Sonntag, 1. Jänner 1928.
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Einladung an Herrn Minister Šrámek
zum Besuche der trauriaften Sehenswürdigkeit Deutschböhmens.
In der Tat: die alte Infanterie- Durch hohe vergitterte Stiegenfenster streift ohne| sichtslos ist, daß der hohe, schlecht abgeschlossene Frau, äußerlich sehr abgehärmt, ist guten Mutes, kaserne von Eger, das Notquartier von Hemmung und Erbarmen die frostfalte Winter Raum nicht warmzuheizen ist, und daß schließlich schlägt sich tapfer mit Bedienungen durch und einem Halbtausend Proletarier, das Todesquar luft. Auf weiten hallenden Gängen zittert einfam fedes Geräusch, tomme es von Arbeit oder Zeu- glaubt fest daran, daß ihr noch einmal bessere tier von 215( zweihundertfünfzehn) Seindern, mit eine verrußte Petroleumlampe. Schwarze Schat- gung, von Zank oder Unterhaltung, den Weg zu Tage fommen werden. Ihre Hauptforge sind die ten in einer altberühmten verkehrsbelebten Stadt, ten huschen im Halbdunkel von Tür zu Tür. den Nachbarn findet und von ihnen herüberdringt. Kinder, die sie zu anständigen Menschen erziehen wäre eines Ministerbesuches wert. Menschen? Gespenster? Höllensput? Erinnerun- Ein Zimmer wurde uns gezeigt, wo vor einiger Und dies aus zweierlei Gründen. Erstens könnte gen an Schundfilme und Verbrecherromane blitzen Zeit noch fünf Parteien und 19 Personen dabei der Herr Fürsorgeminister, der viel zwischen auf. Mühfant fämpft der Besucher das Grauen zusammensiedelten; zur Zeit sind es nur noch Brag und Brünn reist, und der das berdeutschte nieder und versucht zu begreifen, daß ihn Wirk drei Parteien und elf Personen. Ein Kutscher ist Gebiet" der Republik aus eigener Anschauung lichkeit umgibt. Wirklichkeit des Prole- mit Frau und Stindern von hier weggezogen, weil faum genauer fennen dürfte, einmal das wahre tarierlebens! In diesem Gespensterhaus er in einem Neubau Wohnung fand. Er wird ohne Wärme, Licht und Wasser wohnen 96 Par- aber wieder zurüdfehren müssen, hieß es, weil er teien mit insgesamt 473 Personen. Hierher haben von 180 Kronen Wochenlohn die 900 Stronen sie sich vor dem noch ärgeren Schrecken der Ob- Jahreszins für den einen Raum nicht leisten dachlosigkeit geflüchtet. Hier verbringen sie ihre fann. ört es, hohe Herren, auf den Muße und Feierstunden. Auf stinkenden, mit volkswirtschaftlichen Lehrkanzeln Ratten bevölkerten Latrinen, auf improvisierten und Ministerstühlen! Wer von Euch Maffenklosetten, die ihren Pestgeruch und ihre fann das Wohnungsproblem dieser Witwen, Fäkalienbäche über die Gänge ergießen, verrich- denen der Serieg die Männer raubte, des ten sie ihre No durft. In dieser Umgebung einundzwanzigjährigen Arbeitslosen ohne Un von Schmuz, Ungeziefer und Prostitution, terſtüßung, der Naherin mit 60 Stronen Wowachsen insgesamt 215 Kinder auf! Ja, chenlohn, des Arbeiters mit sechs Kindern von es üben in diesem Hause auch nicht selten vor ein bis fünfzehn Jahren, des fleinen Flickschneis den Augen der Kinder- Prostituierte ihr trau ders mit fünftöpfigem Hausstand, wer kann das riges Gewerbe aus. Bei einer im Oktober durch Wohnungsproblem der 96 Proletarierfamilien in geführten polizeilichen Revision muß en ihrer drei der alten Infanteriekaserne von Eger und von als geschlechtskrant ins Spital geschafft werden. zehntausenden gleichgestellten Familien im ganzen Land auf dem Boden der freien Wirtschaft" Tösen?
Frostwind fährt durch hohe Gitterfenster.
Gesicht des industriellen Deutsch böhmen sehen. Zweitens wären die dabei gewonnenen Eindrüde bei der Ausarbeitung der neuen Mieterschuß und Bauförde rungsgese ye sehr nüglich zu verwerten. Die fer Augenschein täte auch manchen anderen tschechischen Politikern not.
Denn alle zusammen denken diese im Staate ( troß zweier deutscher Minister) allein maßgebenden Herren, wenn sie gelegentlich über die deutsche Frage reden nur an Frrendenia" und Loyalität, an Solonisationsmöglichkeiten und an die Wün sche der tschechischen Minderheiten. Und sie ver stehen ebensowenig wie die Männer des deutschent Bürgertums, daß das Daseinsproblem der Sudetendeutschen zu drei Vierteln ein soziales Problem ist. Sie begreifen nicht, daß das Gefühl der Fremdheit, welches der größe Teil der deutschen Bevölkerung( trotz attivistischer Henches lei) dem neuen Staate entgegenbringt, in erster Linie aus der Tatsache erfließ, daß dieses Arbei tervolt mit seinen großen Sorgen und Nöten eben bei diesem Staate und seinen Lenkern bis heute kein Verständnis gefunden hat. Was wißt Ihr, die Ihr aus den fa'ien Agrargebieten Ju nerböhmens und Mährens kommt, von dem reaTen Leben des deutschen Industrie und Gebirgs volkes in der Tschechoslowakei ? Dort, wo Ihr nach chauvinistischen Stampfberichten nur eine brutale Herrenschicht von Fabrikanten, Hausbes fißern und bormierten Stleinbürgern seht, dort fämpft und leidet ein Proletariat um seine Eristenz. das unter den Geißeln der Kriegs- und Nachkriegszeit auf dem Boden Mitteleuropas vielleicht am meisten gelitten hat! Was in den Hüt ten unserer Industrie- und Heimarbeiterdörfer an Menschenleid, an No und Entbehrung haust, das würde, auf einen Punt zusammengetragen, an Erschütterndem die Elendsbilder der Großstädte übertreffen. Die alte Infanteriefaserne von Eger, das Haus, wo der Wohnungsjammer der deutschböhmischen Industriebevölkerung in der ergrei fendsten Gestal auftritt wäre selbst in dem armseligsten Zinskasernenviertel einer modernen Großstadt nicht möglich.
Finsternis und Kälteschauer überfielen uns beim Eintritt. Das Gebäude wurde im Jahre 1200 vom deutschen Mi terorden angelegt, später als Jesuitenkloster benüßt. Vor hundert Jahren einem Brande zum Opfer gefallen und neu aufgebaut, diente es bis zum Kriege als Militärkaserne. Im Jahre 1912 wegen Baufälligkeit geräumt, sivei Jahre später wieder mit Striegsflüchtlingen bevölkert, seit den Umsturztagen Massenquartier für obdachlose Proletarier. Eine düstere Vergangenheit und eine trostlose Gegenwart, ringen in den Mauern nach Ausdruck.
معلم خدا
Daß in derartiger Umgebung vereinzelt Dirnen und Spizbuben anzutreffen sind, ist nicht weiter vervunderlich. Aber das sind unwesentliche In den Kellergewölben Der eheNebenerscheinungen. Der wesentliche Tatbestand maligen Arresttotale genießen einige und zugleich ein unfaßbares Wunder Familien das Glück cines mit festen Wänden und tst, daß es in diesem Stulturgrab besonderer Zugangstür abgeschlossenen Heims. einige hundert rechtschaffene Ar Dese Gemäter aber haben den Nachteil, fälter beitsmenschen Jahre hindurch aus und feuchter zu sein als die anderen, da sie an halten, ohne aus Verzweiflung zu Verbrechern der Rückseite des Hauses in die Erde eingebaut und Tagedieben zu werden. Von Wohnung zu sind und lichtloser, weil die Beleuchtung nur Wohnung fonnte man feststellen, daß die Insassen indivett aus einem mehrere Meter tie en Lichtfaft ausnahmslos armie, anständige Leute sind, graben eindringt. Wir fanden eine Familie in Arbeiter, Seriegswitven, vereinzelt auch Hand einer solchen Arrestwohnung, welcher Raum vorwerker, unglückliche Menschen, vom Sturm des her als schenkemmer diente. jedoch von Lebens in diese Wassenherberge verschlagen, die den Beziehern gesäubert, frisch verputzt und sogar ihnen alles verweigert, was zum Begriff menschen neit ausgemalt wurde. Die Luft war so feucht, würdigen Wohnens gehört. Jeder, der da ein- daß sich die Leute ganz zu dem eisernen Ofen zicht, muß auf die primitivsten Voraussetzungen fauern mußten, wollten sie dessen Wärme überförperlichen Behagens verzichten: auf Ruhe, Rein- haupt verspüren. In nächster Nachbarschaft ist lichkeit und Wärme. Die Notwohnungen sind so eine Frau mit sieben seindern zu entstanden, daß aus den großen, fahlen Stafernen- feuchtem Dauergefängnis veruricift. Bei jedem will, und daher so wenig, als möglich mit den zimmern durch Bretterverschläge drei oder vier Stind hat sie Prügel getriegt, bis sie den rohen anrüchigen Mitbewohnern in Berührung komment oder noch mehr Gelasse hergestellt wurden, die nun Mann verließ. Die älteste Tochter ist vierzehn läßt. Abends dürfen sie nicht einmal auf den je nach ihrer Größe einer oder mehreren Parteien jährig, ihre Geder zeigen die Spuren schwerer Abort hinausgehen, weil dort alle möglichen als Unterkunft dienen. Die Familien, welche das Strophulose, jie geht schon in Arbeit und verdient Subjekte den Kindern auflauern, chleb alte Gemäner vom Steller bis zum Dach füllen, als Hilfsarbeiterin etliche zwanzig Stronen pro und sterb für meine Kinder," ist ein nicht einmal die fensterlosen Vorräume und Woche. Ihre bescheidenen Worte und die fingen Ausspruch dieser Proletariermutter. Von dem die nasien Arreste im Stellergeschoß sind unbe- Züge des frühgealterten Stindergesichtes sprechen halbbfinden Fenster, durch das aus dom Lichtmüssen sich damit abfinden, daß jeder eine ergreifende Sprade. Die kleine Saveſter graben im Winter Schneewasser und im Sommer Stampf gegen das Ungeziefer, welches durch die ist hochschultrig, ein Bruder, der bereits in der die Janaye eines überfüllien stanals in die Wohnsieht Fugen der Holzwände freien Durchzug hat, aus Lehre steht, klagt über Stechen in der Brust. Die zelle rinni, fich: mon bei filem Aufblid bie
wohnt,
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Lli Rethin
Alte Dreiundsiebziger- Kaserne in Eger. Hier wohnen an fünfhundert Proletarier!
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Der Fünfzehnjährige.
Spise bes benachbarten Egerer Doms. So nab wohnt der Herrgott diesem Jamme: wo bleibt sein Erbarmen? Was tut die seirche, was tut dos heutige Christentum gegen die Wohnungstragödie, Des Proletariats?
Um die Mittagsstunde, als wir die sput Haften Eindrücke der Nacht im faren Tageslicht überprüfen wollien, lief vor dem Hauseingang ein Rudel Sinder zusammen. Unter vielen Blessen Gesichtern und unterernährten Gestalten fiel ein ganz verwahrloster Junge auf, mit einem berframpften Lächeln im Gesicht. Wie alt er sei? Fünfzehn Jahre! Wie lange cz schon hier wohne? Neun Jahre! Immer lächelnd stand er Modell und entfloh dann mit der kleinen Belohnung wie ein gehetztes Wild. Bei nochmaligem Duyd gang durch die Staferne lamen wir jodann in einen finsteren Vorraum. cigentlich Bugang zu brei anderen Nonwohnungen. Darin in der Mitte eine Betistait mit schmutzigen Lumpen, eine Pappschachtel, einige Geschirrstide darauf, ein schwarzer Holzloffer daneben. ier wohnt auch eine Partei," berichtete der Hausbesorger dem begleitenden Genossen Vizebürgermeister Heinrich. Der Fünfzehnjährige von vorhin mit dem Körper eines verkümmerten Zehnjährigen hat hier seine Heimat! In dem Bett schläft er mt Mutter und Schwester, die übertags und abends einem nicht näher bezeichneten Geschäft nad gehen. Indessen ist der Junge sich selbst überlassen. Wo wärmt er sich während des Tage 3? Keine Antwort Wo bekommt er zu essen? Reine Antwort..
In der Woche vor Weihnachten herrschie schreckliche Stälte. Aus Eger, wo sie ihren Tief punkt erreichte, wurden 28 Grad Celsius Frost gemeldet. Und dazu die Vorstellung von den zugigen Gängen der alten Infanteriefaserne, vont ihren 473 Bewohnern, von den nassen Arrestlokalen und von dem heimatlosen lächelnden Jungen...
,, Wenn nicht in die Bude mal eine Bombe neifliegt, tönnen wir noch zwanzig Jahre hier warten," sagte ein Arbeiter, der schon seit Kriegsende mit seiner Famike im Proletarierheim neben dem Dom von Eger wohnt. Sein Steptizismus ist begreiflich. angesichts der jahrelangen ergebnislosen Bemühun gen unserer Genossen in der Egerer Gemeindestube, diesem Skandal ein Ende zu machen. Da