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Freitag, 13. Feber 1933

Nr. 39

Was tut den Kleinbauern not? Futtermlttelprelse, Futtermittelnot und Viehmonopol

Vor einem neuen Justizmord Hamburg.(Tsch. P.-B.) Bor dem hansea­tischen Oberlandesgericht begann am Mittwoch ein Prozetz gegen den Kommunisten Fritz Karl Schulze , der etwa vier Wochen dauern wird. Schulze wird für alle politischen Gewalt- und Mordtaten, die sich in der Zeit vom September 1932 bis April 1933 in Hamburg ereigneten, ver­antwortlich gemacht. Er war während dieser Zeit politischer Leiter des Roten Frontkämpferbundes , Gau Wasserkante. Die Anklage hat besonders 15 Fälle her­ausgegriffen, die in den Tagen der Machtüber­nahme HitlerS in Hamburg geschehen sind.

der bürgerlichen Opposition, deren Frontausdeh­nung freilich im Augenblick noch nicht ersichtlich ist, geht um den Komplex des sogenannten Gesetzes zum Schutz des dritten Mannes". Dieserdritte Mann" soll der durch die ökonomischen Kampf« Maßnahmen zweier Gruppen des Wirtschafts­lebens angeblich Geschädigte sein. In Wirklichkeit hat das schwedische Bürgertmn dieses Gesetz, das ihm so außerordentlich am Herzen liegt, daß dit bürgerlichen Parteien, übrigens mit Beihilfe der Kommunisten beider schwedischen Schattierungen, sogar einen außerordentlichen Reichstag (Urtima) eipberufen wollten, als klares und einfaches Antigewerkschaftsgesetz gemeint. In dieser Frage zeigen sich scharf die Klassenfron­ten. 8s ist aber für die schwedischen Verhältnisse bezeichnend, daß die Arbeiterschaft in ihrem Kampf gegen die Ausnützung desDritten-Mann-Geset- zes" zu antigewerkschaftlichen Tendenzen keines­wegs allein steht, sondern daß sich eine starke bäuerliche Organisation ebenfalls mit aller Schärfe gegen eine solche Auslegung der Frage der Regelung wirtschaftlicher Streitmaßnahmen er­klärt hat, obwohl die Bauernpartei durch ihren neuerkorenen parlamentarischen Führer eine Stel­lung beziehen ließ, die sich kaum mehr von der Konservativen unterscheidet. Dieser Widerspruch zwischen der parlamentarischen offiziellen Bauern­vertretung und der unpolitischen Bauernorganisa- tion(R. L. F.) resultiert daher, daß in der poli­tischen Partei die alten, durch Jahrzehnte einge­bläuten arbeiterfeindlichen Traditionen trotz der Zusammenarbeit zwischen Arbeiterschaft und Bauernschaft in den letzten Jabren stark wieder zum Ausdruck kommen, während in den wirtschaft­lichen Organisationen die Konsequenz aus der planwirtschaftlichen Umgestaltung der Landwirt­schaft auch ideologisch rascher gezogen wird. ES ist kein Zweifel, daß die Frage desGe­setzes über die wirtschaftlichen Stritte" das poli­tische Leben in Schweden in der nächsten Zeit ent­scheidend beeinflussen wird. Sowohl von feiten der Regierung wie von feiten der Arbeiterpresse werden die bürgerlichen Parteien nachdrücklich ge- warten, den Bogen zu Überspannen. Die Regierung hat erst in den Landtagswahlen des Herbstes ein außerordentliches Vertrauensvotum der Wähler erhalten. Es kann wohl keinem Zweifel unterlie­gen, daß die Arbeiterregierung einer arbeiterfeind­lichen Ausweitung des Gesetzes durch eine bür­gerliche Reichstagsmehrheit mit einem Auflösungs­antrag beantworten würde, zumal sie sich ange­sichts der außerordentlichen Erfolges auf wirt­schaftlichem und sozialem Gebiet mit ruhigem Ge- wiffen dem Urteil des schwedischen Volkes stellen kann. In diesem Zusammenhang wird die Wahl in die Stadtvertretung Stockholms , die Mitte März stattfindet, über den Rahmen einer gewöhn­lichen Gemeindewahl hinaus, polftische und stim- mungSmätzige Bedeutung haben. B. M.

Es zeigt sich immer mehr, daß die Lage am Futtermittelmarkt unhaltbar wird. Die Klaren über die Futtermittelnot und übermäßig hohen Futtermittelpreise mehren sich besonders in den Viehzuchtgebieten. Es ist ein Zustand eingetreten, der die Existenz der kleinen Viehzüchter zu unter­graben droht, wenn nicht schleunigst Hilfe geschaf­fen wird. Die Ursachen dieser unhaltbaren Ver- hältnisie liegen wohl in erster Linie in der Miß­ernte begründet. Mehr als achtzig Bezirke wur­den davon betroffen und weisen einen Ausfall von 40 bis 90 Prozent sowohl bei Rohfutter wie auch bei Futtermitteln auf. Die Unterstützung, die der Staat geben konnte, war viel zu gering, um auch nur Halbwegs die Viehzüchter über Wasser halten zu können. Sie reichte in den meisten Fällen kaum soweit, um ein Stück Vieh einen Monat lang füttern zu können. Hiezu kam außerdem die unerklärliche Vor­gangsweise der Getreidemonopolgesellschast. Sie setzte Preise für Futtergetreide fest, die heute un­erschwinglich find.

So kosten heute

Gerste,,

W 0 0

Kd

150.

Hafer..

0

Kf

142.

Gerstenschrot

O

V

Kd

155;

Quetschhafer

V

W

Kd

147.

Mais..

g

Kd

155.

Maisschrot.

Kd

165.

Oelkuchenmehl

V

Kd

135.

bis

150.J). 100 kg

franko Empfangsstation. Diese Preise stehen weder mit den Viehpreisen noch mit den sonstigen Preis- verchältnissen auch nur einigermaßen im Einllang. Sie wären noch zu ertragen, wenn die Keinen Viehzüchter heute noch ihre Einnahmen aus dem Nebenberuf hätten. Aber die Meisten sind arbeits­los und können sich einen Zuschuß für die Land­wirtschaft nicht mehr leisten. Die Futtermittelzu­käufe sind deshalb für sie unmöglich geworden, statt dessen müssen sie ein Stück Vieh nach dem an­deren ausräumen. Das führt nun vielfach dazu, daß dem arbeitslosen Kleinlandwirt nun auch die schmale landwirtschaftliche Existenz entzogen wird. Als im Juni des vergangenen Jahres die furchtbaren Ernteschäden sichtbar wurden, da haben die parlamentarischen Bertteter der deut­schen Sozialdemokraten in einer Interpellation als «ickte und wichtigste Maßnahm« di« Beisteltung ge­nügender und billiger Futtermittel verlangt. Es wurden damals außerdem strenge Maßnahmen ge» fordert, die eine Verteuerung der Futtermittel ver­hindern sollten. All das wurde von der Regierung in der Beantwortung der Interpellation auch zu­gesagt. Praktisch aber wurde so gut wie nichts unternommen. Die Agrarier habe» im Gegenteil bei der Ge- trrideverkehrSgesellschaft dir hohen Futtrr- getrridepreise durchgesetzt, die es dem lleinen Viehzüchter unmöglich machen, den notwendige« Bedarf zu Produzenlenprtistn im Orte ein­zukaufen. Auch in dieser Hinsicht haben die Bertteter des deutschen Kleinbauernverbandes beim Landwirt- schastsminister H o d z a angeregt, daß hier eine

Aenderung der Monopolbestimmung eintteten soll, die darin bestehen könnte, daß nach amtlicher Fest­stellung des Bedarfes der Einkauf bei den örtlichen Produzenten ermöglicht wird. Diese Forderung wurde mit der Begründung abgelehnt, daß dies ein Durchbruch des Monopolgedankens sei. Aber auch hinsichtlich einer zoll- und abga­benfreien Einfuhr von ausländischen Futtermit­teln ist nichts unternommen worden. Die Ret­tungspläne der Agrarier gipfeln wieder einmal in der Forderung nach einer Erhöhung der Vieh­preise, die nun das geplante Viehmonopol brin­gen soll. Nun soll keineswegs behauptet werden, daß die Viehpreise, wie sie bis vor kurzem standen, etwa gerechtfertigt wären, wenn Man den Kosten­aufwand der Viehzüchter infolge der Futtermittel­not in Betracht zieht. Es wäre schließlich auch eine Preiserhöhung für die Konsumenten zu ertragen, wenn wir heute normale Wirtschaftsverhältniffe hätten. Das ist aber nicht der Fall. Nahezu eine Million Arbeitsloser haben wir in unserem Staate, hiezu kommen noch die Kurzarbeiter und jene, denen man die Löhne bedeutend abgebaut hat. Man darf nicht vergessen, daß eine Erhöhung der Fleischpreise im Detail mit einer Einschränkung des Konsums beantwortet werden würde. Diese Auffassung findet ihre Bestätigung in der Entwicklung der Verbrauchszahlen im Fleischkon­sum. Vom Jahre 1929 bis Ende 1933 sank der Fleischkonsum von 28.5 Kilogramm auf 25 Kilo­gramm, also um 3.5 Kilogramm pro Kopf der Bevölkerung. Im Jahre 1934 konnte aber infolge der gesunkenen Preise eine leichte Konsumsteige­rung um etwa 0.5 Kilogramm pro Kopf festge­stellt werden. Bei einer starken Preissteigerung durch das Viehmonopol würden neuerdings Ab­satzschwierigkeiten entstehen, zum Schaden der Landwirte. Nun ist aber selbst mit einer Erhöhung der Biehpreise das Problem für breite Schichten der Viehzüchter gar nicht gelöst. Tausende Kleinland­wirte wollen ihre Kühe gar nicht verkaufen, weil sie ihnen als Milch- und Gespanntiere unersetzlich

Vorläufig nur kleinere Verbände Rom . Der Abtransport vor beiden mobilisierten italienischen Divisionen ist mit der Verschiffung klei­ner Verbände von südita» lienischenHäfen aus eingeleitet worden. Sie bestehe« im wesentlichen aus Spezialisten und technischen Trup­pen, die neue Materialverschiffungen zu begleiten haben. Don italienischer Seite wird erklLrt, es handle sich bis jetzt um keine Massentransporte, für die ein Zeitpunkt«och nicht festgesetzt sei. Falls Maffentransporte nach Erhthraa und Somali aber schon i» der nächsten Zett erfolgten sollten, so Hütten diese Truppen nur den Auftrag, die italieni -

sind. Mit dem Gelde, das sie dafür lösen würden können sie sich weder ernähren noch ihre Arbeiten verrichten. Dazu brauchen sie ihr Vieh und des­halb wollen sie es behalten und deshalb nützt ihnen der schönste Viehpreis nichts, wenn sie kein Vieh oder nur ganz wenig zu verkaufen haben. Er würde in der heutigen Zeit wieder nur den gro­ßen Mästtrn zugute kommen, den Großbauern und Großgrundbesitzern. Die lebenswichtigste Forderung der Nein«« Viehzüchter bleibt daher die Herabsetzung der Futtrrmittelpreise und Herbeischaffung von bil­ligen ausländischen Futtermitteln, wobei es un­erläßlich ist, für di« Notstandsgebiete eine noch­malige Unterstützungsaktion durchzuführe» durch eine Sonderzuweisung von außerordent­lich billigen Futtermitteln»der durch Beistel- lung eines unverzinslichen, in drei bis vier Jahren rückzahlbaren Kredites. Es ist nach allen bisherigen Erfahrungen leider mit allergrößter Sicherheit anzunehmen, daß die Agrarparteien, die in der Regierung die stärkste Machtposition innehaben, für eine solche Äsung nicht das geringste Interesse übrig haben. Ihnen geht es in erster Linie um den Schutz der großen Besitzer, damit diese entsprechende Gewinne ein­heimsen. Das geht auch aus einem Artikel der Deutschen Landpost" hervor, die sich um die heikle Frage mit allerlei Erklärungen herumwinden will, daß bei den gegenwärtigen Reformen in der Land­wirtschaft dieser Zustand eben hingenommen wer­den müsse und das kommende Viehmonopol schon das Heil für die Viehzüchter bringen werde. Well nun dem so ist, mutz von der organisierten Klein­bauernschaft die Propaganda für billige Futter­mittel äuch in die Reihen der noch beim Bund der Landwirte organisierten und der unorganisierten kleinen Viehzüchter hineingetragen werden, damit die agrarischen Führer auf diese Weise gezwun­gen werden, eine andere Wirtschaftspolitik einzu­schlagen. Hier handelt es sich nicht um einen Wahl­schlager oder um ein billiges Agitationsargument, sondern um eine nackte Lebensnotwendigkeit für breite Schichten des Landvolles, für deren Er- kämpfung die gesamte Kleinbauernschaft auf­gerufen werden mutz. A. S ch m i d t.

schon Grenzposten so zn verstärken, dass sie jedem abessinischen Angriff in den Grenzgebiete« gewachsen wäre«. Der Nesus friedliebend Kairo.(Reuter.) Wie ein abessinischer Diplomat in Kairo dem Berichterstatter des Reu­terbüros versicherte, ist der Kaiser von Abessinien aus allen Kräften und mit allen Mitteln bestrebt, eine f r i ed l i ch e Lösung des Konfliktes mit Italien zu finden. Der Diplomat machte den Be­richterstatter darauf aufmerksam, datz z. B. bei emer Schietzerei 4 Abessinier von ital. Solda­ten getötet wurden und datz der Kaiser es nicht gestattete, diesen Zwischenfall dem Stamme mit­zuteilen, dem die Erschossenen angehörten, in der Besorgnis, datz dieser Stamm aus Rachsucht die Italiener überfallen könnte.

Die Truppentransporte besinnen!

nadi Ihw^ Roman von Fritz Rosenfeld

Di« Leute blieben stehen, was war das für «ine seltsame Gesellschaft, die Mädchen in glei­chen Mänteln, grellblonde, tieffchwarze, mit scharfgezogenen Augenbrauen, schlanken Fesseln Tänzerinnen wohl, die aus dem Ausland kamen. In unserer Stadt sucht man so hübsche Mädchen vergebens! Die jungen Männer der Blaffe mit der Reisekappe, hochgewachsen, ein russischer Prinz, der nun als Tänzer sein Brot verdient, oder der durchgebrannte Sohn eines Lords? Dan« Gregor, südländischer Typ, grosse, brennende, dunll« Augen in einem bleichen Ant­litz, über dem ein verttäumter Schimmer lag, das Gesicht eines Schwärmers, italienische Som­mernächte spiegeln sich in diesen Zügen, der Ge­sang der Barkenführer in einer Mondnacht llingt aus diesen Augen wider. Wohin fahren sie denn? wurde gefragt. Und wer ist dieser? Wer jener? Frau Avory sttahlte. Der Bahnhof war nur für sie erbaut, der Zug fuhr nur für sie, die Gepäck- ttäger waren nur gekommen, um ihre Kofter zu schleppen, der Beamte an der Sperre machte nur ihrethalben Dienst. Sie war hier und war dort und war überall, und sank zerbrochen in die hell­braunen Lederkissen, als sie endlich in ihrem Coupt war. als eine schrille Pfeife rollte, als der Zug zischend und stampfend langsam und feier­lich auS der Halle dmnpfte. Noch einmal fragte sie, das Taschentuch in der Hand, mit dem sie sich Kühlung fächelte: Sind alle da? Ist alles in Ordnung?" Alle sind da," schrie Xenia aus dem Neben- coupt,und alles ist in Ordnung." Leise setzte sie hinzu:Fren General." Da erst griff Dian« Avory nach der kleinen

Kognakflasche in ihrem Täschchen. Sie tat einen tiefen, langen Zug, schloß die Augen und lehntt sich zurück. III. Felder, Wiesen, Häuser, vor denen Men­schen, grau und gebückt, mit dem Spaten die ver­witterte, herbsttaubgesprenkelte Erde aufreihen. Rote Dächer am Hang eines Hügels, eine Brücke, ein silbernes Band, leicht gekräuseü vom Wind. Eine Stadt, Dörfer, ein Bahnwärterhaus, vor dem ein Kind spielte. Ein Hund bellte den Zug an, ein Kutscher stand mit seinem Wagen vor den Schranken und fluchte. Bor einem Wirtshaus saß ein aller Mann, die Pfeife im Mund, eine Zieh­harmonika in den Händen. Dann schoben sich Wollen über den Himmel, ein zähes, schwärzliches Halbdunkel verhüllte die Sonne. Regentropfen prasselten gegen die Scheiben, eine Schneeflocke blieb haften, schmilzt. Kühe standen auf einem Anger, peischten den Regen mit ihren Schwänzen, blickten aus stumpfen Augen stumpflinnig den jagenden Zug an. Carlotta sah eS, aber ihre Augen nahmen es nicht auf, es glitt vorüber, aber es blieb ohne Echo in ihrem Herzen. Das Heute war so weit ent­fernt, und sie wollt« es immer weiter zurück­drängen, bis eS irgendwo winzigflein am Hori­zont verschwand. Sie hielt ein Buch auf dem Schoß, sie warf einen Blick auf di« schnur­gerade Reihe der Buchstaben, aber ihre Augen nahmen sie nicht auf, sie glitten vorüber, es blieb kein Echo in ihrem Herzen. Wenn sie aufsah, fühlte sie Marcel neben sich, der auf der Bank kümmelte, die Hände in den Hosentaschen, die Pfeife im Mund, die West« halboffen, nun mutzte man nicht mehr aussehen wie Maurice Chevalier , wenn er eine Frau bezaubern will. Für Frau Avory? Sie schlief gegenüber, ein fahles, fälliges Gesicht, all, müde. Für Carlotta? Sie mochte an den Tagen ihren eigenen Weg laufen, wenn am Abend der erste Taft ihrer Nummer erflang, ge ­

hörte sie ihm, wurde sie ein Teil seines Körpers, und wenn sie in ihrem Zimmer waren, nachher, der Beifall war verekckt, der Zank in der Garde­robe vorüber, seine Hände hielten sie fest, zwei Klammern, denen sie sich nicht entwinden konnte dann hatte er sie, dann besaß er sie, em Ding, das er erworben hatte, ein für allemal. Manchmal ahnte er es, doch er stieß den Ge­danken zurück, er wollte ihn nicht denken: Sie will mir entfliehen, sie will sich frei machen, von allem, von der Musik, die uns verschmilzt, von den Näch­ten, die über uns zusammenschlagen. Aber er hatte keine Angst. Noch hielt er die Zügel fest in der Faust. Sie war nicht die erste. Er verstand sich darauf. Liebe? Wie dumm die Worte waren, die die Menschen gebrauchten, wie anspruchsvoll, wie lächerlich groß. Da ist ein Mensch, man braucht ihn, für die Nummer, für das Bett. Man nimmt ihn, die Sache ist erledigt. In den Romanen stand:Ich liebe dich". Auf der Filmleinwand flüsterten sie:Ich liebe dich.'' Auf der Bühne sagten sie es, singen sie es:Ich liebe dich." Es ist wie bei Kindern: Sie lesen vom Aschenbrödel und dem Königssohn, sie sahen Dornröschen auf der Bühne, sie waren Prinzen und Prinzessinnen und lachten über ungeschickte Diener, dicke Köche, feige, böse alte Frauen. Dann schlugen sie das Buch zu, und saßen in einer armen, kalten Stube, und werden geschlagen. Dann gingen sie nach Hause, und dachten an die Schule, an den Lehrer, der feig und bös war, aber mächttg. Hat er jemals zu einer Frau:Ich liebe dich!" gesagt? Er konnte sich nicht daran erinnern. Aber er hat einen feigen, bösen Lehrer gefürchtet und von seinem Vater Prügel bekommen. Abend für Abend. Man müßte die Märchen wieder lesen. Man müßte zu einer Frau:Ich liebe dich" sagen. Nun wirst du sentimental, Marcel Tissot? Eisenbahnfahrten machen sentimental. Man ließ eine alte Stadt hinter sich und jagte einer neuen entgegen. Man machte Bilanz, rechnete ab. Aber die Summe, die sich ergab, war immer dieselbe, und am Schluß blieb alles beim alten.

Aus dem Rebencoupe klang Musik. Es war immer dieselbe Platte: die Girls spielten den neuen Schlager, er saß noch nicht, er mußte ihnen ins Blut übergehen. Der Rhythmus fraß sich inS Ohr, wie der Rhythmus der Räder. Herr von Ebel, der in der offenen Coupüür stand, gab mit der glänzenden Lackspitze seines Schuhes den Takt. Er kam aus Paris , er kannte den Schlager. Er unterhielt sich mit den Girls, die banalen ersten Fragen: Woher? Wohin? waren längst vorüber, er erzählte Witze, bot Bonbons an, Zigaretten. Wenn der Schaflner durchging, schwieg er, sah zum Fenster hinaus. Er fuhr oft diese Sttecke, manchmal mit seiner Frau. Die Girls gaben ihm keine Antwort, ab und zu wieherte Clarissa, wenn ein Witz ihr neu vorkam, Xenia wandte ihm den Rücken zu, formte aus Daumen und Zeigefinger der Rechten einen Kreis, stemmte ihn ins Auge, kopierte Herrn von Ebel, die Girls brüllten auf, Herr von Ebel wußte nicht, worüber sie lachten. Xenia drehte sich um, faßte ihn an der Krawatte, drängte ihn sanft aus dem Coupö. Er blieb verdutzt draußen stehen, in Paris waren die Girls freundlicher, zog einen Taschenspiegel hervor, brachte die Kra­watte wieder in Ordnung, zog sich in sein Abteil zurück und holte Patirncekarten aus dem Kofler. Nach einer Weile schlief er sanft ein. Wie kannst du nur einen Herrn von hin- auSwerfen," sagte Livia. Ach was, von oder nicht von. Vielleicht verlangt er am Ende noch Rabatt für das von?" Das Grammophon surrte, die Platte war abgelaufen, Xenia setzt die Nadel wieder in die äußerste Rille. Im nächsten Coupe warf Franz Kilmek, Reisender der Firma Epstein und Co., Textilien, den Herzkönig auf den Fenstertisch. Cabrolle, Theodor Cabrolle, Gutsbesitzer, glatzköpfig, in Hemdärmeln, den Kragen offen, die Bierflasche neben sich, warf den Herzzehner daraus (Fortsetzung folgt.)