35. Jahrgang. Nr. 39
Friedensmächte.
Sonntag
Noch tobt der Bölfermord, noch raft Zerstörung, Und alle Elemente speien Tod,
Beilage zum„ Vorwärts" Berliner Volksblatt
Doch allen Kriegslärm übergellt Empörung Und Friedenssehnsucht wird zum Machtgebot. Unwiderstehlich über Schult und Leichen Bahnt ihren Weg sich eine neue Zeit, In der die Bölfer sich die Hände reichen. Der Weltkrieg wanft, er wird Vergangenheit. Jm harten Kampfe stehen noch zwei Wellen, Der Ruf nach Frieden ist ihr Kriegsgeschrei. Machtfrieden" und:„ macht Frieden!", was foll gellen?! Des Friedens Macht breche den Krieg entzwei! J. Pleẞner.
aus dieser Unmöglichreit entstehenden Folgen auf. Das ist eine frasse Ungerechtigkeit. Die Volksschule kann das Elternhaus nicht erseßen; dazu fehlen ihr die wesent lichsten Boraussetzungen, die lebendigen Wechselbeziehungen zwischen Haus und Schule, die in den Städten auf ein winziges Minimum zusammengeschrumpft sind. Die Volksschule ist heute viel weniger Erziehungs- als bloße Unterrichtsanstalt; und daran wird sich auch in absehbarer Zeit bei der Entwicklung der Städte vermutlich wenig ändern, wenigstens nicht zum Besseren. Also soll man an die Schule keine Erwartungen stellen, die zu erfüllen sie nicht imstande ist.
Fehlen einer genügenden elterlichen Erziehung, Bersagen der Volksschule, das sind zwei Tatsachen, von denen jede allein böllig ausreicht, um die Verwilderung unserer Jugend zu erflären. Aber es kommt leider noch manches andere hinzu. Um das in seiner großen Bedeutung würdigen zu können, muß man allerdings versuchen, sich in den Geist der Jugend zu versezen. Ach, und daran fehlt es bei unseren verantwortlichen Erziehern und Politikern allzu sehr. Sie alle haben bergessen,
Die Verwilderung unserer Jugend auch fie
Bon Jürgen Brand.
in ihren Jugendtagen
Auf ihrem Haupt einen Kranz getragen
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Wir
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Berlin, 13. Oktober 1913
Was darf man, so ist es wohl erlaubt zu fragen, eigentlich von dem Geiste und der Moral einer Jugend, die unter so jammervollen Verhältnissen aufwachsen muß, erwarten? Wahrlich, es gehört ein ungewöhnlich abwesendes oder robustes Gewissen dazu, jezt nach dem Strafrichter zu rufen, ganz abgesehen davon, daß auch der nichts bessern kann. Gerichtliche oder polizeiliche Strafe ist Sühne, ist rein negativ. Hier aber gilt es in ganz besonderer Art positiv zu wirken; Hier muß ein Gewicht in die Wage geworfen werden, positiver als jedes andere: das Gewicht einer reinen und starken Liebe. Ohne sie ist alle Jugenderziehung und Jugendfürsorge ein hohles Ei, wertlos. Männer und Frauen mit reichem und blutwarmem Herzen, die, wenn auch unter Schmerzen, fich der eigenen Jugend erinnern, die die Jugend berstehen, die müssen Hand ans Werk legen. Hier ruht die wichtigste und schwierigste Aufgabe, die unsere Beit uns stellt. Denn so wenig wir auch von der nächsten Bukunft wissen, eins ist sicher: sie wird auf den Schultern der heutigen Jugend ruhen.
Im Tosen der Revolution.
Bon Magim Gorki.
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Daß der Krieg bei einem großen, einem sehr großen Teile Brust voll stolzer Hoffnungen und den Kopf, ach, so voll tödaß auch sie in seliger Jugendzeit mit erhobenem Haupte, die unseres Volfes eine grauenhafte Berwilderung der Sitten er- richter und überschwenglicher Gedanken, einhergeschritten sind, zeugt hat, ist leider eine Tatsache, die jeder Tag aufs neue be- umbefümmert um Geseze und Verordnungen, jederzeit bereit, Shifn" [ Durch Gorfis Mitarbeiterschaft ift die Moskauer Nowaja „ Neues Leben" stätigt, und die wohl auch kaum noch bestritten wird. Sie ist der bedächtigen Erfahrungsweisheit, ja, der Bernunft ein dieses Blattes- furgweg das Gortiblatt genannt achtete das zu Weltruf gelangt. Auf die Urteile mit dem Wesen des Krieges untrennbar verknüpft. Raub, Schmippchen zu schlagen. Wo ist das alles geblieben? Der Ausland, um in Sturm und Sturz der Stevolution feste Punkte Mord, Diebstahl, Ehebruch nehmen in furchtbarer tragische Kampf des Lebens hat alles unter die Füße geWeise überhand. Roheitsverbrechen sind an der Tagesordnung. bracht. Muß aber die Selbstentäußerung so weit getrieben Alle Scheußlichkeiten der menschlichen Natur, durch oberflächliche werden, daß man nun den Aeußerungen einer freiheitsdursti Zivilisation bisher notdürftig und mühsam gezügelt, brechen gen Jugend völlig verständnislos gegenübertritt? mit geradezu orgiastischer Wildheit hervor und flößen der ein- wollen ja beileibe nicht alles gutheißen, was unsere Jugend geschüchterten Menschheit Furcht und Entseßen ein. berübt"; wir wollen vor allem die Verwilderung ihrer Daß sich die allgemeine Sittenverrohung auch bei der Sitten nicht entschuldigen; aber wir wollen die Ursachen Jugend in schlimmer Weise bemerkbar macht, ist eine unvermeid- dieser Berwilderung aufdecken und dadurch anregen zu ihrer liche Folge der herrschenden Zustände. So schmerzlich die Tat Beseitigung. sache ist, ungleich schmerzlicher ist die Beurteilung, die sie von den verschiedensten Seiten erfährt. Daß man betroffen, ja, daß man auf das heftigste darüber empört ist, das ist durchaus zu verstehen. In feiner Weise zu billigen jedoch ist die unverständige Art, wie gewisse Kreise jetzt der Jugend alle Schuld auf vuroen und mit Hilfe von polizer und Staatsanwalt das Lebel bekämpfen wollen. Das heißt in Wahrheit auf eine schwere Schuld eine zweite, noch ungleich schwerere häufen. Daß man die Jugend in grenzenloser und unverzeihlicher Vernachlässigung ihrer berechtigten Bedürfnisse schuldig werden ließ, das war die erfte berhängnisvolle Schuld; die zweite schwerere besteht darin, daß man jene Vernachlässigung mit barbarischen Strafen an der Jugend rächen will. Das Mittel wird nicht zum Ziele führen; die Verwahrlosung wird dadurch nicht beseitigt werden; nein, fie wird zunehmen, solange man sich nicht entschließt, ihre Ursachen aus der Welt zu schaffen.
Borin bestehen aber die Ursachen der beklagenswerten Verwilderung unserer Jugend? Ich sage: unserer, der Arbeiterjugend; denn ihre Beseitigung liegt meinem Herzen am nächsten. Ich weiß sehr gut, daß die Verwilderung auf der anderen Seite mindestens ebenso schlimm ist; aber darüber möge zu anderer Zeit gesprochen werden.
Solange das kapitalistische Ausbeutungssystem besteht, so lange hört man die Klagen über die Verwahrlosung unserer Jugend. Was Wunder! Wenn Vater und Mutter durch jenes Blutsaugerische System gezwungen sind, den größten Teil des Tages, ja, der Nacht, außer dem Hause zu sein, woher sollen sie Zeit und Kraft nehmen, sich der Erziehung ihrer Kinder zu widmen? Da soll dann die Volksschule eintreten; sie soll nicht nur die notgedrungenen Versäumnisse des Elternhauses gutmachen, man bürdet ihr auch die Verantwortung für alle
Ein Brief.
Denn jedes Wort unserer Sprache hat eine Seele, eine zarte, schwingende Seele. Aber nur die Wenigsten wissen es, weil sie fein Ohr dafür haben und die Worte gebrauchen, wie abgegriffene Münzen, die ihren Glanz und ihr Gepräge verloren haben. Buweilen aber hören wir einen Menschen reden, und wie er spricht, beginnen Worte, die verstaubt am Wege lagen, aufzuleuchten, als trügen sie einen neuen Sinn, und erstrahlen in einem Glanz und stehen in
zu gewinnen. Jekt haben die Münchener Süddeutschen Monats. hefte" ihre Oftobernummer ganz mit Blättern gefüllt, bie Gorki in seiner Beitung veröffentlichte: Stampfgedanken und Ereignisbilder initten aus den Wirbeln von Zusammenbruch und schwerstem Rinfür Gortis Stimme gehabt; und so sei auch jetzt aus dem Münchener gen um eine neue Ordnung. Der Vorwärts" hat immer ein Ohr Sefte geschöpft, das unter dem Titel„ Ein Jahr ruffische Revolu tion"( Breis 1,80 M.) erschienen ist. Das Heft ist ein erschütternder Ausdruck der revolutionären Ergriffenheit, die Gorki beseelt und zu idealstem sozialen Kulturwollen drängt. Das freilich geht findes in der Großstadt! Alles, wonach ein junges Herz auspielen. Gorki hat im heftigsten Widerspruch gegen die boliche Wie elend und arm ist die Jugend eines Proletarier nicht an, den großen Dichter, wie das der Herausgeber des Heftes tut, gewissermaßen gegen die proletarische russische Revolution ausVerlangen trägt: ungebundener Umgang mit den Dingen mistische Form der revolutionären Afton gestanden; das bezeugen der Natur, Schweifen in Feld und Wald, inniger Verkehr die min in deutschem Text wiedergegebenen Blätter. Aber diese mit Tier und Pflanze, fröhlicher und wagemutiger Wett-| Bbase ist überholt: eben jetzt ist die Schlußwendung eingetreten, fampf mit Gleichgearteten im Laufen, Springen, Klettern, daß der Dichter sich der Sowjermacht anschluß. Sie hat einen Schwimmen, Seiten und anderen schönen Dingen, aber das Platz gegeben, der ihm weitesten Raum bermittelt, feinen Stulturist unserer Arbeiterjugend in der Großstadt so gut wie ganz zielen als ein Bauender zu dienen. Die Süddeutschen Monatsversagt. Der Ersatz, den die Schule bietet, ist überaus flag- hefte" werden alfo ihrem Gorkitert und auch ihrer Einführung einen lich. Ich kann aus 24jähriger Lehrtätigkeit eine erschreckende sehr wichtigen Nachtrag besorgen müssen.] Bahl von Beispielen anführen, wo die Kinder der Oberklassen über die Naturdinge ihrer nächsten Umgebung eine wahrhaft 9. Jummi 1917. jammervolle Unwissenheit an den Tag legten; sie kannten weder Eiche, noch Buche, noch Hasel, noch Hollunder , weder" Jeder Tag hat seine Sorge": das ist natürlich, das ist normal. Berche, noch Ribiz, noch Star. Ueber das Werden und Ver- Der heutige Tag hat aber zwei Sorgen: den Kampf der Parteien gehen in der Natur, über das Bild der Jahreszeiten ließ sich um die Macht und den kulturellen Aufbau des Landes. Ich weiß ersprießlich kaum mit ihnen reden, weil feine genügenden An- wohl, daß der politische Stampf eine notwendige Sache ist, nehme knüpfungspunkte vorhanden waren. Woher sollten sie auch ihn aber nur als ein notwendiges Uebel hin. Denn ich bin fest die Vorstellungen nehmen, menn feine lebendigen Anschauun- davon überzeugt, daß der politische Kampf under den gegebenen gen da sind? Und wie erbarmungswürdig muß der arme Bedingungen und bei Berücksichtigung gewisser Eigentümlichkeiten Rörper darunter leiden, daß ihm selten oder nie sein Recht der russischen Psyche jebe kulturelle Arbeit zu einer Unmöglichkeit geschieht. So durchleben sie eine begriffs- und freudearme machen muß. Kindheit, um mit dem Tage der Schulentlassung- sehr Die Aufgabe der Kultur ist, im Menschen das soziale Getiffen häufig noch früher von den gierigen und zermalmenden und die soziale Moral zu enitvideln und zu stärken und alle Fähig Fängen des Erwerbslebens erfaßt zu werden. In den teiben und Talente der einzelnen zu organisieren; ist diese Aufgabe Jahren, die zu den schönsten im Menschenleben gerechnet wer- in den Tagen der allgemeinen Bertierung durchführbar? den, muß unsere Jugend in Fabrik und Werkstatt schuften, Man bedente doch, was um uns vorgeht: jebe Zeitung infiziert ohne Liebe, über ihre Kraft und man schämt sich, es nieder- alltäglich ihre Leser mit den schändlichsten Gefühlen, mit Haß. Lüge, zuschreiben ohne genügenden Schutz. So war es schon zu Heuchelei und Zynismus. Friedenszeiten. Nun kommt der Krieg dazu, der alle Bande frommer Scheu zerreißt.
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mußte an die schlanken weißen Hände denken, die seine Blätter auseinanderfalten, und an die fremden fühlen Augen, die darauf ruhen würden und fand den Mut nicht. Erst am Abend, als die Dämmerung wieder ihren weichen Mantel um die Dinge schlang, wagte er es und ließ den Brief abgehen.
Die junge Dame, für die er bestimmt war, faß gerade in ihrem Anfleidezimmer, als sie den Brief erhielt. Ihre Bofe stand hinter ihr und strählte ihr das Haar. Bofe stand hinter ihr und strählte ihr das Haar.
Gott , was für ein dicker Brief! sagte fie, als das Zimmermädchen die Bost hereintrug.
Das machte die junge Dame neugierig.
Sie öffnete darum diesen Brief zuerst. Is fle eine
• Revolution und Kultur.
In dem einen wedt man Angst vor dem Menschen und Haß gegen den Menschen; in dem anderen- Berachtung und Nachsucht;
Biele Jahre später war aus dem Studenten mit den ausgefransten Aermeln ein bekannter Dichter geworden. Sein Verse lagen in den Zimmern schöner Frauen. Junge Musiker erglühten darüber und suchten Melodien dazu.
Die Jahre gingen, und die Zeit war wie ein Strom, der jeden Tag neue Schiffe in ihre Häfen trägt, und man bergaß den Dichter und seine Verse. Zu seinem sechzigsten Geburtstage aber erinnerte man sich seiner wieder, und in seinem einsamen Zimmer drängten sich plöglich die Besucher.
Farben, als hätten sie einen königlichen Mantel um ſich ge- Weile gelesen hatte, fagte fie: Das hat gewiß niemand anders niemand etwas damit. Aber ich hab als blutjunger Student
schlagen..."
Als er am Abend mit einigen seiner Vertrauten allein geblieben war, und einer ihn bat, bon feiner Jugend zu erzählen, sagte er:„ Es ist mir nicht leid um das, was ich in jungen Tagen geschrieben und vernichtet habe. Es verliert Der das schrieb, war ein junger, blaffer Student. Es als der junge Student geschrieben, dem ich neulich bei Ron- einmal eine Art Sumnus auf unsere Sprache geichrieben. war tief in der Nacht. Er saß an einem nackten Tannenholz- fuls begegnet bin und der einen so unendlich komischen Ein- einen Somnus, der zualeich eine Suldiaung war für die, die tisch in einem falten Bimmer und hatte die Lampe niedrig druck machte. Denken Sie, Franziska, er hatte Fransen an ich liebte, hoffnungslos und start, wie man in fungen abren liebt. Ich glaube, ich habe nie etwas wieder geschrieben, das geschraubt, um Del zu sparen. Träumerisch blickte er in die den Aermeln und machte eine Verbeugung nein, Sie so jung und zart und felig in sich selber war. Es waren Gefleine, gelbe Flamme, griff dann wieder zur Feder und fuhr fönnen es sich nicht denken. danken, die man vielleicht nur in der Jugend hat, wenn Licht und Farben und Klana und Ton dieser Welt noch wie junger fort zu schreiben: Mein in unfere Sinne eingehen. Ich würde etwas darum geben, wenn ich die Reilen. die ich damals fchrieb. heute noch einmal lesen fönnte... Mir ist, als müßte die Qual und Luft iener Tage wieder in mir lebendia werden dadurch. Aumeilen fteiat eine Erinnerung an das Geschriebene, auf das Wie überspannt, sagte die junge Dame. ich niemals eine Antwort bekommen habe, wieder in mir auf. Aber ich finde die Worte nicht wieder, Es mad eine berweilig. tiegene Behauptuna fein, aber mir will auweilen in der Tat Noch einmal überflog der Student die Seiten, faltete Sie überflog die ersten Seiten, und als fie nichtscheinen, als ständen wir in der udenb dem Geheimnis mandann die Blätter zusammen, steckte fie in einen Briefumschlag, anderes darin fand, als das eine Thema, ließ sie die Blätter cher Dinge näher, als in der fühlen larbeit des Alters, mo schrieb mit haftigen Schriftzügen die Adresse hinauf und nahm auf den Tisch fallen, vor dem fie saß, und griff zu den übrigen wir mitunter vor verfchloffenen Pforten stehen, die in den fich vor, den Brief am anderen Tage auf die Bost zu geben. Briefen: einer Einladung, einem Briefe ihrer Freundin aus Zagen unferer ugend nur darauf warteten, daß wir fie beAm Morgen aber, der grau und nüchtern aus dunkler der Benfion, einem Preisverzeichnis von neuen Seiden- rührten..." Winternacht in die verregneten Gassen fiderte, zögerte er. Er roben.
Da ist das Wort Liebe. Es ist fast unansehnlich geworden, so oft ist es gefprochen und mißbraucht und in den Staub getreten worden. Plötzlich aber fommt jemand und nimmt es aus dem Staub der Straße auf und gesellt ihm ein paar Worte, die wie dienende Engel sind und es plöglich in einen Glanz hinaufheben, daß es herrlich ist und strahlend wie am ersten Tage...
Sie lachten beide hell auf, die Bofe und das Fräulein. Das Geschriebene war ihr gewidmet. Denn bei dem Klang ihrer Stimme und den Worten, die von ihren Lippen gekommen seien, schrieb er, wäre es wie eine Erleuchtung über ihn gekommen, daß auch noch das geringste Wort unserer Sprache eine Seele in sich trage. Und wie lang