck heute genau der nämliche ist wie damals, und daß der Reichskanzler Bismarck aus die Rechte des„arinen Mannes" ebenso frivol„pfeift", wie weiland der M i n i st e r p r ä si' dentvouBismarck-Schönhausen. Allein die Zeiten haben sich geändert; die Geister, mit denen sich vor 20 Jahren noch spielen ließ, sind dem Pfuscher von Zauberlehrling über den Kopf gewachsen, und der demagogische Kniff, welcher vor 20 Jahren vergleichsweise ungesährlich war, bedroht heute die herrschende Gesellschafts- ordnung in ihren Grundsesten. Das ist es, was den Herren Bourgeois, fortschrittlichen und nicht' fortschrittlichen, eine Gänsehaut verursacht— aber wahrhaftig nicht die Staatsklugheit Bismarck's , der sie, nach der„Norddeutschen Allgemeinen", mattgesetzt haben soll. Mit dem Mattsetzen hat's vorläufig noch gute Weile; und wenn das Bismarck 'sche Organ sich über die Verlegenheit der fortschrittlichen Bour- geoisie amüsirt, so gemahnt es uns an das englische Sprichwort von der Nase, die sich„aus Bosheit" freut, daß das Gesicht schimpfirt worden ist. Das Amüsement der„Norddeutschen" kommt auch durchaus nicht von Herzen. Es ist ungefähr so ehrlich, wie das lustige Singen von Kindern im Dunkeln. Die Lustigkeit ist nur Blendwerk; und dem hasenherzigsten Fortschrittler liegt das Recht a u f Arbeit und die ganze Bismarck'sche Sozialreform sicherlich nicht halb so schwer im Rtagen wie dem Herrn Bismarck selber. Dabeat sibil Der böse„Drudenfuß"! Jedenfalls hat der kaiserliche Obersozialdemagog vortreff.ich für die Sozialdemokratie gearbeitet und muß fortfahren, für sie zu arbeiten- Mögen ihm noch einige Jahre zur Bethätigung seines Talentes der Des- organisation gegönnt sein! Obgleich wir ihm sonst nach wie vor als unversöhnliche Feinde gegenüberstehen, kann er in diesem Punkte aus unsere ehrliche und wirksame Unterstützung rechnen. — Feigheit. In der Reichstagssitzung vom S. Mai hielt der Reichskanzler bekanntlich zwei Reden, in denen er seinem Zorn gegen vi« Fortschrittspartei und seinen sonstigen Gefühlen nach Herzenslust, aber vielleicht lebhafter und offenherziger, als ihm nachher lieb sein mochte, Lust machte. Unter Anderem kam er auch auf das Attentat des junges Cohen, der fälschlich Blind genannt wird, zu sprechen und behauptete, die Fortschrittspartei habe mit diesem Attentat und Attentäter sympa- thisirt, anläßlich des Attentates eine schnöde Karrikatur auf ihn, des damaligen Herrn von Bismarck-Schönhäusen, anferttgen lassen und mit dem Attentäter einen förmlichen Kultus getrieben. Das war nun allerdings insoserne nicht ganz wahrheitsgemäß, als die betreffende Karrikatur im„Auslande" angefertigt ward; und was des mit Cohen getriebenen Kultus angeht, so mußte der Herr Reichskanzler noch in der nämlichen Sitzung seine Behauptung wesentlich einschränken- Trotzdem ist und bleibt es wahr, daß zwar nicht die Fortschritts Partei, aber doch das fortschrittliche Bürgerthum seinerzeit that- sächlich mit dem Attentate Cohen's sympathisirte und die betreffend« Karrikatur ebenso eifrig verbreitete, wie weiland das oppositionelle Bür- gerthum vor 1843 das Tschech -Lied und Karrikaturen aus den.-„nicht getroffenen" Champagnerkönig Friedrich Wilhelm den Vierten verbreitet hatte. Derartige Erinnerungen sind dem loyal gewordenen Bürgerthum« heutzutage nicht mehr angenehm; sie passe» ihm schlecht in den KraM- Allein das gibt den Herren Fortschrittlern kein Recht zur Geschichts- sälschung. Und Geschichtssälschung— nichts Anderes ist es—, wens jetzt die Fortschrittsorgane ganz enttüstet thun und die damaligen revolutionären Sünden keck ableugnen. Bismarck hat nur die Farben etwas zu dick ausgetragen: im Wesentlichen hat er, wider seine sonstig« Gewohnheit, die Wahrheit gesagt. Die Angst übertreibt wohl, aber sie lügt nicht. Und die Angst, welche dem Junker von Bismarck-Schön- hausen im Sommer 1868 vor Beginn des Bruderkriegs durch di« Piftolenschüffe Cohen's eingejagt wurden, liegt dem Reichskanzler Fürst Bismarck noch nach Verlauf von 18 Jahren in den Gliedern. Der „eiserne-- Kanzler ist nämlich durchaus nicht der Held, für den er sich auszugeben liebt. Wir sind zufällig mit der Geschichte des Cohen'schen Attentates ziem- lich genau vertraut und wiffen auf Grund sicheren Zeugnisses, daß der Junker Bismarck, obgleich völlig unverletzt, durch die Pistölenschüss« Cohen's so sehr erschreckt wurde, daß er wie versteinert dastand und sich nicht vom Fleck rühren konnte. Erst als der Attentäter umringt und entwaffnet war, erlangte der„Eiserne -- wieder nothdürftig se-.ne Fassung- Bei dem Kullmann'schen Attentate, 9 Jahre später, war es ähnlich- Und wenn man bedenkt, daß Bismarck seit fünfzehn Jahren nicht ohn« eine geheime Eskorte auszugehen wagt, sich bei Tag und Nacht von *) Siehe Goethe's„Faust--. **) Ruhig!
Ausgabe
6 (5.6.1884) 23
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