Nr. 23S
Sonntag, 9. Oktober 1982
Seite 7
Volkswirtschaft und Sozia'nolitik
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Gerichtssaal
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Landstraße 1932.
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Slttbrn^s Delegationsgesuch. Prag , 8. Oktober. Montag, den 16. d. M. beginnt in I g l a u der neuerliche Prozeh gegen S l k i b r n y und den waggonliefernden Uhrmacher Franz Sich rovsky. Das Oberste Gericht in Brünn hat bekanntlich das in allen Teilen freisprechende Erkenntnis des hiesigen KvejSgerichtes vom 1. Jänner teilweise aufgehoben und zur.neuerlichen Verhandlung das Jglauer KreiSge- ri ch t delegiert. Di« Verteidigung hat eine Eingabe überreicht, in der nach bekanntem Muster die UK >er» weisnng der Sache an ein K r e i s g e r i ch t außerhalb Mähren - verlangt wird. Vorläufig ist«ine Entscheidung über dieses An suchen nicht ergangen. Gleichwohl rechnet man in informierten Kreisen kaum mit einem Aufschub des Prozesses. Jedenfalls wird am Montag der neu« Prozeß eröffnet werde«.
Die Löhne in der Krise. In einer Zeit dauernder Lohnveränderungen Wird ein Vergleich der Lohnentwicklung zwischen verschiedenen Ländern besonders schwierig. Tie letzte große lohnstatistische Veröffentlichung Internationalen Arbeitsamtes in der September- Nummer der„Internationalen Rundschau der Arbeit" enthält für etwa 10 Länder Nominallöhne, wie sie in den einzelnen Berufen oder Gewerbezweigen gezahlt werden. Betrachtet man z. B. die Textilindustrie, so ergibt sich, daß die StunSenlohnsähc für gelernte und angelernte Arbeiter in Deutsch land betrugen: am 1. Jüli 1923 72.9 Rpf., am 1. Juli 1930 76.1 Rpf., am 1. April 1931 71.8 Rpf., am 1. Jänner 1932 65.6 Rpf., am 1. April 1932 65.4 Rpf., d. ch. also, seit 1928 sind die Stundenlöhne bis 1930 um rund 4 Rpf. gestiegen und dann seit 1930 beständig insgesamt 10.7 Rpf. gefallen. Die S t u n d e n v e r d i e n st e in der ita lienischen Textilindustrie beliefen sich im Juli 1928 auf 1.61 Lire, sie erreichten im Juli 1929 mit 1.69 Lire ihren höchsten Stand und fielen dann sehr schnell bis Juli 1931 auf 1.46 Lire und weiter bis April 1932 auf 1.43 Lire. Für die Vereinigten Staaten besteht eine Statistik, die zusammenfassend die Textilindustrie darstellt, nicht, Es sei daher hier die Zahlenreihe für die Strick- und Wirkwarenindustrie herangczogen, um die Lohnentwicklung zu zeigen. Es handelt sich um d u r ch s ch n i t t-. liche Stundenverdirnst«, wie st« vom „National Industrial Conference Board", einer Arbeitgeberorganisation, errechnet werden. Von 1914 ab sind die durchschnittlichen Stundeiwer- dienste bis 1929 auf 0.497 Dollar gestiegen (1914— 0,178 Dollar). Bon da ab haben sie sich stufenweise, aber regelmäßig nach unten, bewegt. Im 2. Vierteljahr betrugen sie noch 0.462 Dollar, im März 1932 0.422 und im Mai 1932 0,396 Dollar. Die Abwärtsbewegung der Löhne i" also auch hier außerordentlich auffallend. Ganz anders ist die Lohnentwicklung Dänemark verlaufen. Hier betrugen durchschnittlichen Stundenverdien st e wachsener Arbeiter in der Textilindustrie 1914 42.5 L«re, 1927 123 Oere. Auf diesem Stand haben sie sich bis 1930 gehalten und sind dann 1931 bis auf 125 Oere gestiegen. Da die Statistik, wie sie das International« Arbeitsamt diesmal veröffentlicht, Phlreiche Berufs- und Jndustriegruppen umfaßt, läßt sich aus ihr nicht nur die Entwicklung in den Konsumgüterindustrien, sondern auch in anderen ablesen, die, wie etwa di« B a u i n d u st r i e, in manchen Ländern von der Krise besonders stark betroffen sind. Im Baugewerbe beliefen sich di« durchschnittlichen Stundenlohn- sätze in Deutsschland am 1. Juni 1928 für gelernte Arbeiter auf 116.5 Rpf. Sie stiegen bis 1930(1. Juli) auf 125.2 Rpf. und sind dann zunächst bis Oktober 1931 langsam auf 112.9 und dann sehr schnell bis April 1932 auf.102.9 Rpf. gefallen.• Die durchschnittlichen Stundenverdien st e in der Bauindustrie in I t a l t e tt [Mitten folgende Entwicklung: Juli 1928 2.37 Lire; Juli 1930 2.34 Lire; Juli 1931 2.10 Lire; April 1932 2.07 Lire. Für Großbritannien stehen keine Stundenlohnsätze, sondern nur einfache Durchschnitte typischer Wochenlohnsätze zur Verfügung. Für Maurer belief sich der durchschnittliche Wochenlohn im Juli 1914 auf 40 sh 7 d; den höchsten Stand erreichte er Dezember 1927 mit 74 sh 1 d. Von da ab ist bis Dezember 1931 ein Rückgang bis auf 69 sh 1 d zu verzeichnen. Im Oktober 1926 hatten die Maurer in Paris einen durchschnittlichen Stunden- l o h n s a tz von 5 Fr. Dieser stieg bis Stober 1931 auf 6.50 Fr. Die Angaben in der Statistik über Frankreich sind nicht soweit aufgegliedert,, daß sich die Entwicklung nach Monaten daraus ablesen liehe. Für den Steinkohlenbergbau gibt die Statistik folgende Höhe der Stunden- l o h n s ä tz e an: Für Deutschland im Julk 1928(gelernte Arbeiter) 118 Rpf.; der höchste Stand wird am 1. Juli 1930 mit 120.8 Rpf. erreicht und der niedrigste am 1. April 1932 mit 95.5 Rpf. Die durchschnittlichen Stundenverdienste in Italien bewegten sich für die Jndustriegruppe Bergbau und Steinbrüche von 2.49 Lire im Juli 1928(ihrem höchsten Stand) bis auf 1.92 Lire im April 1932. Di« Durchschnittsverdienst« je Woche für alle Arbeiter einschließlich der Frauen und Jugendlichen betrugen im Steinkohlenbergbau Großbritanniens und Nordirlands im Juli 1919 6 sh 5% d. Sie erreichten im April 1926 ihren höchsten Stand mit 10 sh 5)4 b und sind seitdem bis zum 31. Dezember 1931 au f 9 sh 6K d gesunken. Im allgemeinen deuten die vom Internationalen Arbeitsamt zusammengestellten Zahlen darauf hin, daß die einzelnen Berufsgruppen in den Jahren 1926 b i s 1927 den höch sten Lohn st and erreichten, und daß seitdem die Löbneun- «ufhörlich gefallen sind. Es gibt auch Länder, wie z. B. Dänemark, in denen die Lohnentwicklung einen anderen Verlauf genommen hat, aber im allgemeinen läßt sick«aaen daß kein Land-und kein Beruf in der Wiristbanskrise von sinkenden Löhnen verschont geblieben sind.
Arbeitslosigkeit als Ko iunltur. Aus der Wett der BerufSdrttler. Prag , 8. Oktober. Die letzten u-nv schauerlichsten Auswirkungen einer gesellschaftlichen Organisation, die als wirtschaftliche Triebkraft den Raff- und Raubtrieb des Einzelnen anerkennt, ossubaren sich in jenen Fällen, wo Individuen vor dem Richter erscheinen, denen das unermeßliche Elend einer kapi talistischen Krisenwelt nichts anderes bedeutet, als *"" deit' -r a l- recht e K a u- 2 t e l• l-i? brr- »er den
eine gute Konjunktur. Angefangen rym Baunn nehmer, der seine von der Rot gehetzten Arle ungesetzlich um die B o r t e i l e der So Versicherung prellt(„wenns Ihnen«ich ist, bekomm« ich sofort zehn andere"), über d' tionsschwindler, di« betrnger'/chen lenvermittler und ander« Parasiten unter zum gerissenen B e r u f s b e t t l« r. „Arbeitslosen " spielt Gewiß, auch für das B« r u f s b e l t l e r: n in - übrigens ein Gewerbe, das seinen Mann,nicht schlecht nährt— bedeutet die heutig«'o'icüc Rot eine Konjunktur. Und die Bourgeoisie sicht das gern. Sehr gern sogar! Nichts kann einem Bürietblatt lieber sein, als wenn ein versoffener Strolch, der nie in seinem Leben gearbeitet bat unter der Maske eine?„Arbeitslosen " irgend einen Skandal verübt. Dann gibt? fette T:t-'! iile» „Arbeitslose", denen ein Rinderbraten'n we nig ist, über das Luxusleben„arbe'tS'cheuer Element«', die angeblich Tag und Rächt in den Kneipen verbringen, über das üppig-e Treiben der AnwersungSbezieher trsw. So wird also auch in der Bürgerpresse vermutlich piel Freude sein über diesen, vor dem Senat des OGR Novotny verhandelten Fall. In K l a d n o ging ein Bettler herum, der verschiedenen Unfug trieb. Natürlich trat er überall als „unbeschäftigter Arbeiter" auf. Er kam auch in eine Bäckerei, und als ihm die Verkäuferin, die ja über das Geld ihres Dienstgebers nicht verfügen kann, aus seine Klagen über seinen großen Hunger einige Semmeln gab, geriet er in Wut. Er zertrat die Semmeln und zerquetschte außerdem noch zur Rache dafür, daß erkeinGeld bekam, einig« Schaumtorten. Den Schaden wird die arme Verkäuferin tragen müssen. Tann kam er in einen Fleischerladen der aber les war schon 8 Uhr abends) bereits geschlossen war. Zwei Aufräumefrauen gaben dem Bittsteller ie zehn Heller. Frauen, die 80 K ■tt der Woche verdienen! Nun begann aber erst recht ein fürchterlicher Krawall. Polizei mußte einschreiten,«s kam zu Beleidigungen der Sicherheitsorgane usw. Heute stand der llcbeltäter wegen einer ganzen Reihe Paragraphen angeklagt vor dem hiesigen Kreisgericht. Der„Arbeitslose", der sich mit. vollkam m e n e r Trunkenheit zu verteidigen inchte. bekam drc- Monat« Kerker^ rb.
„Wir klauen an I* Nicht jeder, der seinen Existenzkampf auf die Landstraße verlegt, muß auch zugrunde gehen. Manche betreten auf höherer Interessensphäre den harten Kampfboden, sie sind gewappnet mit einer festen Ueberzeugung und einem klaren, nüchternen Blick für alles Gegenwärtige. Sic werden in das Heer der Namenlosen untertauchen, ohne in ihnen zu versinken. Für die meisten gibt es jedoch keinen Weg, der aufwärts führt, Spielzeug von Wind und Wetter sind sie. Die tägliche Selbsterniedrigung und Entwürdigung ist ihnen zur Gewohnheit geworden. Sie versinken in Alkohol, in Morphium, zum Teil auch in einer geistlosen Frömmelei, die sich selbst und andere betrügen will. Manche werden die wütendsten Anarchisten, doch entspringen ihre Anschauungen, sofern sie welche haben, der gleichen romantischen Weltbetrachtung. Der physischen Verfassung ist die geistlose ebekbürtig geworden, der Mensch ist im Abgruno... Die zahlenmäßige Stärke des wandernde» Heeres erfordert eine ausreichende und rasche Hilfe. Tie heutige Gesellschaft braucht diese Menschen nicht, möchte ihre Pflichten an ihnen ableugnen, ihre Existenz am liebsten verschweigen, denn eine erschütternde Zeugenschaft legen die Landstraßenproletarier ab über die Sinnlosigkeit der herrschenden Ordnung, eine Zeugenschaft, die zur furchtbaren Anklage wird.. Millionenfach ist dieser Gesellschaftsordnung das Urteil gesprochen, denn das steht mit eherner Gewißheit fest: ein System, das solches Elend verursacht und ihm tatenlos gegenübersteht, hat die Berechtigung verwirkt, wetterzubestehen. Martin Grill.
„Tas Gesetz in seiner majestätischen Gleich-' heil verbietet cs Armen wie Reichen, unter Brücken zu schlafen, in den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen." Anatole France . Millionen arbeitsloser Menschen sind aus. dem Wirtschaftsprozeß ausaeschieden, sind über- flüssig, für da« kapitalistische System nutzloser! als stillstehende Maschinen, denn diese fordern von ihren Eigentümern keine Betriebsstoffe, keine Nahrungsmittel, kaum ein bißchen Pflege.— Der Mensch jedoch will auch dann essen, wenn es ihm I nicht vergönnt ist, für irgendeinen Herrn Mehrwert zu schaffen. Und es ist ein tragischer Zufall. daß Taufende erst in diesem Moment, da sie nutzlose Rädchen im Weltgetriebe geworden sind, ihre frühere Rolle im Wirtschaftsleben und die wahren Zusammenhänge des gesellschaftlichen Seins erkennen. Hunderttausende hungern, leiden bittere Not, sehen ringsum in den Familien der Kameraden gleiches Elend und glichen Hunger; Leib und Seele werden gequält von immerwährender' Untätigkeit der ehemals so ersehnten Freizeit. -Immer wartend und untätig verstreichen Monate und Jahre, das Leben scheint aussichtslos geworden zu sein,— die Zukunft ist eine grauschwarze Nebelwolke, der die müde gewordene Seel« im lecken Boot willenlos entgegentreibt.— „Was aus mir werden wird— was gehts mich an?".... Aber nicht alle wollen kampflos versinken, viele machen verzweifelte Anstrengungen, dersee- lischen Verkalkung zu entgehen. Bei uns ist Not? kann es nicht anderswo bester sein?— Also hinaus aus die Landstraße, vielleicht blüht irgendwo draußen am Wegrande das Glück! Und Hunderttausende gehen jährlich, von neuen Hoffnungen bewegt, durch das Tor, das in die Ferne führt. Die Heimat, die Stätte bitteren Erlebens, wird mit der Land st raße vertauscht.— Erschreckende Zahlen. Der Landstreicher war in Mitteleuropa bis vor wenigen Jahren fast unbekannt. Die wenigen unverbesserlichen Vagabunden verschwanden in dem Verkehr der Großstädte, in den weiten Landgebieten. Sie fielen nicht weiter auf. Heute dagegen hat die Straßen- und Hausbettelei einen Umfang angenommen, der an Balkanzustände erinnert. Man verfügt in keinem Land über amtliche Zahlen, man kann die ungeheure Zahl derer nur schätzen, die heute ruhelos, immer hungernd und bettelnd durch die Lander ziehen. Alle die bescheidenen Wohlfahrtseinrichtungen, die der Wandererfürsorge zur Verfügung stehen, werden bis zur Grenze des Möglichen ausgenützt. Alle Obdachenlosenheime, Notasyle und Wanderarbeitsstätten sind überfüllt. Bürgerliche Zeitungen, die in letzter Zeit verschiedentlich das Thema der Wanderarmeen aufgegriffen haben und in sensationeller Weise ausschroten, um ihren Lesern das Gruseln zu lernen, errechnen für Deutsch land die Zahl von 600.000 bis 800.000 Landstreichern. Gregor Gogg schätzt im„Stuttgarter Neuen Tagblatt" das Heer der Landstraße in Deutschland und Oesterreich auf zwei MillionenKövfe. Sicher wird jedenfalls die Zahl von einer Million für Deutsch land nicht zu hoch gegriffen sein. Davon sind nach Gogg zweimalhunderttausend junge Menschen unter 18 Jahren. Daß es sich vor allem um Opfer der Wirtschaftskrise handelt, geht aus den Aufzeichnungen >er Wanderarbeitsstatten in Görlitz und Frank furt hervor, wonach 73 Vom Hundert der Be- jchäftigten gelernten Berufen angehören. 75 Prozent aller erfaßten Obdachlosen sind im Alter von 18 bis 30 Jahren. Nur 8 Prozent sind über 40 Jahre alt. Diese Angaben decken sich auch mit den persönlichen Eindrücken, die jeder aufnimmt, der längere Zeit auf Deutschlands Landstraßen wandert. Die Berliner Obdachlosenheime nehmen täglich 15.000 Menschen auf, das sind jährlich 5 Millionen. Köln zählt jährlich 17.000 lieber« ' nachtungen, auch alle privaten Fürsorgeeinrichtungen werden aufs äußerste in Anspruch ge- t nommen. Eine Million Menschen ohne eigene - Schlafstätte, eine Million ruheloser Nomaden in ! den Kulturzentren der alten Welt, mit einem ! Lebensniveau, dasMiiedriger ist als das der Haus- . tiere, denen man freiwillig Futter und einen t Stall geben muß, um sie vor dem Zugrundegehen zu bewahren. Wie oft versagt man da- . gegen dem Landstreicher den Pferdestall?... Hun- > derte junger Menschen ohne jede Stütze, ohne den , Rückhalt des Familienlebens!... Verstehen nun > klerikale Dunkelmänner und konservative«pießer- gehirne, warum frommer Gottesglaube und die Heiligkeit des Familienlebens zum Teufel gehen?... Werden es bürgerliche Herrschaften verstellen, wenn wir ihnen sagen, daß es ein Verbrechen ist, angesichts solcher Zahlen die Berechtigung sozialer Hilfsmaßnahmen zu bestreiten?! Doch nein, wir wollen nichts, Unmögliches per-, langen, man hat in diesen Kreisen nie etwas verstanden, was über sckräbige Geldsackinteressen dinansging. Frauen unterwegs. Das düsterste Kapitel in dem historischen Bericht über die neue Völkerwanderung wird die Schilderung des Frauenwanderns sein. Die Zahl der Frauen und Mädchen unterwegs ist Wohl viel geringer als die ihrer männlichen Leidensgefährten. doch ungleich härter und erbarmungsloser greift sie die barte Hand des Schicksals auf der Landstraße an. Auch bet ihnen ist meistens ivziale Rot der Anstoß zur Walze gewesen: ehe- ntalige Landarbeiterinnen und juuge Mädchen
aus den Proletarierwinkeln der Großstädte sind in gleicher Anzahl vertreten. Unter dem mächtigen Antrieb des Hungers und der Erwerbslosigkeit taten sie diesen Schritt, dessen ungeheure 'Tragweite sie nicht kennen.— oder zu spät erkennen. Frauen auf der Landstraße s i n-- ken fast alle nach längerer Zeit zu Prostituierten herab, zu Prostituier t e n n i e d e r st tz r K l a s s e. Ist die Wanderfürsorge für den männlichen ...Kunden" schon unzureichend, so versagt sie vollständig bei der Hilfe für die ungleich mehr ge- ährdeten Frauen und Mädchen. Da es nur wenige Obdachlosenasyle in einigen Großstädten und gar keine Wanderarbeitsstätten für Frauen gibt, so müssen dieser immer im Freien, in Strohschobern und in Waldhütten übernachten, selten bekommen sie von mitleidigen Menschen ein Nachtquartier, denn die Menschen behandeln die Frau auf der Walze viel herzloser und grausamer als ihren männlichen Kollegen. Dies alles treibt sie der Prostitution in die Arme; fast jede Frau ist gezwungen, ihren Leib für ein paar Pfennige zu verkaufen, und die Kunden nehmen nur zu gern diese so billig und günstig sich darbietenoe Ware. Es geht mit diesen Frauen rapid bergab. Ein großer Teil von ihnen ist geschl<chtskrank; durch das Fehlen jeder Fürsorge und Kontrolle laden sie den Fluch auf sich, diese Krankheiten mehr und mehr zu verbreiten, und so wird durch die Gleichgültigkeit der herrschenden Klasse sozialen Fragen gegenüber die Volksgesundheit geschädigt. Mit Gesetzen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten ist hier.nichts getan; eine planmäßige Fürsorge für die erwerbslose weiblich« Jugend könnte manches junge Menschenleben vor dem Verfall retten, auch die weibliche Wanderarbeitsstätte könnte Tausenden von jenen Frauen einen Halt geben, die heute auf schlüpfrigen, schiefen Ebene der Landstraße weigerlich dem Abgrund zutaumeln. Wie sie ieden. Mit hohen Erwartungen betritt der Mensch oft die Landstraße. Ein Rest von frisch-freien Wanderburschengeschichten und romantischen Vagantenliedern spuckt in seinem Kopf herum, auch dann, wenn er nach außen hin behauptet, sich über fein künftiges Leben keinen Illusionen hinzugeben. Di« Wirklichkeit ist jedoch immer noch brutaler und hoffnungsloser als es seine trübsten Erwartungen vermuten lassen. Bald ahnt er die bittere Mchrheit und die Trostlosigkeit seiner Lage. Der Kampf ums Leben, so schwer er auch sein mag, ist in der Heimat immer noch leichter zu führen als in der Fremde. Ist die magere Reisekasse erschöpft, so zwingt ihn der Hunger zum Betteln. Betteln vom Morgen bis zum Abend. Ruhelos treibt es den müden Körper weiter; wtchin, ist gleichgültig, der Vagabund hat kein Ziel. Essen und Schlafen— darin erschöpfen sich alle Wünsche des Landstreichers. Er ist immer müde und immer hungrig, zum Essen und Schlafen ist er immer bereit. Es giot keine Institution, die den Landstreicher vor dem Hunger bewahren; zwingt ihn jedoch dieser, sich em Stück Brot zu erbetteln, so greift die Hand der Gerechtigkeit ein' und beför- oert ihn für acht oder vierzehn Tage ins Arrest. Das ist dre einzige Fürsorge, der kein Kunde entgeht. Betteln ist verboten, hungern erlaubt. Den Menschen gilt der Vagabund nichts, selten bekommt er ein freundliches Wort. Er ist ihnen im allgemeinen der Schmarotzer, der sich ohne Arbeit durch die Welt schlägt, Grund ge- . nug, ihn mit kleinlichem Neid uno Haß zu ver- : folgen. Am gehässigsten erweist sich ost die kle- i rikale Bevölkerung in den katholischen Land- i gebieten. Spott und Hohn ist bei ihnen wohl- : feiler zu haben als ein Stück Brot. Vie Philosophie des Landstreichers. Die unendliche Landstraße frißt des Men- schen Widerstandskraft und zermürbt seinen Willen. Zu keiner entscheidenden Tat vermag er er sich mehr aufzuraffen. Hinter ihm grinst das Elend und vor iym brütet eine graue Zukunft, die nur eine Vergangheit in neuer Auflage ist. Vor ihm gähnt ein inhaltsloser Abgrund und er vermag nicht den müden Schritt zu hemmen, der ihn hineinstürvut läßt. Alle geistig Regsamen beginnen in dieser Lage zu philosophieren. Sie versuchen, eine Stellung zur Welt zu gewinnen, ihre eigene Rolle darin zu fixieren und zu rechtfertigen. Des Vagabunden Philosophie läuft in allen Tinge» darauf hinaus, den aufbegehrenden Menschen in sich zugunsten des besitz- und rechtlosen Landstreichers zu unterdrücken. Er begräbt den klaren Menschenverstand im Untergrund seiner Seele und bemüht sich, die ihm aufgezwungene Lage als sein ureigenstes Ziel hinzustellen. Seine Philosophie ist die Nichtbeachtung seiner besieren Ueberzeugung, vor allem die Rechtfertigung seines verlorenen Lebens. Die Landstreicher reden sich gegenseitig ein, daß sie sich ihr Leben so gewünscht hätten; sie sind nicht mehr imstande, das Steuerruder herumzuwerfen und erzählen sich, die eingeschlagene Richtung sei die von ihnen gewollte. Im ewigen Gleichmaß fließt ihr Leben dahin, linmer sind sie auf der Jagd nach Esten und Unterkunft, immer gejagt von Polizisten und Landjägern: zermürbt und abgestumpft lasten sie sich vom breiten Strom der Leidensgefährten oahintreiben, singend das alte Vagantenlied, das ihnen Gebet und Trost ist:„... weiter uns wirbelnd auf staubiger Straß', immer nur hurtig irnd munter, ob uns der eigene Bruder vergaß, uns geht die Sonne nicht unter!"