Heute ist in Preußen-Dsutschland dieser Fall die seltene Ausnahme—die Arbeiter kennen die Polizei nur als Beschützerin des AusbeuterthumS»Nd seiner Privilegien, als gemeinschädliches In st itut zurUnterdrückung alles wirklichen Fortschritts.Sozialpolitische Rundschau.Zürich, 19. Juni ISSS.— Coimammatam est. Es ist zu Ende, schreibt man unZaus Deutschland, das kurze Zwischenreich des„liberalen" Kaiser?. Wie«in Schattenbild an der Wand ist es vorübergezogen, und die Feindedes Volkes, welche drei Monate lang sich in ihrer Herrschaft bedrohtsahen, sie athmen wieder auf, und kehren zurück, aus dem Dunkel, inda» sie ihr lichtscheues, verbrecherisches Werk hüllen mußten— und siearbeiten wieder, im vollen Lichte des Tages—«besten mit verdoppel-tem Eifer, um das Versäumte nachzuholen.--Die„hundert Tage" des Xraumkaiserthums haben keine Thatengezeitigt— die Hand eines Sterbenden vermag sich nicht tief einzugrabenin die ehernen Tafeln der Geschichte— aber eine herrliche Lehre fürdas Volk.ton Oben her kann die Rettung nicht kommen. Derze Klafsenstaat ist volksfeindlich und der Monarch, welcher dies nicht«greift und für die Rechts und Interessen des Volks eintritt, hat sofortdie Gesammtheit der herrschenden und ausbeutenden Klassen gegen sichund wird in seinem Streben lahmgelegt. Und sein Purpur schützt ihnvor den Giftpfeilen der privilegirten Unterdrücker und Ausbeuter eben-sowenig wie den Proletarier sein Arbeitskittel.„Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur durchdie Arbeiterklasse selbst herbeigeführt werden."Das predigt die Sozialdemokratie seit Jahrzehnten. Und so Mancherhat's nicht geglaubt. Jetzt— angesichts der Schicksale des zweiten der»reußisch-deutschen Kaiser, angesichts der Rebellion seiner„Ba<fallen" und„allergetreuesten" Diener— mußte die Wahrheit jenesWorts auch dem hartnäckigsten Optimisten zum Bewußtsein gelangt sein.Bon oben her kann die Rettung nicht kommen. Wer auf die Trug-gvtter des Himmels und die Großen der Erde baut, der ist genarrt.Rur das Volk kann das Volk befreien.— Für die deutschen Prestzustände ist es bezeichnend, daßnachfolgender Artikel, der wenige Tage vor dem Tod des Kaisers Fried-»ich geschrieben war, in deutschen Blättern kaum Aufnahme finden konnte,weil man befürchtete, er könne der Polizei Anlaß zur Unterdrückunggeben! Wer, ohne die deutschen Verhältnisse zu kennen, den Artikelüest, wird eine solche Befürchtung gar nicht verstehen können, wer aberweiß, wie es in Deutschland zugeht, wer es in jünster Zeit erlebte, wiewe„Bremer Volkszeitung" und der„Reue Bauhandwerker", zweiBlätter, die in vorsichtigster, maßvollster Weise redigirt waren, trotzdemvon der Polizei unterdrückt wurden— noch obendrein von der Polizeitweier„freien Städte"— der wird sich über jene Befürchtungen sichernicht wundern.Also der in Deutschland undruckbare Artikel, der einem unsererKorrespondenten in die Hände gekommen ist, lautet also:„Kanzker gegen KaiserlDas ist die neueste Losung, welche Herr Pindter in der„NorddeutschenAllgemeinen Zeitung" ausgegeben hat, und da Herr Pindter mit demd-utich-n Reichskanzler in einer gewissen„prästabiltrten Harmonie" steht,so daß er als sein Doppelgänger betrachtet werden kann, so können wirvuch getrost annehmen, daß dies die Losung deS Kanzlers selbst ist.Vor der letzten Reichstagswahl lautete die Losung anders. Da hieß«s: Reichstag gegen Reichskanzler. Der Reichstag, welchersich hatte beikommen lassen, in manchen Fragen eine eigene Meinung zuhaben, war zur Strafe aufgelöst worden und jede Partei und jedePerson, die nicht dem Reichstanzler blinden Gehorsam schwor, wurde als«reichsfeindlich" geboykottet, und sollte„an die Wand gedrückt werden."Rst Hilfe der bekannten Mittel gelang das auch, und Fürst Bismarckerfreut sich sestdem eines Reichstags, der ihm jeden Wunsch an denAugen abzulesen sucht, im Geldbewilligen und Jasagen seine einzige Freudeerblickt.Und dennoch wieder„Friktionen", wieder„Kraftproben"! DemReichskanzler, der den Widerstand de? Reichstag« glücklich niedergeworfen,ist an„höherer" Stelle Widerstand erwachsen: Der deutscheKaiser hat einen andern Willen gehabt als der deutsche Reichskanzler,Und Hie Kanzler! Hie Kaiser! tönt der Schlachtruf des HerrnPindter und seines Doppelgängers.Wie unsere Leser bezeugen werden, hat uns der Sturz des HerrnPuttkamer sehr kühl gelassen. Herr Puttkamer ist nur ein Rädchen inher Maschine, daS jeden Augenblick ersetzt werden kann und dessen Eni-senden Jelko angezettelt und verbreitet worden war. Nach seinerin Charkow erfolgten Verhaftung wurde Antonow in Ketten nach derPeter-Paul-Festung gebracht und ihm ein Register seiner„Verbrechen"vorgelegt, das er nicht anerkannte. Daraufhin ward Jelko in seine Zell«gebracht und erzählte soviel Wahres und Falsches, daß Antonow, derihn wie seinen Bruder geliebt, die Augen ausgingen. Einige Zeit späterj#«d Antono« zum Direktor des PolizeiministeriumS gerufen und ihmher Vorschlag gemacht, gleich Jelko in den Dienst der Polizei zu treten«Und seine Freunde zu verrathen. Man gab ihm zwei Wochen Bedenk-Kst, während deren er häufig die Besuche hoher Polizeibeamten empfing,welche ihm für seinen Verrath goldene Berge versprachen, aber umsonst.Antonow. ein sehr intelligenter Arbeiter, Mit;, heb der südruffischen Or-ßanifation, gibt seine Theilnahme an dem Postraub zu, den er damals»Is ein unvermeidliches Uebel auffaßte, während er jetzt Lopatin's U-ber-ttugung theilt, daß derartige Propagandamittel von der Partei verab-scheut werden müssen.Der Angeklagte Wolny wurde auf die Aussagen eines zehnjährigenRädchens hin verhaftet. Er gehörte zur Zest seiner Verhaftung derPartei gm nicht an, er war damals so arm, daß er buchstäblich fast vorHunger starb, was nicht der Fall gewesen wäre, wenn er der Partei»Ngehört hätte, denn die Partei verfügte damals über reiche Msttel, dieohne ihr Wissen, durch Degajess's Vermittlung von Eudjeikin geliefertwurden, welcher Komplotte inszenirte, um dann Zm und Gesellschaft zu«retten" und Minister zu werden.Einer der Angeklagten erklärte, daß er nie zur revoluttonären ParteiBjbrt habe und nichts mst ihr zu thun haben wolle. Seht« Verhaftungtzte sich darauf, daß er etliche Revolutionäre gekannt habe!Hiermit endete daS Verhör, und der Staatsanwalt des Kriegsgericht?,Raßlow, ergriff da« Wort. Seine Anklage bezog sich besonders auf�opatin, Suchomlin, Jakubowitsch, StmodworSky, Konafchewitsch undÄSulein Salowa.„Schon die bloße Zugehörigkest zur revolutionärenPartei," sagte der Staatsanwalt,„wird nach dem russischen Gesetz mitHevi Tode bestraft. Gegen Lvpatin brauche ich nicht aufzutreten, sein«PergangenHsit allein verdient den Tod, die Salowa verdient den Todvi» Sekretärin Lopatin's. Suchomlin hat den Strang dadurch verdient,haß er in den drei Jahren seiner Untersuchungshaft keinen einzigen seinerSreunde verrathen!(Wie logisch und moralisch!» Was Jakubowstsch an-betrifft, so verlange ich auch für ihn die Todesstraf«, denn wenn er auchßegen den Terrorismus war, so glaube ich doch, daß er ohne seine Ver-«TOmg noch zum Terrorist geworden wäre!" �-Der milde und logische Staatsanwalt sowie sein« beiden Gehilfen ver-langten für sämmtliche AngeNagte mit Ausnahme von Fränkel, BieloussowWtd Lebedew die Todesstrafe. Letztere drei sollten nur zu 1ö JahrenZwangsarbeit in Sibirien verurtheilt werden. Der Präsident deS Kriegs-Sttichts war über die letztere milde Forderung so erschrocken, daß erstefeierlich zu Protokoll nehmen ließ.(Es wm nämlich im Voraus beschlosseneSache, alle Angeklagten, ob schuldig oder nicht, zum Tode»u verur-seilen.).. Die Bertheidiger der Angeklagten, meist bekannte Advokaten auS Peter»-'vvg, plädirten, sowest e» der Borsitzend« erlaubte, auf mildernde Um-stände. Ihre Rolle war eine äußerst schwierige, denn abgesehen davon,fernunz oder Beibehaltung für unS und überhaupt für da»'deutscheVolk höchst gleichgültig ist. So lange das jetzige System dauert, ist esganz einerlei, ob der Haupt-Polizeiagent desselben Puttkamer, Zeidlitz,Böttcher oder— unserthalben auch Bennigsen oder Miquel heißt. S olange das System besteht, befinden wir uns der Lag« jenerHühner der französischen Karrikatur, die von dem Koche gefragt wurden:„Wollt ihr gekocht oder gebraten werden?" Wir wollen wederkonservativ gebraten, noch nationalliberal gekochtwerden. Wir rufen: Fort mit dem ganzen System!Und, wie gesagt, Herr Puttkamer ist n i ch t das System. Trotzdemhat seine Entlassung, weil sie, wa» jetzt zweifellos erscheint, gegenden Willen des Fürsten Bismarck beschlossen wurde, dasSystem getroffen, den FürstenBismarck getroffen, welcher derTräger des Systems ist, und hat jenen Schlachtruf Pindter» und seinesDoppelgängers zur Folge gehabt.Hie Kaiser! Hie Kanzler!oder genauer:HieKanzler! HieKaisertDenn das ist die richtige Wortstellung nach Pindter und seinemDoppelgänger.Das deutsche Volk soll bei den W a h l e n zum Landtag und natürlichauch zum Reichstag entscheiden, w e m es sein Vertrauen schenkt, demKanzler, welcher Deutschland„geschaffen" hat, oder den r e i ch s-feindlichen Elementen, die sich bei der Entlassung deS bravenPuttkamer geltend gemacht haben. Mit andern Worten: Der Kanzlerfordert einPlebiszit gegenden Kaiser. Man glaubt zuträumen. Und wer 1871 und noch viel viel später vorausgesagt hätte,17 Jahre nach Gründung des deutschen Reichs würde der deutscheKaiser von dem Kanzler— oder Kanzler-Organ— zum Reichsfeind ge-stempelt werden, der wäre auf seinen gesunden Menschenverstand unter-sucht worden.Wir gehören nicht zu denen, die den Vorkommnissen in den Palästeneinen ausschlaggebenden Einfluß auf die Geschicke der Menschheit zu-schreiben— wir wissen, daß der Gang der politischen und sozialen Eni-wicklung sich nach Gesetzen vollzieht, an denen kein Individuum— auchnicht das höchstgestellte— etwas ändern kann— trotzdem wäre esthöricht, wollten wir die Bedeutung der Thatsache, baß das per-sönliche Regiment des deutschenReichSkanzlers mitder Krone des Hohenzollernkaisers in Konflikt ge-rathen ist, zu verkleinern suchen oder gar in Abrede stellen.Fürst Bismarck ist das Produkt der Verhältnisse, ebenso wie dieHohenzollern-Monarchie und das deutsche Reich. Daß sich in der PersondeS Fürsten Bismarck eine so große Macht konzentriren konnte, dasliegt einestheils in der wirthschaftlichen Zersetzung, welchedie herrschenden Klassen dem ZSsartsmus in die Händetreibt— anderntheils in der Eigenartigkeit der persönlichen Be-ziehungen des Fürsten Bismarck zu dem vorigen Kaiser. Der Wille desvorigen Kaisers fiel mit dem Willen des Fürsten Bismarck so voll-ständig zusammen, daß in Wirklichkeit nur ein Wille vorhanden war.Dieser Zustand hat mit dem Tode des Kaisers Wilhelm aufgehört.Der neue Kaiser hat einen Willen, welcher nicht der Wille deS FürstenBismarck ist. Damit hat die Einheitlichkeit deS Willens aufge-hört. Nach der monarchischen Tradition mußte Fürst Bismarckunter solchen Umständen zurücktreten; allein hieran denkt er geradeso wenig, als er an seine Demission dachte, wenn er im Reichstag eineNiederlage erlitten hatte. Er erkennt die streng monarchischeRegel so wenig an wie die parlamentarische. Und dasist'S, was dem gegenwärtigen Konflikt sein Interesse verleiht. DerFührer der Ordnungsparteien— und das ist Fürst Bis-marck— kann sich in die einst so warm verherrlichte Rolle des„Va-fallen der Krone" nicht hineinfinden. Und— Herr Pindter hat demKaiser den Handschuh hingeworfen!Wir leben in einer Zeit der allgemeinen Zersetzung und Auflösung,und es ist nur natürlich, daß auch in den oberen und obersten Regionendie Auflösung sich vollzieht.Der Führer der Ordnungsparteien pocht auf seine Reichstags-Majorität; und er appellirt ans Volk, das ihm bei den nächstenWahlen wieder die Majorität geben soll. Das dünkt uns etwaS unvor-sichtig. In orientalischen Märchen lesen wir von mächtigen Genien,deren Macht aber gebrochen ist, sobald-in Zauberwort, welches sie ander Stirn tragen, ausgelöscht wird. Die vereinigten OrdnungS- undReaktionsparteien, auf die der Reichskanzler sich stützt, gleichen jenenGenien, ihre Macht ist leicht zu vernichten: das Wort:„21. Februar1887", das sie an der Stirn tragen, braucht blos weggewischtzu werden. Und das ist leicht. Das Mittel heißt: Auflösungdes deutschen Reichstags— Neuwahlen.Würden Herr Pindter und sein Doppelgänger beim Worte genommen— nichts Schlimmeres könnte ihnen geschehen. Jetzt Neuwahlen—jetzt, wo der Sturz des Mannes, der die Wahlen des 21. Februar1887 leitete, allen Wahlfälschern und Wahlbetrügern einen heilsamenSchreck eingejagt hat— das wäre das jüngste Gericht für dieKartellbrüderschaft— daS Volksgericht. Sie würde weg-gefegt werden wie Spreu vor dem Winde, und nach der Wahlschlachtwürde es von den Kartellbrüdern heißen wie weiland von den stolzendaß die Vertheidigung nichts an dem im Voraus beschlossenen Urtheiländert, laufen die Bertheidiger Gefahr, bei der geringsten freien Wen-dung auf administrativem Wege nach einem abgelegenen Winkel verschicktzu werden.(Der deutschen Regierung besonders mit Rücksicht auf ihreKolonisationSprojekte in Afrika zu empfehlen.) Trotzdem hielten sich dieBertheidiger in vorliegendem Prozeß vortrefflich.StarodworSky, welcher Sudjeikin hingerichtet hatte, vertheidigte sichselbst. Seine Vertheidigung gestaltete sich zu einer erdrückenden Anklagegegen Sudjeikin oder richttger gegen das gesammte russische Polizei-system. Sudjeikin wollte durch die Revolutionäre die Grafen Tolstoi undPleve sowie den Großfürsten Wladimir ermorden lassen und dann dieMörder verhaften. Das Komplott sollte den Zaren von Sudjeikin'SFähigkeiten überzeugen und ihm zum Ministerposten oder zur Diktaturverhelfen. Mit Degajeff zusammen wollte er dann unter den Revolu-tionären gründlich aufräumen. Sudjeikin hatte eine eigene Polizeiabthei-lung für die im Auslände lebenden russischen Revolutionäre organisirt.um dieselben wo möglich in Fallen zu locken und durchbist oder Gewaltnach Rußland zu bringen.Er gründete in Petersburg geheime Druckereien, in deren einer z. B.die nichtperiodische Zeitung„Narodnaja Walja"(Der Volkswille) her-gestellt ward, und lieferte in eigener Person Artikel für die revolutionärePresse.In all' diesen Unternehmungen spielte Degajeff die Rolle der Mittels-person. Er bezog für seine Dienste ein monatliche» Fixum von 300Rubeln, außerdem monatlich 500 Rubel für Reisen in Rußland, undfür jede Reise ins Ausland 2000 Rubel.Sudjeikin fabrizirte auch Pässe für kompromittirte Revolutionäre;StarodworSky z. B. erhielt aus dieser Quelle einen Paß als Sawitsky.Die Revolutionäre hatten natürlich keine Ahnung, woher daS Geld unddas Glück kam. Degajeff, das alter ego Sudjeikin'S, galt als eifrigerund ergebener Anhänger der Partei, und Niemand dachte an«inen Ver-rath seinerseits. Sudjeikin hatte sogar ein, natürlich fehlschlagende»Attentat gegen seine eigene Person organisirt. Da auf einmal vollzogsich m der Seele Degajess's eine Wandlung, und er bekannte dem Exe-kutivkomite seine verrätherische Roll«. Diese» fällte das Urtheil, Degajeffsolle als Sühne seines Äerraths in eigener Person Sudjeikin tödten unddaraus Rußland und Europa verlassen, überhaupt von der Bildfiächevöllig verschwinden. Im Falle von Ungehorsam gegen daS Verdikt desExekutivkomste» ward Degajeff der Tod angedroht. Das moralisch« Ueber-gewicht d«S Exekutivkomites war so groß und die Wandlung Degajeff'«so ttef, daß er das Urtheil vollstreckt hat; er tödtete Sudjeikin und istseitdem spurlo» verschwunden. StarodworSky hat an dieser HinrichtungTheil genommen und bat, ihn al» gemeinen und nicht al» politischenVerbrecher zu richten.(In Rußland werden nämlich nur politisch«»er-brecher mst dem Tode, gemeine Verbrecher mit Zwangsarbeit bestraft.)Die meisten Angeklagten verzichteten auf da» Wort, andere ergriffeneS nur, um gegen das Gericht und die Richter zu protestiren, so z. B.Lopattn, welcher sagte:„ES gab eine Zest, wo der SerichtSsaal offenund frei war, wo man in ihm laut und unbehindert seine Meinungäußern konnte. Diese Zest ist vorbei und für lange vorbei. Jahre lang.hat man uns in Einzelhaft gehalten, jetzt verurtheilt man uns hinterSchiffen der spanischen Armada: Der Sturm hat sie gepacktund sie sind weggeblasen.— Wird es dazu kommen? Wohlnicht. Fürst Bismarck wird eS nicht zum Aeußersten treiben, er wirddas bessere Theil des Ruthes erwählen und abwarten.(jui Tivra verra. Wir werden ja sehen— das Volk verliert sicher-lich nichts bei diesen„Friktionen" und„Konflikten"."--Der Gegensatz, den vorstehender Artikel behandelte, ist ja mit demTode des einen der beiden kämpfenden Theile aus der Welt geschafft.Der neueste Kaiser wird seinem Kanzler keine Gelegenheit geben, ihmmit dem Zaunpfahl zu winken, daß wenn der Hausmeier will, sichder H o h e n z o l l e r zu ducken hat— ebenso gut wie weiland inFranken der Merovinger.—„Wir wollen keine Frauenzimmerpolitik! Kört mit VerFrauenzimmerpolitikl" brüllt- der Chorus der„nationalen" PresseDeutschlands vor einigen Wochen, als es galt, die der reaktionären Hof-Iltgue verhaßte Kaiserin Viktoria beim deutschen Volke zu verdächtigen.Die„geistige Elite des deutschen Bürgerthums" berührte der Gedanke,daß eine im weitesten Sinne des Wortes bürgerlich gesinnte FrauEinfluß auf die R-gierung gewinnen könne, ungemein„peinlich", es wareine patriottsche Pflicht, diesen Einfluß der„liberalen Engländerin"brechen zu helfen. Nun, der Tod ist den biederen Vaterlandsrettern zuHülfe geeilt, er hat den guten deutschen Spießbürger vor dem Unglückbewahrt, eine Frau auf dem Throne zu sehen, die einen weiteren geistigenHorizont hat, als seine Begriffe von dem Wesen der„Weiblichkeit" er-lauben, und mehr Energie als die gesammten bewährten Stützen deSnationalen Liberalismus zusammengenommen.Friedrich III. ist todt und Wilhelm II. wird seiner Mutter, wenn sieüberhaupt noch Lust dazu verspüren sollte, nicht gestatten, sich in diePolitik einzumischen. In dieser B-ziehung, lieb Vaterland, magst ruhigsein. Mit der Frauenzimmerpolitik hat's ein Ende.Wirtlich? Und die Gräfin Waldersee, verwittwete Prinzeß Friedrichvon Schleswig-Holstein-Noer, gebome Mary Lea? Di«„schöne und ge»wandte Amerikanerin"? Die Veranstalterin der berühmten Zusammen«kunft zum Besten der„innern Mission"?„Seit einigen Monaten wurdederselben ebenso der Hof gemacht wie der Frau von Maintenon in derletzten Herrschaft Ludwigs XIV.", schrieb kürzlich die„New-York Tri-büne" in einem Artikel aus unzweifelhaft sehr gut unterrichteter Feder.Sollte da? nur in Rücksicht auf den großen Kredit geschehen sein, denihre Rathschläge in der V e r g a n g e n h e i t bei dem bisherigen Krön-Prinzen und seiner Frau genossen haben?Jedenfalls darf man gespannt darauf sein, wie sich der„gebildete"Liberalismus benehmen wird, wenn Diejenigen Recht behalten, die inder Tochter des Bankier David Lea die„aufgehende Sonne" begrüßen.Ob er alsdann auch den Muth besitzen wird, von keiner„Frauenzimmer»polittk" etwas wissen zu wollen, und ob sich der bekannte deutschgesinnteHerzog dazu aufschwingen wird, im Ausland eine zweite Broschüre gegen„fremde Mitregenten" erscheinen zu lassen, auch wenn es sich um keineenglische, sondern um eine amerikanische Gouvernante, nicht um dieFreundin eines Helmholz, sondern um die Beschützerin eines Stöckerhandelt. Vederemo.— Die Borgänge i« de« obere« Regionen, denen die bürg»«lichen Oppositionsparteien so tiefgehende staatspolitische Bedeutung zu-messen, haben auf unsere Taktik so wenig Einfluß, wie auf dieTakttk der Feinde gegen unS. Die Verfolgungen gehen ganzin der alten Weise fort. In Leipzig wurde am Sonnabend—zum dritten Mal seit vier Wochen— eine Anzahl Sozialisten wegende» bekannten Flugblattes zu exorbitanten Gefängnißstrafenverurtheilt. In Bremen wurde die zahme„Bremer Bolkszeitung"auf Grund des Sozialistengesetze» verboten und einer der Redak»teure, Genosse Bruhns, aus Grund des bekannten AusweisungS»Paragraphen aus Bremen verwiesen und auf die Wanderschaftdurch Deutschland geschickt. In Zwickau befürwortete der Kartell-bruder und Reichstagsabgeordnete T e m p e r eine Verschärfung de»Sozialistengesetze«, jedoch nicht durch Expatriation, welche ihre inter»,national-völkerrechtltchen Schwierigkeiten habe, sondern durch Ab»erkennung der bürgerlichen Ehrenrechte— man soll"«den sozialdemokratischen„Führern" das aktive und passiveWahlrecht entziehen, wa« allerdings«ine sehr einfache Lösung wäre.Und Haussuchungen ohne Zahl.Zur Abwechslung hat das Berliner Landgericht die 40Bauhandwerker, die wegen Verletzung des Vereinsgesetzes, un«gesetzlichen Verkehrs miteinander u. s. w. angeklagt waren, nach 14t SgigenVerhandlungen freigesprochen, und zwar mit einer Begründung,welche den Puttkamer'schen Praktiken eher zu steuern geeignet ist, alsder Fall Puttkamer's.Die„Thatsachen", welche in dem Berliner Prozeß für gesetzlicherklärt wurden, sind beiläufig ganz gleich denen, welche zur Ver-urtheilung der Leipziger Steinmetzen auf Grund de«famosen Geheimbund-Paragraphen geführt haben! Man nenntdas„Gleichheit vor dem Gesetz». In Elberfeld sind einige der Ge-fangenen freigelassen worden. Das„Material", welche» gegen sie vor»liegt, ist gleich Null, und eS bestätigt sich in vollstem Maße, daß dieverschlossenen Thüren. Ich kann Ihre Kompetenz, meine Herren Richter,nicht anerkennen. Sie find die D i e n e r des Zaren, und vollführennur dessen Befehl» unS zu verurtheilen. Ader Eines tröstet mich, daßnämlich über uns Alle, Angeklagte und Richter, ein höhere« Gericht ent-scheidet, daS Urtheil der Geschichte. Verurtheilen Sie mich zu Tode odernicht, eS bleibt sich Alles gleich. Mir thut nur da» Eine leid, daß ichin meinem Leben für die Sache de« Volk« nicht mehr gethan habe. Ichverlange weder Schonung noch Erbarmen, ich werde ebenso mannhaftzu sterben wissen, wie ich gelebt habe."Konafchewitsch bestritt seine Zugehörigkeit zur Partei, bat aber trotz-dem um den Tod, da er denselben einer lange« Einzelhaft vorziehe.Am 3. Juni um 12 Uhr Nachmittag» waren die Verhandlungen zuEnde, die Richter zogen sich zurück und wollten Abends S Uhr das Urtheil verkünden. Statt dessen erschienen sie Nachts 8 Uhr, die Komödiezum Abschluß zu bringen. Der Gerichtssaal war mit Kerzen beleuchtetund erinnerte an eine mittelalterliche Jnquisitionshöhl-, Richter undGenSdarmen mahnten an Gespenster, Todtenstill« herrschte. Die Ange»klagten waren so ruhig und gefaßt, al» ob es sich um ei» Schauspielhandle, da« sie selbst gar nicht« anginge. Der Präsident General Zemiroffverlas da» Urtheil: für Lopatin, Suchomlin. Iwanow, Jakubowitsch.StarodworSky, Konaschewstsch, Antonow, Walnow, Kuzin, Liwadin,Geier und die Damen Salowa und DobruSkina den Tod, für zweiander« Angeklagte vierjährige Katorga(Zwangsarbeit in den sibirische»Bergwerken) und für einen 4 Monate Gefängniß. Drei Angeklagte wur»den freigesprochen. Der Vorsitzende fügt- hinzu, daß daS Gericht selbstmildernde Umstände plädiren würde und folgende Strasherabsetzung be»antrage: für Suchomlin und Wolny statt der Todesstrafe 15 JahreKatorga, für Kuzin 12 Jahre, für Fräulein Dobruskina 8 Jahre, fürGeier 4 Jahre.Am 7. Juni ward da» abgeänderte Urtheil verlesen. Die Angeklagtennahmen in einer herzzerreißenden Szene von einander Abschied. Diezum Tode Verurtheilten wurden in geschlossenen Wagen nach der Peter-Paul-Festung zurückgeführt, wo sie zwei Wochen auf Vollstreckung de»Urtheil» warten mußten. Das milde Väterchen begnadigte Lopatin,StarodworSky, Konaschewitsch, Iwanow und Antonow zu lebenSläng»licher Einzelhaft in den feuchten Kasematten von Schlüsselburg, FräuleinSalowa zu 20jShriger und Jakubowitsch zu 13jähriger Zwangsarbeit inSibirien.----Die Verurtheilten wurden in Ketten geschmiedet, sogar die Freigespro-chenen tranSportirte man in Ketten nach ihren respektiven Geburtsorten.Der Prozeß mit seinen Verurtheilungen ist ein weiteres traurige»,aber glorreiches Blatt in der Geschichte der russischen Freiheitskämpfer.Da»»lterthum hat keine größeren Helden, das Christenthum keinöidealeren Märtyrer auszuweisen al» die, in der schamlosen Justizkomödi«nicht gerichteten, sondem verherrlichten Vorkämpfer für die Frethett de»ruffischen Volkes. Aus diesem Prozeß wie aus vielen anderen ist al«.gerichtet hervorgegangen nur der Despotismus, seine Vertreter, sein«Henkersknechte und seine Institutionen. O-o-