Seite 2 Donnerstag, 23. April 1931. Nr. 96. Auch der gegenwärtige Präsident Gaston Doumergue hat sich in den fünf ersten Jahren seiner Präsidentenschaft durchaus im Sinne der früheren Tradition betätigt. Er begnügte sich damit, zu repräsentieren und sein ewiges liebenswürdiges Photographierlächeln hatte ihm bereits eine getvisse Popularität verschafft, in die sich, wie immer in Frankreich , ein leiser Spott mischte. Seit zwei Jahren allerdings wußte man in parlamentarischen Kreisen und bald auch in den politisch interessierten Schichten der Oeffentlichkeit, daß auch Doumergue diese Zurückhaltung nur ungern übte und daß er, zumindest hinter den Kulissen, politisch viel aktiver war als es den Anschein hatte. Er war es, der bei jeder Ministerkrise bestrebt war, eine Regierung zustande zu bringen, an der die Rechte mehr oder minder maßgebend beteiligt sein sollte. Er war es, der der Bildung von Linksregierun- gen, die in der Kammer von 1928 an sich nicht leicht waren, die größten Schwierigkeiten entgegensetzte. Vor allen! aber sickerte durch, daß er auf außenpolittscheni Gebiete mit deni Kurs Briands sehr unzufrieden war und gegen dessen„ewige Nachgiebigkeit" insgeheim scharf machte. Der fülle, aber zähe Kampf zwischen Doumergue und Briand war bereits längst Tagesgespräch. Mrn sind seine sieben Jahre bald»m. Aber die Frage der Nachfolgerschaft ist noch vollständig offen. Solange Poincar^ gesund war, gatt er allgemein als der sichere Präsident der Republik, falls er cs nur wünschte. Aber seit seinem Nervenzusammenbruch vom vergangenen Herbst kommt er nicht mehr in Frage. Als der aussichtsreichste Kandidat gatt infolgedessen bis vor kurzem Briand, falls er sich von seinen Freunden zu einer Kandidatur bewegen ließe. Indessen ist Briands Stellung neuerdings nicht mehr so fest. Schon die Ergebnisse der Reichstagswahlen, die als Folge der vorzeitigen Rheinlandsräumung hingesteltt wurden, hatten seine Lage erschwert. Die Ankündigung der österreichisch -deutschen Zollunion war für ihn ein fast noch schwererer Schlag. Die Widerstände gegen ihn und seine Politik würden zwar wahrscheinlich nicht ausreichen, um seine Kandidatur zu Fall zu bringen, falls er sie doch aufstellen würde, aber die jüngsten Nachrichten aus Paris besagen übereinstimmend, daß er nicht mehr daran denke. Unter diesen Umständen tappt rnan gegenwärtig völlig im Dunkeln. Prominente Persönlichkeiten sind kaum vorhanden. Der Präsident des Senats Paul D o u m e r, ist schon einmal in jüngeren Jahren, und zwar 1906, gegen Falliere unterlegen. Heute wären seine Chancen erheblich größer, da er inzwischen Sympathien auf der Linken gewonnen hat. Bon seinen fünf Söhnen sind drei im Weltkrieg gefallen, ein vierter später an den Kriegsfolgen gestorben. Das erhöht in den Äugen des Volkes natürlich sein Ansehen. Aber er ist ein recht langweiliger, f a r b l o- s e r Herr, für den sich niemand recht begeistern kann. Unter diesen Umständen ist neuerdings mit der stärkeren Möglichkeit zu rechnen, daß Gaston Doumergue abermals kandidieren wird. Die Verfassung verbietet es 9er dieß. Von fRftedo Nachdruck verboten. ,Lch erinnere mich. Sie waren schon einigemal« hier. Ein sogenannter Unverbesserlicher. Und immer wegen Kleinigkeiten. Wo haben Sie sich während der letzten Jahre aufgehalten?" „Zum Teil in der Stadt, zum Teil in der näheren Umgebung." „Was verstehen Sie unter näherer Umgebung?" „Ich mein«, daß ich eigentlich in der Stadt wohnte, aber von Zeit zu Zeit aus bestimmten Gründen es für geraten hielt, mich für die Dauer mehrerer Wochen und selbst Monate zu entfernen."„Wo wohnten Sie?" „Darüber verweigere ich jede Auskunft." Dr. Körnig stützte das Kinn auf beide Hände und sah nachdenklich von unten zu dem Gefangenen empor. Ein klein wenig Ironie, die sich fast zu einem leisen Lächeln gesteigert hätte, log auf seinem Gesicht. Er wunderte sich über das sichere Auftreten Rosiers. Was bezweckte der Mann damit? Es klang, als habe er jede Antwort vorher wohl erwogen und sich auf i«de Eventualität vorbereitet. „Sie wiffen, Westen man Sie beschuldigt?" fragte er unvermittelt. Rosier lächelt«. Er lächelte klug und liebenswürdig und für«inen Augenblick hatte Doktor Körnig wieder jenes unangenehme Gefühl einer gewissen Unterlegenheit, welches ihn seinerzeit, vor fünf Jahren, befiel, als er vor dem Verbrecher stand. „Ja," entgegnete er ruhig.„Ich soll der Dieb sein, der in den letzten Jahren unsicher machte." „Ganz richtig. Und wie stellen Sie sich zu der Anklage?"- „Ich bekenne mich schuldig." 'nicht, es liegt sogar schon der Präzedenzfall von Jules Grävy vor, der in den 90iger Jahren nach Ablauf ftiner Amtsperiode wiedergewählt wuiche. Aber im allgemeinen hat man in Frankreich eine so starke Abneigung gegen die Verlängerung eines solchen Mandats, daß Poincar« im Jahre 1920 seine Wiederwahl ablehnte, obwohl er sie mit Leichtigkeit erreicht haben würde. Doumergue hat dieser Tage in Nizza eine außenpolitische Rede gehalten, die durch ihre scharfen Worte gegen eine Zvm Isde der Eeuoffe« Matthias Mersch. Niatthias Eldersch wird heute von der gesamten Wiener sozialdemokratischen Arbeiterschaft zur letzten Ruhe getragen werden. Tie innige Verbundenheit des Wiener Proletariats mit Eldersch zeigte sich in den letzten zwei Tagen in dem unaufhörlichen Strom von Menschen, die in das Bildungsheim der Bezirksorganisatton Leopold- stadt gekommen waren, um dort von dem aufgebahrten Führer noch einmal Abschied zu nehmen. An dem Begängnis, das für heute festgesetzt ist, wird sich wohl die gesamte dienstfreie Arbeiterschaft Wiens beteiligen,(der Wiener Jndu- striellenverband hat, einem Ersuchen des Bundes der Freien Gewerkschaften Folge leistend, allen Betrieben empfohlen, den Arbeitern über Ersuchen früheren Arbeitsschluß zu gewähren). Die Lrauerfeierlichkeiten werden von Wien im Rundfunk verbreitet werden. AuS der Fülle der Beileidskundgebungen, die die Wiener Partei aus Anlaß dieses großen Verlustes erhielt, sei hier vor allem das S ch r e«? ben Karl Kautskys an den österreichischen Parteivorstand zitiert. Kautsky schreibt: Liebe Genossen! Da ich noch an den Folgen einer hartnäckigen Bronchitis laboriere, kann ich nicht selber schreiben, sondern muh meiner Frau diktieren, die »reine Gefühle vollkommen teilt. Es drängt inrS, Euch zu sagen, wie innig wir teitnehmen an deni großen Schmerz, den wir alle über den Verlust unseres teuren Matchias Eldersch empfinden. Wie bei nur. wenigen paarten sich bei chm revolutionärer Enthusiasmus und hoher Gedankenflug mit kühlem Erforschen und nüchternem Erkennen der ’ realen. Machtverhältnisse urch des jeweils Möglichen. An glänzender Taktiker und Organisator, wußte er auf allen Gebieten, mit denen er sich beschäftigte, die Details zu beherrschen, ohne je darob di« großen Gesichtspunkte aus den Augen zu verlieren. Der Sache des Proletariats leidenschaftlich ergeben, verstand er doch auch di« Psyche der Vertreter andrer Interessen, und das machte ihn im Verein. mit seinem.hohen Gerechtigkeitsgefühl so außerordentlich geeignet zu Verhandlungen mit Gegnern und zum Präsidieren im Nationalrat. Es ist eine unsagbar tief« Lücke, die durch seinen Hingang in den Reihen unserer' besten Kämpfer gerissen wird. Und wer das Glück harte, ihm persönlich näherzutreten, verliert in ihm einen Freund von seltener Herzensgute und Hilfsbereitschaft, anregend und wissensdurstig, selbstlos und treu und zuverlässig. Meiner Frau und mir wurde dieses Glück zuteil, ihn nicht imr als Parteigenossen schätzen zu lernen, sondern ihn auch Freund nenne» zu dürfen, und darum empfinden wir doppelt schmerzlich den schweren Schlag, den wir durch seinen vorzeitigen Tod erleiden. Genoste Friedrich Adler hat an den „vorzeitige" A b r ü st u n g und gegen den Zollunionsplan allgemein aufftel und als eine Kampfansage gegen Briand aufgefaßt wurde. War sie auch eine Kandidatenrede für den bevorstehenden Kongreß in Versailles ? Tas wird vielfach behauptet und ist auch aus seiner Umgebung bisher nicht bestritten worden. Eine Kandidatur Dou- mergues aber würde heute in noch viel höherem Maße als vor sieben Jahren eine Kampfdiktatur der nationalistischen Reattion gegen die verständigungsbereite Linke bedeuten. Parteivorstand nachstehendes Telegramm gerichtet: Tief erschüttert von bem unfaßbaren Verlust eines der wertvollsten Männer unserer Bewegung, einer der größten Begabungen, die die österreichische Arbeitettlaste hertorgebrachi har, trauert mit Euch um unseren Freund Eldersch euer Friedrich Adler. Unsere Partei kondolierte in einem Schreiben, in dem es unter anderem heißt: Zwei Jahrzehnte sind seit jenem Zeitpunkt verstrichen, da Eldersch von seiner engeren Heimatstadt, von der Stätte seiner damaligen Tätigkeit Abschied genommen hat, um einem Rufe der österreichischen Partei und der Wiener Genossen zu folgen. Schon damals bei dem Abschied, den wir von Eldersch genommen haben, konnte man die grenzenlose Liebe, bi« ungewohnte Verbrung, die diesem Mann« seitens der Bettrauensmänner der sudetendeutschen Arbeiterschaft entgegengebracht wurde, ettennen. Diese Liebe und . Verehrung für den Pionier der sudeten deutschen Arbeiterbewegung, zu denen Eldersch gezählt werden kann, besteht heule noch nngeschwäch- fort. 8in Blick in den„Be«er". „In jedem Staat schneiden di« Zensurscheren— und dann kriegen wir zu hören, daß in China , Australien und Indien — also immer in Ländern, die uns doch geographisch und kulturell so nahe verbunden sind— das und das und das geschnitten wurde.— Ueber das Haken- kreuzlerstück mit dem Remarque -Film und so weiter führt uns dann die Rechtfertigungslogik eines Blattes, das mit keinem Wort daran rühtt, welche kulturellen Voraussetzungen Mitteleuropäer von den Exoten trennen.— Uebrigens ist es neu, daß man Unrecht mit Unrecht entschuldigt.— Auf derselben Seite fällt dem staunenden Auge des staatserhaltenden Bürgers folgende Begründung des Geistes von Locarno und des Kclloggpaktes auf: Der Angriffsgeist der Infanterie muß gehoben werbe». Beach lens werke Änsichr ses Majors Jan äindelat!... Selbst der bestens vorbereitet« Angriff der Infanterie wird keinen Erfolg haben, wenn er schwerfällig, zaudernd und allzu vorsichtig durchgrfühtt wirb, tveil er dann dem Feind Zeit und Möglichkeit geben wird, die Anstrengungen des Angriffes zu paralysieren... Die lebendige Kraft jedes Angriffes muß darum in der Schnelligkeit, Rücksichrslosigkeir und initiativen Zusammenarbci: aller Führer und Mannschaften bestehen, mit ungebrochenem Willen vorzugchen, nm jeden Preis—... Wenn wir diesem Grundsatz sein« voll« Wichtigkeit zuerkennen werdeu, wird es nötig sein, daß die Art der Heranbildung des Angriffsgeistes gehoben werde, um so den nötigen Grad zu erreichen.— Die bisherigen Erfahrungen zeigen, daß bei den Manöver» die Wirkung des Feuers der automatischen Waffen übermäßig betont, so daß diese Methode in abschreckendem Sinn auf die Energie und Moral der Angreifenden wirkt.— Es ereignet sich dann, daß der Kommandanr... sich fürchtet, jede kühner« Bewegung zu riskieren und aufhört, auf di« Ueberlegenheit des eigenen Wilkens zu vertraue«... Beispiele allzu großen Respektes vor der Wirkung automatischer Waffen können bei Uebun- gen und Manövern festgestellt werden, wenn der Schiedsrichter häufig di« angreifenden Formationen nur deshalb aufhäl:, weil auf st« ein feindliches Maschinengewehr schießt, trotzdem cs doch klar ist, daß der Jnfanterieangriff in seinem Verlauf und auch von Anfang an dauernd unter dem Feuer der Maschinengewehre oder Artillerie ausgeführt wird, daß die Infanterie immer Verluste haben wird und daß diese Verluste umso größer sein müsse«, j« mehr man sich vor dem Feuer fürchtet... Bis dahin wird es ja für die Theoretiker der Friedensverteidigung nicht gefährlich werden: wäre nur zu empfehlen, daß sich alle Herren vom „Beoer" mit Gesinnungsgenossen diesem erfrischendem Stahlbad auksetzen; um ihren Än- gttffsgeist zu fördern und die Wett von ihren eigenen Erfahrungen im frisch-fröhlichen Gefrchr zu überzeugen.— Voraussetzung muß aber sein, daß der„Fein d" nicht etwa zum verpönten Mittel des Gaskampfes greift... was aber auch angesichts obiger trefflicher Taktik nicht notwendig sein dürfte.—„Der Angriffsgeist soll nicht hasardieren, darf aber auch nicht jeden Optimismus einbüßen..." Aber wer möchte denn da nicht Optimist sein? Grobe Aeberschwemmvugen in der Slowakei . Viele Lrtschasten mutzten geräumt werden S i l l«i n, 22. April. In de« Gegenden, durch di« der Fluß Hron seinen Weg nimmt» überflutet das Wasser infolge der andauernden Regengüsse die Landschaft. An vielen Orten wurde die weite Umgebung de» Flusse « unter Wasser gesetzt. Oberhalb Banska BYstriea rissen di« Wassermassen ei» mit Pferden bespanntes Gefährt in dl« Flute«; di« beiden Tier« konnten nicht mehr gerettet werde«. Di« reißenden Wasserwogen führten di« beide» Pferd« bi« nach Zvolen . Auch der Fluß Slatina ist über seine Ufer getreten. Di« ganze Ledicer Doli na jft bedroht. Biele Ortschaften am Hron , der ebenfalls aus den Ufern gestiegen ist, mußten von den Bewohnern g« r 8« m t werden. Hier steigert sich die Gefahr immer mehr. Weiter sind noch di« Flüsse Krupina u«b I p»la an« de« Ufern getreten. Im Waagtal führt di« Waag Hochwasser; auch hier mußten einige Ortschaften g«. r8umt werden. Sin Teil der Ziliner Vorstadt und di« Gemeinde« Novy Ehumet und Banova find teilweise überschwemmt. „Sie geben also zu, die siebenundvierzig zum Teil schweren Einbrüche begangen zu haben." „Ich weiß nicht mehr, wievrele es Waken," sagte Rosier nachlässig.„Aber es mögen an di« vierzig gewesen sein." Dr. Körnigs Gesicht hatte sich gerötet. Seine Stimme klang ärgerlich, als er sagte: „Sie behaupten also, die Diebstähle allein durchgeführt zu haben?" „Rein," entgegnete Rosier, ohne zu zögern. „Nicht allein. Ich hatte einen Komplizen." Dr. Körnig kniff die Augen zusammen wie jemand, der äußerst erstaunt ist, und zögerte einen Augenblick, ehe er fortfuhr: „Wie heißt der Komplize?" fragte er langsam und betonte jedes einzelne Wort. Rosier lächelte. „Sie werden es begreiflich finden, Herr Untersuchungsrichter, daß ich darüber jede Auskunft verweigere." „Sie haben also," sagte Körnig und seine Stimme klang ruhig,„die Diebstähle mit Hilf« eines Komplizen ausgeführt. Für di« Annahme eines Komplizen gibt es bisher keinen anderen Anhaltspunkt, als Ihre Behauptung und den allerdings vorhandenen Fingerabdruck, der, das eine steht wenigstens fest, nicht der Ihre ist. Gut! Haben Sie die Einbrüche stets zu zweit unternommen?" „Nein," sagte Rosier gleichmütig.»Ich arbeitete ein einzrgesmal in Gesellschaft. Damals war mein Begleiter so unvorsichtig, jene Spur zu hinterlassen. Weder vorher noch nachher habe ich zu meiner Arbeit die Hilfe eines anderen in Anspruch genommen." In diesem Augenblick fuhr Dr. Körnig mit rotem Kopfe vpm Stuhl« auf und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Akten durcheinander gewirbelt wurden und/ der Schreiber, der das Protokoll aufnahm, erschrocken auf den Untersuchungsrichter starrte. Auch Rosier fuhr zusammen. „Aber das ist ja alles Unsinn," schrie er, und seine Stimme überschlug sich.„Glauben Sie denn, daß Ihnen ein vernünftiger Mensch die Geschichte glauben soll? Sie werden ihre Behauptungen zu beweisen haben." „Nein," sagte Rosier, der seine Ruhe rasch wiedergefunden hatte.„Rein, Herr Untersuchungsrichter. Sie werden zu beweisen haben, daß ich nicht der Täter bin." Einen Augenblick lang starrten sich die Männer in die Augen. Zwei Gegner, di« einen seltsamen Kontrast bildeten, wie ihn kaum jemals zuvor ein Untersuchungsgericht gesehen hatte. Der eine ruhig, bestimmt und überlegen wie ein Klager, obwohl er der Angeklagte war, der andere wütend, zitternd vor Erregung, em Angeklagter, obwohl er der Kläger sein sollte, ein Beamter, der die ruhigen, selbstbewußten Aeußerungen eines Verbrechers widerlegen wollte. Dann sank Dr. Körnig müde in seinen Stuhl zurück. Er wußte, daß Rosier Recht hatte. Es lag an ihm, zu beweisen. Und warum sollte er denn beweisen, warum wollte er es denn? Was lag ihm an dem Verbrecher, dessen Vorleben alles rechtfertigte, was er selbst von sich behauptet«? Gab es jemand, der zweifeln würde, außer ihm selbst? Und warum zweifelte er schließlich selbst? Nein, alles war längst überzeugt, alles war befriedigt, die ganze Stadt atmete auf, für alle war es eine unumstößlich« Gewißheit, daß der Mann, der durch fünf lange Jahre ein« ganze Stadt terrorisiert und_ die Polizei eines ganzen Landes an der Nase geführt hatte, zur Strecke gebracht war. Für alle war die Angelegenheit erledigt. ,Tr. Körnig seufzte. Er sah mit einem Male grau aus. Dann winkt« er der Wache und Rosier wurde abgeführt. Der Name Rosier wurde über Nacht berühmt. N'cht nur die Lokalblätter brachten ihn in fetten Buchstaben auf der Titelseite, auch die übrige Presse des In- und Auslandes griff m.r Interesse die Sensation auf und beschäftigte sich eingehend mit dem genialen Verbrecher, dem cS jahrelang gelungen war, sozusagen unter den Augen der Polizei spurlos di« verwegensten Diebstähle durchzufuhren. Er wurde immer wieder photographiert, sein Bild prangte in allen illustrierten Zeitschriften, man nannte ihn„König der Diebe", er Lenoß eine Popularität ohnegleichen, und alles in allem stand ihm das Publikum bewundernd und sympathisch gegenüber. Obwohl bei weitem nicht alles von dem Aufruhr, den«r erregte» zu Rosiers Ohren kam, hatte das, was bis in seine Zelle drang, den merkwürdigen Effekt, daß der Verbrecher im Stolze über die eigenen Taten und im Licht« seines Ruhmes den Kopf höher trug und eher einem Sieger glich als einem Gefangenen. Er lebte sichtlich auf, sein Aussehen wuttie trotz der Kcrkerluft besser, sein Auftreten noch selbstbewußter, sein« Erscheinung gewissermaßen markanter. Er genoß die bevorzugte Stellung, di« ihm sein Ruhm verschafft«, und die sogar in einer höflicheren, ja geradezu entgegenkommenden Behandlung durch die Wärter und Beamten, mit denen er in Berührung kam, ihren Ausdruck sand. Kurz, Rosier, gestern noch ein Nichts, ei« unbekannter» harmloser Taschendieb, von dessen Existenz außer der Polizei kaum jemand wußte, ivar mit einem Male eine Art Heros und der Held dek Tages und er wußte es und sonnte sich in seinem Ruhme. Es gab niemand, der an seinem freiwilligen Geständnis zweifelte. Die Erhebungen, welche die Polizei schnell und umfassend anstellte, ergaben, daß seine Aussagen im großen und ganzen mit dem Ergebnissen ihrer Hrachforschungen über- rinstiminten. Rosier hatte ssch tatsächlich fett der Zeit seiner letzten Verurteilung größtenteils in L aufgeholten. Nur gelegentlich war er in di« näher« Umgebung gezogen und hatte, wie sich berausftellt«, in recht guten Verhältnissen gelebt. * Aortzqfiu»
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11 (23.4.1931) 96
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