Jahrg. 1

Nr. 6

Am 26. April 1924

Die proletarische Frau

Des Kindes erster Mai.

Von Berta Jourdan.

Es war am Tage nach Fronleichnamt. Die fleinen Schulmädchen steckten die Köpfe zusam men und hören den fatholischen Kameradinnen zu, die erzählen: Ich habe ein neues weißes Kleid angehabt."" Ich durfte eine große dicke Kerze tragen". Ich habe ein kleines weißes Lämmchen auf dem Arm gehabt." Wunderdinge werden erzählt, aus großen leuchtenden Kinder­angen schaut das Märchen. Marie, was hast du denn gestern gemacht?"- Ach, laß sie doch nur, der ihr Vater ist ein Roter." D'e darf nie mit, die hat keinen Feiertag". ,, Nein, das stimmt nicht. Marie fehlt am ersten Mai, da ist ihr Feier­tag.". Ach ja." Maric, erzähl doch einmal wie es bei euch ist!"

Marie schweigt.

"

Marie ist doch sonst kein dummes Mädel. Die Lehrerin lobt sie immer, weil sie so schön erzählen fann. Die Kinder dringen in sie. Sie schweigt. Was soll sie erzählen? Daß sie im Trubel der Erwachsenen fast zerdrückt worden ist? Sic dentt an einen großen Saal. Hingen da oben nicht bunte Girlanden und Lampen? Ach, es war ja so voll Rauch, daß sie nichts sehen konnte. Es war auch ein Mann, der eine Rede hielt, aber sie hatte gar nicht verstanden. Sie hatte auch einmal aus Vaters Bierglas trinken dürfen. Mutter wollte es eigentlich nicht haben. Ja, dann durfte man es wohl nicht erzählen.

Marie schweigt.

Soll Marie immer schweigen müssen? Das möchte ich die Proletarier, die Sozialisten heute fragen.

Konrad Ferdinand Mayer fragt in einem seiner Gedichte:

Wie heilt sich ein verlassen Herz,

Der dunklen Schwerntut Beute?

Mit Becher: Rundgeläute?

Mit bittrem Spott? Mit frevlent Schmerz? Nein, mit ein bißchen Freude."

Ein Kinderleben braucht Freude, braucht einen Festtag. Wir brauchen ein Fest, das dem Proletaricrtind gehört. Im Herzen des Arbeiters muß eine lichtvolle Erinne rung sein, an einen Tag, der ihm gehört hat, da er Kind war, so voll Freude, so voll Erwar tung, so voll Geheimnis wie Weih= nachten.

Kein Tag im Jahr ist so dafür geeignet, wie der erste Mai. Da ist Frühling, die Sonne scheint wieder warm. Das Kind fann heraus aus der Enge des Zimmers, die es so bedrückt. Also feiern wir auch ein Kinderfest! An die Spite unseres Festzuges gehören frisch gewaschene Buben und weißgestärkte Mädel, gleich hinter der Musit müssen sie marschieren. Wenn unsere Gegner sagen, Kinder gehören nicht auf die Straße, so erinnert sie nur an die Fron­leichnamsprozession.

Du darfst nicht!

Einige Worte an die Mütter.

I.

Ich fiße in der Schulsprechstunde.

Und wenn wir ohne Glanz und Ruhm der Dämm'rung erliegen:

es werden andere nach uns sein, und diese werden siegen!

Das iſt das Einzige aber, das ihr tun könnt

für Eure Söhne und Eurer Söhne Kinder: Wachen- wachen wachen!

-

Daß sie dereinst in freieren Zeiten ihr Leben leben

Jn Zeiten

da man endlich aufgeräumt mit all dem Schutt. Da man die Trümmer abgetragen endlich,

die mit Einsturz droh'n

und uns den Weg versperren nach den Höh'n, von denen

die Banner gold'ner Königstage weh'n!. Daß sich ihnen einst in lichtem Glanz erfülle, was unsere eigene Sehnsucht träumt und hofft Wir selber, ach,

wir sind

. in Kampf und Müh' und Streit nur Vorbereiter, Schuttabräumer nur, Wegebner einer Zeit, die wir aufdämmern ahnen über unserer Nacht mit Osterlichter Morgenpracht.

Und der ein Tag dann folgen wird,

ein Tag, von hallenden Gloden überläufet.

Ein Tag, an dem der Mensch

abgürten darf das Schwert.

Ein Tag der Freude und ein Tag des Friedens Da all die Qual.

die uns zu Grabe nagt,

da all die Ketten fallen der Erbärmlichkeit, die jeden Morgen uns aufs Neue

die Krone reißt vom Haupt

...

und uns zu Sklaven unseres eigenen Lebens macht Ein Tag, an dem der Mensch zum Herrn wird endlich und mit freier Stirne

als König schreiten darf auf seiner Erde..

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Casar Flaischlen.

Aber Kinder gehören nicht zu hochpolitischen und guter Kameradschaft erzählen. Dann Reden, die verstehen sie nämlich nicht. Dann wird Marie in der Schule nicht schweigen und schweigt Marie wieder in der Schule, wenn die alle die Kameradinnen werden ihr mit glühenden Freundinnen sie fragen. Wir brauchen Ju- Bädchen zuhören, wenn sie erzählt: Und dann gendredner. Und wenn die Erivachsenen friegt jedes Kind umsonst Frühstüd in der fich um ihre Kanone" fammeln, dann müssen ein Schule, und die Lucia friegt eine neue Schürze, paar Jugendgenossen die Kinder in Grup- Linas Vater schicken wir dann zur Erholung pen, ein bißchen nach dem Alter, um sch sammeln fort. Ihr müßt nur alle helfen, daß recht schnell und ihnen von der Herrlichtcit soziali- Sozialismus wird." stischer Zukunft, von wahrer Liebe

Aber mit einer Rede ist es nicht getan. Nun

Erscheint an jedem zweiten Samstag

muß mit den Kindern gespielt werden, sonst ist es fein richtiger Festtag. Jugendgenossen, Frauen, Lehrer, hier wartet eure Aufgabe! Nun heißt es die Kinder sammeln und hinaus mit ihnen auf freie Pläße, in Wiese und Wald. Arbeiter­jugend, für was hast du Fiedeln und Klampfen, weißt du frische Freiheitslieder? Wer fann so fein wie du mit Kindern singen? Wettspiele aller Art müssen gemacht werden mit feinen Breisen, die dann der alte Arbeiter seinen Enkeltindern zeigt, wenn sie ihn abholen kommen zur Feier des ersten Mai. Auch was zu essen muß es geben, ohne das geht es bei Kindern nicht.

Nun noch eins, lieber Arbeitervater, liebe Arbeitermutter. Ein Fest fängt schon zu Hause an, und ihr müßt es auch im Hein: fest­Iich machen, dazu braucht man feine großen Mittel. Laßt es zur Gewohnheit werden, daß ihr curen Kindern eine Kleinigkeit schenkt. Ein Kind ist ja mit einem Nichts zufrieden, aber zum Feier­tag gehört so eine fleine Gabe und ein Extra­fuß von Vater und Mutter. Was für Augen macht der kleine Friß, wenn er die Stiefel anzie hen will, die er sich am Abend vorher extrafein für den ersten Mai geputzt hat, und nun eine Handvoll Näschereien darin findet!

Schafft dem proletarischen Kind sein Recht! Gerade in kleinen Orten wird man es schön ma­chen fönnen.

Soll Marie auch dieses Jahr schweigen? soll sie sich nur an falten Rauch und Bierreste erin­nern, an Reden, die sie nicht verstand?

Der erste Mai muß der Festtag des Arbeitertindes werden!

Liebe.

In allen Tiefen mußt du dich prüfen, zu deinen Zielen dich klarzufühlen. Aber die Liebe

ist das Trübe.

Jedweder Nachen,

drin Sehnsucht singt,

ist auch der Rachen,

der sie verschlingt.

Aber ob rings von Zähnen umgiert, das Leben sitt und jubiliert: Liebe!

Richard Dehmel  .

Der gesellschaftliche Zustand, der feinen Herrn und feinen Unterdrüdten fen:, weder auf politischem, noch ökonomischem, noch religösem noch geschlechtlichem Gelete, ist der Sozialismus!

August Bebel.

anjing zu weinen ohne auch nur ein Wort hervorzu. Und nun gud mal: die Dora da hat Angst vor mtr.| Lärm machen. Artige Kinder sind schön ruhig. Wenn bringen. Nunmehr wandte ich mich an die Mutter. Gie lann vor lauter Angst gar nicht reden. Was ma- du nicht artig bist, dann haut dich der Vater. Oder chen wir da?"

Ist sie denn immer so verängstigt?" Ich weiß nicht recht früher war sie anders., " Eeit wann ist sie denn so?" " Nun, so seit Jahren."

Na, weißt du, hier brauchst du keine Angst zu haben!" meinte er treuherzig. Er fühlte sich mit seinen 13 Jahren richtig als Beschützer der Kleinen, obwohl Also seit sie in der Schule ist? Jaso! Wie wird sonst Jungens in dem Alter nicht gerade höflich zu sein pflegen. Dann verschwindet er.

Eine Mutter kommt mit ihrem achtjährigen sie denn da behandelt?" Töchterchen herein.

,, Na, Kleinchen, was gibts?"

,, Soll ich's nun sagen?" antwortete die Mutter mit einem vielversprechenden Seitenblick auf das Kind. Doras Köpfchen sinkt auf die Brust. Sic macht sich immer naß."

Wann passiert denn das? Am Tage oder in der Nacht?"

Ohne daß das Kind den Mund auftun kann, fällt die Mutter ein: Jede Nacht, Herr Doktor, es ist gar nicht zum Aushalten mit ihr."

Gestern hab ich gar nicht..." Weiter kam Dora nicht. Schon hatte sie einen Puff in den Rüden. Bist du gefragt? Kinder haben ruhig zu sein."

Erlauben Sie mal! Verkehren Sie immer so mit

dem Kind?"

Wie denn? Das geht doch nicht, daß so ein Göhr einfach dazwischen redet."

Was heißt das! dazwischen redet? Es ist Ihnen offenbar gar nicht bewußt geworden, daß Eie das, was Sie dem Kind mit einer nicht gerade liebevollen Gebärde versagen, eben selbst getan haben. Ich hatte meine Frage nämlich an das Kind gerichtet. Sic haben es für eine Selbstverständlichkeit gehalten, erstens, daß Sie diese Frage zu beantworten hätten, und zweitens, daß das Kind zu schweigen habe. Ist's nicht so?"

Die Mutter ist sichtlich verdußt. Na, man weiß doch nicht, wie die Herren das lieben. Manche sind doch sehr ungehalten, wenn die Kinder dazwischen reden."

" Woher soll ich das wissen?"

" Ja, ist Ihnen denn das ganz gleichgültig, was man mit dem Rinde in der Schule macht? Wie ist denn der Lehrer?"

So genau weiß die Mutter das nicht. Aver weis sic. Machmal haut er.

cins

" So, er haut. Und was sagen Sie dazu?" Na, ganz ohne Haue gehts doch bei Kindern

nicht."

-

Meinen Sie? Ich kann Ihnen aus meiner Er. ſahrung ſagen, daß ich mich noch nie an einem Rind vergriffen habe was ist es denn anders als Verge­waltigung, wenn so ein großer Mensch so ein kleines, wehrloses Wesen überfällt?- ich bin dabei immer noch weiter gekommen als die anderen Menschen mit ihren Methoden. Dora, jetzt hören wir aber mal mit dem Heulen auf, nicht? Komm mal her und erzähl mir mal: Hat dich der Lehrer wirklich gehauen?" Zwischen Schluchzen hört man:

Er haut uns auf die Finger." " Eo, warum denn?"

" Beim Rechnen."

Sm, macht er das oft?"

Jede Stunde..." weiter gings nicht. Kind weinte erneut.

Das

" Weißt du, Dorchen, ich glaube, du hast noch immer Angst. Eez dich mal hin und wisch dir erst die Tränen ab. Dent mal, wenn die anderen Kinder sehen, daß du geweint hast, dann lachen sie dich aus! Nun wollen wir mal jemand anderes hereinrufen, damit du siehst, daß hier niemandem etwas passier: Sie sind so gut und setzen sich so lange auch hin," wandte ich mich an die Mutter.

Der nächste war ein kleiner Bengel. ' n Tag, Willi! Was macht das Rechnen? Alles Ja," und dabei lachte er ganz fröhlich. Vor acht Tagen hatte er genau so geweint wie Dorn jetzt.

Leider richtig. Aber hier bei mir ist's gerade umgekehrt. Weißt du, Dora, du denkst wahrscheinlich, der Doktor ist so ein großer Wauwau, der gleich beißt, wenn kleine Kinder den Mund aufmachen. Das ist in Ordnung?" aber gar nicht so. Hier kann jeder seinen Mund auf­machen und alles erzählen. Nun sag mal, wie alt bist du? Was weißt du schon?"-Ich winkte der Mutter energisch ab, da sie bereits wieder dem Kind über den Mund fahren wollte.

Meine Anrede hatte die Wirkung, daß das Rind

" Und was macht der Blasebalg? Hustest du noch ,, So, bitte hol schön immer? Mal ausziehen!" Luft. Rein und raus! Das ist ja schon ganz fein! Aber noch nicht so viel rumrafen, hörst du!

Dora hatte sich noch immer nicht berafhigt. Ich schlage ihr vor, mich nach Schluß der Sprechstunde zu erwarten; dann wollten wir mal ruhig miteinander reden und uns erst mal miteinander bißchen befreun­den. Und dann wollten wir uns auch über das Naß machen verständigen und dem Uebel schon beikommen. Wir einigten uns rasch, nachdem zuerst die Mutter topfschüttelnd gefragt hatte, ob sie denn gar nicht mehr nötig sei.

der schwarze Mann tommt.

Das find die Erziehungsweisheiten der meisten unserer Mütter, Väter und auch leider- ber meisten Lehrer. Ueberlegen wir uns, was das be. deutet.

Warum fragt das Rind? Weil es fragen muß, wenn es seine Umwelt tennen lernen will. Und dazı fühlt es sich von der Natur gedrängt. Ein Kind, das nicht lebhaft fragt, ist häufig allein dadurch als geistig unbeweglich), vielleicht als unbegabt oder aber als schon durch falsche Behandlung verbildet, verstört, verschüchtert gekennzeichnet.

Seien wir offen. Warum derf das Kind nicht fragen? Weil es den Eltern oder Welteren unbequem ist, oder im besonderen Fall weil sich die Aelte. Ich sagte ihr, wir wollen uns übermorgen aus­sprechen. Erst hätte ich mit dem Kinde zu reden. ren durch die Fragen des Kindes vor die peinliche Man könne über die Ursachen des Bettnässens nicht Erkenntnis gestellt ſehen, fagen zu müssen: wir wissen das auch nicht. Das heißt wenn sie ehrlich sind. Und tlar werden, wenn man den Menschen nicht tenne. Und dazu gehört etwas Ruhe.( Nach einigen da die meiſten das nicht sind, so sagen sie lieber: Wochen zeigte es sich, daß ich recht gehabt hatte: mit das verstehst du doch nicht, und reden sich ein, man dem Berschminden der Verängstigung verschwand auch könne das dem Kind auf die Dauer weismachen. Das Rind aber bemerkt sehr vold, woran es ist und holt

3 Bettnässen.)

Nach Abfertigung der anderen Kinder traf ich sich seine Antworten an Quellen, die wir nicht über­Dora vor dem Tor. Wir gehen eine halbe Stunde wachen können. Zu Haus, in der Schule versteckt es miteinander spazieren. Ich frage dies und das nach seine natürliche Munterkeit; denn sie stört, sie ist Geschwistern, Puppen, Sandhausen  , Essen, Schlafen, gleichbedeutend mit Unartigkeit( Kinder sind nur un schließlich auch nach der Echule. Und als sie endlich artig", wenn sie Langeweile haben!) und, was das cinigermaßen überzeugt ist, daß der Doktor wirklich Peinlichste ist, fie reizt die an Kräften Ueberlegenen, die Großen", zur Gewalttat. tein   bissiger Wauwau ist, ist die Bahn frei, um zu der kleinen Seele vorzubringen und schließlich auch Was erzicht" man damit? Kinder, die nicht dem törperlichen Leiden zu Leibe zu gehen. Und so mehr wagen, den Mund aufzutun, wenn große da. erfahre ich unter anderem, daß sie zu Hause nicht laut bei sind, Kinder, die mehr oder weniger willig der sein dürfe, das stört den Vater, und daß sie nicht Gewalt weichen, meist dadurch, daß sie gescheit genug hinunter gehen dürfe, weil sie mit Nachbars Grete zu schwindeln lernen. Kurz, Kinder, deren Wille, nicht spielen dürfe, und daß sie, wenn ihr was nicht deren Persönlichkeit schon in jungen Jahren zerbro­schmede, nicht spielen dürfe, che sie aufgegessen habe, chen wird durch Nichtachtung und Vergewaltigung. sonst bekomme sic Haue, Kurz, daß sie also schön artig, ruhig und bei alledem freundlich sein mitsse, wenn sie nicht Bater oder Mutter oder die zwölfjährige Schwe. ster gegen sich auf den Plan rufen wolle.

II.

Und wer hat den Nußen von diesen willenlosen, an die Autorität der Großen glaubenden, fügsamen, artigen" Kinder? Diese artigen Kinder werden ar. tige Lehrbuben und Lehrmädchen und später artige Arbeiter und Arbeiterinnen, zur größten Freude einer anderen Sorte von Großen", der Großen im öffent­Passiert nicht so etwas bei den meisten von euch lichen Leben. Je mehr wir also mit unserem Du Müttern auch? Du darfst nicht sprechen, wenn du darfst nicht" und mit Prügelstrafe die bleinen Per­nicht gefragt bist! Immer das ewige Gefrage; das fönlichkeiten zerbrechen, desto mehr arbeiten wir jenen verstehst du ja doch nicht!- Und überdies ist das gar in die Hände, unter deren Herrn- im- Hause- Stand­nichts für kleine Kinder! Du darfst nicht so viel puntt" ihr alle im Betrieb und Kleingewerbe stöhnt.

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