4) Staatssubvention an die Produktivgesellschaften in den verschiedenen Zweigen des Ackerbaus und der Industrie. Gleichzeitig erkennt die Gruppe der Befreiung der Arbeit die N o t h- wendigkeit des terroristischen Kampfes gegen die absolutistische Regierung an und unterscheidet sie sich von der„Narodnaja Wolja " blos in den sogenannten Fragen der Usurpation der Regierung durch die revolutionäre Partei, sowie hinsichtlich der den Sozialisten unter den Arbeitern direkt zustehenden Aufgaben. Sozialpolitische Rundschau. Zürich , 13. August 1884. — Solidarität. Aus Gent erhalten wir eine Sendung von 300 Franken zum Besten des Wahlsonds unserer Partei und dazu folgendes Begleitschreiben: „Genosien! Im Namen der Genter Sozialisten senden wir Euch 300 Fr. — den Ertrag der Einweihungsfeier unseres neuen Gebäudes— für den großen W a h l k a m p f, den Ihr demnächst gegen die allmächtige Bourgeoisie Eures Landes zu führen haben werdet. Unser Beitrag ist nur gering im Vergleich zu den kolossalen Mitteln, über welche unsere Feinde verfügen, aber das Solidaritätsgefühl, welches uns antreibt, auch unser Scherslein zu Eurer Unterstützung beizutragen, ist ein lebhaftes und tief empfundenes. Nicht nur Euch, uns selbst unterstützen wir, da Ihr für die gleichen Forderungen kämpft wie wir, und der Triumph des deutschen Proleta- riats auch der unsrige, wie aller Unterdrückten sein wird. Mögen die Regierungen die Internationale verbieten— wir lachen ihrer Gesetze und der Grenzen, welche uns verhindern sollen, die Beweise unserer Solidarität auszutauschen. Kein Gesetz der Welt kann die Ar- beiter zwingen, sich nicht als Brüder zu fühlen, nicht als Brüder gegen einander zu handeln. Wenn sie wollen, existiren die Grenzen nur noch auf den Landkarten. Während Ihr den Wahlkampf für den Reichstag kämpft, werden wir bei den Kommunalwahlen unsere Kräfte zu erproben haben. Es ist das erste Mal, daß in Belgien Arbeiter zur Wahl für diese Körper- schaften zugelassen werden, das erste Mal, daß Arbeiter- und sozialistische Kandidaturen mit einiger Aussicht auf Erfolg ausgestellt werden können. Wir dürsen zwar kaum hoffen, einen der Unsrigen durchzubringen, aber wir denken, breite Bresche in die kapitalistische Feste zu legen. In Gent wird vom 1. September ab ein tägliches sozialistisches Organ erscheinen, welches unsere Kraft und Zuversicht stärken und unsere Beziehungen mit unseren Brüdern im Auslande festigen wird. Es lebe die deutsche Sozialdemokratie! Es lebe der internationale Sozialismus! Mit brüderlichem Gruße! Im Auftrage: E. A n s e e l e." Im Namen unserer kämpfenden Genoffen in Deutschland sagen wir den hochherzigen Genossen Gents für ihre freundschaftlichen Wünsche nicht minder als für den Beitrag zu unseren Kriegsfonds aufrichtigsten Dank. Mit ihnen hoffen wir, daß ein guter Erfolg unserer Sache in Deutschland auf die sozialistische Bewegung in allen Ländern fördernd und kräftigend zurückwirken möge, wie ja auch unsere Brüder in Deutschland mit um so freudigerem Eiser in den Kampf gehen, als sie wissen, daß sie nicht nur für ihre eigene Sache, sondern als Theil der großen internationalen Arbeiterarmee für die Sache der Arbeiter aller Länder kämpfen, und daß die Augen aller Gleichgesinnten im Ausland mit gespanntestem Interesse ihrer Bewegung folgen. In diesem Sinne lebt die Internationale noch heute fort, spottet sie aller gegen sie ge- richteten Gesetze, ist sie in Wahrheit unsterblich! Und so stimmen wir freudig in den Ruf unserer Brüder ein: Es lebe der internationale Sozialismus! — Zur neue st en Wendung in Bismarcks Politik. So ein biederer deutscher Reichsphilister ist doch in einer glücklichen Lage. Seit er den„größten Staatsmann des Jahrhunderts" am Steuer- rüder des großen Staatsschisfes weiß, ist er jeder eigenen Geistesthätig- keit enthoben; nicht nur seine Gedanken, sondern auch seine Gefühle werden ihm von oben her durch die bekannten, zwar nicht sehr sau- deren, aber sehr prompt arbeitenden Kanäle— in's Haus geliefert. Hat er heute den ganzen Aufwand von sittlicher Entrüstung, über den er versiigt, auf den reoanchelustigen Erbfeind im Westen abgeladen, so be- lehrt ihn morgen sein reichstreues Leiborgan, daß er von nun an die Fran- Zvsen nur zu bemitleiden, dagegen die habgierigen Engländer, die dem deutschen Volke keine Kolonien gönnen und die Ausbreitung des deutschen Handels mit scheelen Augen ansehen, zu Haffen Hab». Und sofort ein- pfindet er den tiefsten Haß gegen Alles, was England heißt, und kann den Augenblick nicht erwarten, wo der Kriegsrus ertönt: Auf, gegen England! Dieser Haß dauert natürlich just so lange, als es dem„Lenker des Staates" gefällt, ihn anzuordnen. Sobald sich oben der Wind dreht, nimmt auch der Haß des Reichsphilisters eine andere Wendung — sei es nach Osten oder auf's Neue nach Westen. Ganz aus dem patriotischen Haß kommt er überhaupt nicht heraus, denn erstens fördert derselbe, um mit Heine zu reden,„die Verdauungskraft", und zweitens die Reichseinnahmen, sintemalen er bei Reichstagswahlen k. ganz besonders gute Dienste leistet. Augenblicklich ist es also„England", das jeder gute Deutsche Pflicht- schuldigst hassen und verabscheuen muß. Warum? Weil, wie wir oben bereits angedeutet,„England" den Kolonialbestrebungen der Deutschen überall Hindernisse in don Weg legt. Der deutsche Bourgeois aber lechzt nach Kolonien. Und da zum Glück Bismarck „auch Schnapsbrenner" ist und sich auf's Geschäft versteht, so kommt er diesem Heißhunger mit jenem Verständniß entgegen, das er vor fünf Jahren der schutzzoll- wüthigcn verkrachten Börse entgegenbrachte, und gibt die neue Parole aus: Der Feind, das ist England! Ein Wink für die Itationalitätsschwärmer und sonstigen Idealisten: Verschwunden ist das ideelle Gefühl der Stammesverwandtschaft gegenüber dem materiellen des Handelginteresse. Aus der vorige Woche selig verstorbenen Londoner Konferenz behufs Erörterung der egyptischen Finanzlage trat diese Wendung in der Po- litik Bismarcks ganz unverkennbar hervor. Gemeinsam mit dem Ver- treter Frankreichs trat der Vertreter Deutschlands für die Interessen der armen Fellachen ein, die nur ganz zufälligerweise mit den Interessen der Besitzer der egyptischen Staatsschuldscheine zusammenfielen. Der„zweite Streich" wird nicht lange auf sich warten lassen Die neulich erfolgte Ausraubung eines deutschen Proviantkutters von eng- tischen Fischern bietet ja eine günstige Handhabe dazu. Die Sache ist zwar ein wenig dunkel, aber das war die Emser Depesche von 1870 auch. Zum Kriege dürfte es diesmal allerdings schwerlich komnien, denn die kühlen Engländer sind keine Franzosen; aber soviel wird wenigstens erreicht, daß die Entrüstung der„Kölnischen Zeitung " ihr gläubiges Publikum findet, daß der patriotische Zorn des deutschen Spießbürgers erregt ist, daß der„Muth in der Brust seine Spannkraft übt", und wozu das gut ist, haben wir oben gezeigt: St. Militarismus kann auf Erhöhung seiner Einnahmen rechnen. — Auch gegen Holland rasselt die biedere„Kölnische Zeitung " und droht ganz unverblümt, Holland die Macht des deutschen Reiches fühlen zu lassen, wenn die Holländer nicht wollen wie sie, d. h. ihr Souffleur will. Die wirksamste Art, die Macht des deutschen Reiches fühlen zu lassen, wäre natürlich die A n n e x i o n. Und der Hinweis aus diese, das heißt auf die„natürliche Verbindung Hollands mit Deutsch- land" fehlt selbstverständlich nicht. Die Annexion Hollands , das wäre in den That ein fetter Bissen! Da wäre mit einem Schlage die Kolonialfrage entschieden. Hollands Besitzungen im malayischen Archipel, vor allen Dingen Java, das reizt den Appetit selbst des ehrbarsten Bourgeois. Es dürfte freilich ein harter Bissen werden, aber wovor schreckt der Bourgeois zurück, wenn ihm fetter Profit in Aussicht steht! Ist doch er es nicht, der seine Haut zu Markte trägt. Von diesem Thema wissen die holländischen Arbeiter ein Lied zu singen, wie sie ja auch erzählen können, welcher Segen den Arbeiten» aus der vielgepriesenen modernen Kolonialpolitik erblüht. Ist der fromme Wunsch der Kölnischen auch vorderhand nicht ernst zu nehmen, so zeigt er doch, mit welchen Absichten man sich in gewissen Kreisen trägt und was auf die Redensart vom„gesicherten Frieden" zu geben ist. Solange das heutige Ausbeutungssystem herrscht, ist der Friede nicht gesichert, immer wird es Streit geben um die Beute, immer Händel um Ausbeutungsobjekte. — Zur Produktionsanarchie. Amerikanischen Blät- tern entnimmt der„Hannoversche Courier" die folgenden interessanten Ziffern. Es betrugen die Manufakturerzeug nisse im Bereiche des Sternenbanners: im Jahre 18S0 1860 1870 1880 Millionen Dollars 1019 188S 4232 SKK9 Zunahme in rund 71 124 27 Die Kopfzahl der handarbeitenden Bevölkerung bezifferte sich: im Jahre 1850 1860 1870 1880 auf Tausende 957 1311 2053 2700 Zunahme in°/„ 37 50 31 Die in den Maschinen und Wassertriebrädern vorhandenen Pferde- kräfte vermehrten sich von 1870 bis 1880 von 2,364,142 bis zu 3,410,837, also in diesem Jahrzehnt um fast 50°/„; dabei sind die kleinen, mit der Hand bewegten Triebwerke und Maschinen natürlich nicht mit eingerechnet. Erwägt man nun, daß die Einfuhr von Manufakturerzeugnissen nach den Vereinigten Staaten keineswegs in langsamerem Verhältniß zuge- nommen hat, daß der Zustrom von Einwanderern jährlich eine halbe Million an neuen Arbeitenden hinüberbringt, so drängt sich die ernste Frage auf: wo will Amerika bei solcherSteigerung der erzeugenden Kräfte in Zukunft seine Erzeugnisse absetzen können? Die großen Probleme der„Arbeit" sind drüben noch lange nicht gelöst; sie gewinnen jetzt erst greifbare Gestalt und wer- den der nächsten Generation Kopfzerbrechen genug machen." Der„Hannoversche Courier" ist ein nationalliberales Blatt, er sieht also bezüglich„der großen Probleme der Arbeit" sicher nicht zu pessimistisch. Welches Zugeständniß liegt daher in obiger Notiz! Anierika, das Land mit dem unerschöpflichen Reichthum, das vermeintliche Land der Zukunft des Bürgerthums, Amerika schon in der nächsten Gene- ration vor dem großen Kopszerbrechen! Wie lange wird es dannach das alte Europa noch aushalten?! — Wie wenig die Todesstrafe geeignet ist, energische Naturen zu schrecken, zeigt das Benehmen Stellmachers am Tage vor seiner Hinrichtung. Der darüber durch die Presse laufende Bericht ist augenscheinlich von dem Vertheidiger Stellmachers inspirirt, also ziemlich unverdächtig. Es wird da zunächst erzählt, wie Stellmacher jedes Einlassen mit dem Gefängnißpfarrer entschieden ablehnte; alsdann fährt der Bericht fort: „Gegen die bisherige Gepflogenheit wurde Stellmacher in seiner Zelle belassen. Nachdem der Pfarrer sich zurückgezogen hatte, erschien bei Stellmacher der Strafhaus-Direktor und forderte ihn auf, daß er hinsichtlich seiner Verpflegung seine Wünsche bekannt geben möge. Stellmacher erklärte zuvörderst, daß er auf Alles verzichte, begehrte aber sodann auf Zureden Cigarren, etivas Wein und ein Kalbsschnitzel, was ihm unver- weilt zugestellt wurde und das ihm wohl zu schmecken schien. Sein Vertheidiger traf ihn um 5 Uhr Nachmittags auf seinem Holzsessel sitzend und gemächlich rauchend, dem Anscheine nach ruhig und gesaßt. Am Eingang der Zelle befanden sich zwei Justizsoldaten in voller Aus- rüstung; den Vertheidiger begleitete der Kerkermeister. Der Vertheidiger wendete sich an Stellmacher mit der Frage, ob er noch etwas zu sagen oder irgend einen besonderen Wunsch habe, was Stellmacher verneinte. Dann bat ihn der Vertheidiger nochmals, wenn er nicht besondere Gründe für einen gegentheiligen Wunsch habe, ihn der Anwesenheit bei seinen letzten Lebensmomenten zu überheben, weil dieselbe ihm besonders peinlich wäre.„Ach," sagte Stellmacher, „ich hätte das nur gewünscht, damit eine Person dabei wäre, auf die ich mich verlassen kann, daß sie wahrheitsgemäß meiner Frau mittheilt, wie es bei meiner Hinrichtung zugegangen."—„Ueberlassen Sie dies getrost," erwiderte der Vertheidiger,„den anwesenden Berichterstattern sämmtlicher Journale." Der Vertheidiger bemerkte, daß er gehört, wie sich Stellmacher gegenüber dem Pfarrer benommen, und rieth ihm, gegen denselben wenigstens nicht unhöflich zu sein, da ja dessen Pflichten nicht angenehm und seine Intentionen die besten seien.„Ach," entgegnete Stellmacher mit zynischem Lächeln,„ich war gar nicht unhöflich mit ihm."—„Haben Sie gar nichts zur Erleichterung Ihres Gewissens zu sagen," fragte der Vertheidiger und fuhr fort:„Glauben Sie nicht, daß irgend welche Maßregel angewendet werden könne, Jemanden zum Geständnisse zu zwingen; allein aus einem Geständnisse schließt man auf das Gemüth, und erkennt man die Gründe auch der verdammenswerthesten Hand- lungen, und diese erscheinen dann in einem minder gehässigen Lichte." Etwas unwillig erwiderte Stellmacher:„Ich habe wirklich nichts mehr zu sagen."— Vertheidiger:„Ich begreife nur nicht, wie Sie, ein Mann, der bei der Erinnerung an Weib und Kind in Thränen ausbrechen kann, die Kinder anderer Leute erschlagen konnte."— Dar- auf blieb Stellmacher die Antwort schuldig und stierte vor sich hin. Dann sagte er nach einer Pause:„Ja, ja! Sie haben Recht, ein solches Leben taugt nichts, und unter solchen Umständen ist es besser, wenn man nicht lebt."— Vertheidiger:„Aus Ihrem Benehmen,. aus Ihren Antworten empfange ich den Eindruck, daß Sie lieber allein sind."— Stellmacher machte eine abwehrende Handbewegung.— Vertheidiger:„Sie sehen ein, daß ich Ihnen nicht Helsen kann?"— Stellmacher(lächelnd):„Ja, ja, da gibt's nichts zu helfen." Und über die Vollstreckung selbst heißt es:„Als er zu dem Winkel kam, wo die Gerichtskommission ihn erwartete, erblickte Stellmacher den Richtpfahl. Er warf einen langen trotzigen Blick aus denselben; es war, als würde er einen verhaßten Gegner messen. Sodann schritt er, vom Kerkermeister und dem Gefangenhaus-Direktor geführt, weiter vor. Der Kerkermeister wendete sich an den Leiter der Gerichtskommission mit den Worten:„Ich melde gehorsamst: Hier ist der zum Tode verurtheilte Hermann Stellmacher. Der Präsident sagte hierauf zum Scharfrichter:„Ich übergebe Ihnen hiermit den wegen meuchlerischen Raubmordes zum Tode durch den Strang verurtheilte«.Hermann Stellmacher. Walten Sie Ihres Amtes!" Während der Präsident dies sprach, sah ihm Stellmacher mtt festeni Blicke in die Augen. In dem marniorblassen Gesichte zuckte keine Miene und kein Wort kani über seine Lippen. Rasch, als würde er selbst einein Auftrage folgen, wendete sich ver Delinquent ab und dem Richtpflock zu und ergab sich widerstandslos in sein Schicksal." Jeder, der diesen Bericht unbefangen liest, wird uns zugestehen müssen, daß grade die Hinrichtung Stellmachers— weit entfernt, den Abscheu vor seiner That zu erhöhen, sie init einer Gloriole umgibt, die aus em- psängliche Geinüther durchaus anreizend wirken muß. Wer vor der Sache nicht zurückschreckt, der wird vor der„Strafe" gewiß nicht zurück- schrecken. Mit solchen Mitteln mildert nian die Sitten nicht. — Die Korruption des Richter st andes durch das Sozialistengesetz tritt imnier handgreiflicher und widerwärtiger zu Tage. So wurde Ende Juli d. I. Genosse Fromm wegen Zuwider- Handlung gegen§§ 24 und 25 des besagten Schandgesetzes zu 14 Tagen Gefängniß verurtheilt, unter Umständen, die eine kurze Darlegung noch- wendig machen. Die einschlägigen Paragraphen lauten: „Z 24. Personen, welche es sich zum Geschäft machen, die im Z. 1, Abs. 2 bezeichneten Bestrebungen zn fördern, oder welche auf Grund einer Bestimmung dieses Gesetzes rechtskräftig zu einer Strafe verurcheilt worden sind, kann von der Landespolizeibehörde die Befugniß zur ge- werbsmäßigen oder nicht gewerbsmäßigen öffentlichen Verbreitung von Druckschriften, sowie die Befugniß zun» Handel mit Druckschriften im Umherziehen entzogen werden. „Die Beschwerde findet nur an die Aussichtsbehörden statt. „§ 25. Wer einem auf Grund des§ 23 ergangenen Urtheil oder einer auf Grund des§ 24 erlassenen Verfügung zuwiderhandelt, wird mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark oder mit Haft oder mit Gefäng- niß bis zu sechs Monaten bestrast." Nun verfaßte Fromm und zeichnete als Herausgeber einen(nichts „Strafbares" enthaltenden) Aufruf an die Tischler von Chemnitz und Umgegend, der denn auch in einer Anzahl von 1200 Exeniplaren ver- breitet ward. Auf Grund dieser„Thatsache" wurde Fromm sofort ver- haftet, in Hast behalten(unter dem Vorwand des„Fluchtverdachts"), des Vergehens gegen obige zwei Paragraphen des Sozialistengesetzes an- geklagt und am 23. Juli d. I. nach ei»monatlicher Untersuchungs- hast von dem Chemnitzer Landgericht abgeurtheilt, welches ihn auck schuldig erfand und mit einer vierzehntägigen Gefänznihstrase belegte. Da das Gericht so„anständig" war, die 14 Tage Strafhaft durch die inehr als doppelt so lange Untersuchungshaft für verbüßt zu erachten, wurde Fromm sofort in Freiheit gesetzt; er hat aber wegen der prin- zipiellen Bedeutung des Falles Revision erhoben, und die Sache wird demnächst das Reichsgericht beschäftigen. Soweit bietet der Prozeß nichts Bemerkenswerthes. Aehnliches kommt in Deutschland alle Tage dutzendmale vor und zum Theil noch mit viel mehr Brutalität und weit härteren Strafen. Was uns in besonderem Maße interessirt und zu dieser Besprechung veranlaßt hat, ist die juristische Begründung des Urtheils. Wir theilen den Schluß des Erkenntnisses mit, der das Wesentliche enthält. Derselbe lautet: „Zwar hat der Angeklagte seine Sttaflosigkeit damit zu begründen versucht, daß er eben wegen jenes ihin bekannten Verbotes der Landes- Polizeibehörde an dem Ort des Vertheilens nicht gewesen sei, also an der Uebergabe der Exemplare in die Hände der betreffenden Tischler sich nicht betheiligt habe und er des guten Glaubens gewesen sei, dem polizeilichen Verbots nicht entgegenzuhanveln, wenn er seine Thätigkeit auf die oben festgestellten Handlungen(Schreiben und Fertigstellen durch Druck) beschränkt habe. Allein so wenig glaubhast im Uebrigen dem Gerichtshofe dieser Einwand des Angeklagten erschienen ist, der sich seinem ganzen Auftreten und der Art seiner Vertheidigung nach als ein mit den einschlagenden gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere mit den seitens der Gerichte bei Zuwiderhandlungen gegen das sogenannte Sozialisten- gesetz durch dritte Personen erlaffenen Entscheidungen wohlvertrauter Mann gezeigt hat, liegt der Thatbestand einer strafbaren Verbreitung eben vor, weil, wie feststeht, der Angeklagte den Aufruf ver- absaßt hat, denselben hat drucken lassen, serner die Exemplare in der Druckerei selbst abgeholt und dem Schriftführer Jahn übergeben hat mit dem V o r s a tz e, daß dieser die Exemplare wieder dritten Per- sonen mittheilen und so der Aufruf in den einzelnen Exemplaren in die Hände der Adreffaten, der hier und in der Umgegend wohnhaften Tischler, getragen werden soll(vergl. Entscheidungen des Reichsgerichts in Straf- fachen Bd. V S. 49). „Hat der Angeklagte demnach in einem solchen Glauben sich befunden und sich wirklich über die Tragweite seiner Handlungen getäuscht, so hat er sich lediglich in einem Jrrthume über den Inhalt der Strasnormen befunden, der nach bekannten Grundsätzen ohne jeglichen Einfluß aus die Beurtheilung der Sache bleiben muß. „Hiernach steht fest, daß der Angeklagte immer auf Grund des§ 24 des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemo- kratie vom 21. Oktober 1878 erlassenen Verfügung zuwidergehandelt hat, indem er öffentlich Drucksachen verbreitet hat. Seine Bestrafung hatte daher auf Grund§ 25 des angezogenen Gesetzes in Verbindung mit dem Gesetz betreffend die authentische Erklärung!c. 2C. vom 31. Mai 1880 zu erfolgen." Betrachten wir diese Argumente oder„Rechtsgründe" einen Moment. Also dem Angeklagten ist das Recht des„Vertriebs" und der„Ver- breitung" von Druckschriften durch Polizei-Ukas entzogen. Gut. Gegen diesen Polizei lUas soll er sich vergangen haben. H a t er sich gegen ihn vergangen? Mit anderen Worten: hat er Druckschriften im Sinne des Sozialistengesetzes vertrieben oder verbreitet? Das ist die Frage, die einzige Frage, mit der die Richter sich zu befassen haben. Fromm sagt:„Nein, ich habe den Ortsaufruf geschrieben, ich habe ihn für die Verbreitung geschrieben und ihn zurechtgestellt; da mir aber die Verbreitung durch Polizei-Ukas verboten ist, so habe ich mich von der Verbreitung ferngehalten und sie durch Andere be- sorgen lasse n." Ist das wahr, was Fromm behauptet, so liegt ein Verstoß gegen die Z§ 24 und 25 des Sozialistengesetzes entschieden nicht vor, denn nicht das Schreiben und F e r t i g st e l l e n von Flugblättern zc. ist ihm verboten, auch nicht das Schreiben mit der Absicht der V e r b r e i- tung. Das Einzige, was verboten ist, ist der Akt der V e r b r e i- t u n g, eine korrekte, juristisch fe st zu st eilende Hand- l u n g, ohne deren juristische Feststellung eine Verurtheilung juristisch einfach undenkbar ist und aus einen reinen Justizmord hinausläuft. Die Aufgabe des Gerichts bestand unter solchen Verhältnissen darin, dem Angeklagten den Nachweis dieser konkreten Handlung zu liefern. Haben die Richter es gethan? Nicht einmal den Versuch haben sie gemacht. Sie haben im Wesent- lichen die Richtigkeit der Behauptungen Fromm's anerkannt und seine Schuld dadurch herausdestillirt, daß sie behaupten, er habe den„Vor- s a tz" der Verbreitung gehabt. Allein der nicht zur Handlung gewordene„Vorsatz " ist juristisch nicht strafbar; strafbar, wie gesagt, ist nur die Handlung, und die strafbare Handlung ist, nach dem indirekten Zugeständniß des Erkennt- nisses selbst, Fromm nicht nachgewiesen worden. Im Gegentheil, das Gericht nahm an, er habe die strafbare Handlung nicht begangen— und dennoch verurtheilte eS ihn, well er den„Vorsatz" der Ver« breitung gehabt habe! Wir sagten schon, daß der Vorsatz juristisch nicht zu bestrafen sei. Und obendrein nahmen die Richter nicht einmal an, Fromm habe den Vor- satz gehabt, selbst zu verbretten, d. h. eine strafbare Handlung zu begehen. Was sie ihm zur Last legen, ist der„Vorsatz ", die Verbreitung durch Andere besorgen zu lassen, denen die Verbreitung nicht durch Polizei-Ukas verboten, für die sie folglich gar keine strafbare Handlung war. Wir gelangen demnach zu der Monstrosität, daß Fromm buchstäblich wegen des„Vorsatzes" einer nicht strafbaren Handlung verurtheilt worden ist. Das ist wohl noch nicht dagewesen, und zeigt, wie ganz korrupt unser Richter- stand unter der Herrschast des Sozialistengesetzes geworden ist. Wir wollten bloö die Thatsache feststellen. Geändert wird ja daran nichts werden. Die Großmutter Reichsgericht wird dem Enkel Landgericht wahrhastig nicht Unrecht geben. — Die deutschen Zeitungen beschäftigen sich immer mehr mit den bevorstehenden Reichstagswahlen. Die charakteristischste Erschei- nung, die sich da zeigt, sind erstens der Kandidatenmangel, an dem so ziemlich alle Parteien laboriren, und zweitens der allen b ü r g e r- lichen Parteien gemeinsame Mangel nicht nur an ernsthaften Wahlprogrammen— das wäre ja nichts Neues—, sondern an wirk- samen Wahlparolen. Alle alten Schlagworte der Regierungsparteien: Kulturkampf, Reichstteue, Soziale Reform jc. sind abgenutzt, und die bürgerliche Opposition ist, Dank der famosen Richter'schen Taktik, jede kräftige Stimme in der eigenen Partei zu unterdrücken, so lendenlahm, daß sich ihrer Armee allmälig eine wahrhaft tödtliche Lethargie bemäch- tigt. Wo soll auch die zum Kampf nöthige Begeisterung herkommen, wenn jedem Angriff von vorneherein von Seiten der Herren Führer die Spitze abgebrochen wird? Recht charakteristisch ist ferner die, von uns übrigens schon längst vorhergesagte Annäherung zwischen Nationalliberalen und Christlich-Sozialen. Die nächsten Wahlen werden an verschie- denen Orten das erhebende Schauspiel zeigen, daß die Anhänger Stöcker's mit der Partei des ärgsten Ausbeuterthums Hand in Hand gehen. In Elberseld-Barmen haben sie sich schon aus«inen gemeinsamen Kandidaten, denMissionsrnspektor Fabri, geeinigt, und andere Kreise werden diesem schönen Beispiel folgen. Uebrigens ist nach unserer Ansicht die Verbindung auch eine durchaus natürliche. Daß Stöcker nichts Anderes ist als der konservative Max Hirsch , haben wir längst konstatirt. Die konservative Bourgeoisie braucht eben auch ihren Harmonieapostel. Daß derselbe noch verlogener sein muß als sein liberaler Amtsbruder, liegt auf der Hand. Ebenso braucht sie das Christenthum, nicht für sich, aber als Handelsartikel. Der Missionär des 19. Jahrhunderts ist ein in den Priesterrock gesteckter Kommis-voyageur, der die Wilden Afrika's zu Kunden der europäischen Schnaps-, Baumwoll-:c. Fabrikanten heranzuziehen hat. Aus Alledem erhellt, daß die Kandidatur Fabri die denkbar ange- nehmste ist— für die Bourgeoisie. Vivat seguonsl —„Da wurden seine Geschwister bei Hofe große Herrn." Wenn je Goethe's Flohlied mtt Recht angewendet werden durste, so aus Kaiser Wilhelm's großen Kanzler: Herbert Ge-
Ausgabe
6 (14.8.1884) 33
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