Nr. 83
Sonnt«,, 7. April 1935
Seit« 3
braune 2sk!en Zahlen, nichts als Zahlen sind im„Statistischen Jahrbuch 1934" enthalten, das uns das Dritte Reich noch immer im grünen, nicht im braunen Umschlag beschert. Grün ist die Hoffnung! Aus den zehntausenden von Zcchlen und Tabellen formt sich ein nicht uninteresiantes B'ld über die wahre Lage Hitler -Deutschlands . Zahlen sind zwar nüchterne Gesellen, aber ihre Sprache ist zuweilen dramatisch. Da lasen wir neulich einen Erlast des stellvertretenden Parteiführers Rudolf Hetz„gegen die Störung des Familienlebens". Da hieb es: „Alle politischen Leiter und Unterführer der Partei muffen sich stets vor Augen halten, dast deutsche Frauen und Mütter allein schon dadurch Opfer für den Sieg des Nationalsozialismus und dadurch für das ganze Volk gebracht haben und auch fernerhin bringen, dast sie ihre Männer und Kinder immer wieder Naglos(!) in den Kampf ziehen ließen.. Vieldeutig geht es dann weiter: „Aus gesundem Familienleben erwachsen sich stets ergänzend deutschen Männern und Jünglingen die Kräfte zur Erfüllung der deutschen Aufgabe unter dem Banner des Führers." AuS dem Statistischen Jahrbuch 1934 erhält man die ErKärung: In der verruchten Weimarer Republik wurden geboren:
Jahr
Geburtenubers chutz
1927:'
1,161.719
404.691
1928:
1,182.815
443.295
1929:
1,147.458
331.496
1930:
1,127.450
416.600
1931:
1,031.770
305.954
1932:
978.210
278.590
und im ersten Jahre des Heils(1933) nur noch 956.918, bei einem Geburtenüberschuß von nur noch 226.113, wobei aber noch zu beachten ist, daß dank des Ehestandsdarlehen die Eheschließungen von 509.597 im Jahre 1932 auf 630.826 des Jahres 1933 gestiegen sind. Diese Ziffern können allerdings nur bedingt als Cha- raüeristikum der verringerten Geburten herangezogen werden. Zumindest hätte das Jahr 1933 dem vergangenen die Waage halten muffen, statt dessen 22.000 weniger Geburten bei 121.000 mehr Eheschließungen.— Daher der Seufzer des Herrn Hetz! Das Kapitel.Kriminalität" ist sehr schwer zu durchforschen, und man muß zum Vergleich mit der amtl. deutschen Greuel" private Zählungen heranziehen. Nach dem Statistischen Jahrbuch sind im Jahre 1931: 49 Todesurteile ergangen, von denen vier vollstreckt wurden. 1932 fällte man 52 Todesurteile und voffstreckte nur drei. Mit dieser Humanitätsduselei hat das Dritte Reich gebrochen. Allein vom Mai 1933 bis Ende
Dezember 1933 find 75 politische Todesurteil« gezählt worden; dazu kommen noch 40 Todesurteile aus kriminellen Gründen und die in den ersten vier Monaten des Jcchres 1933 ergangenen Todesurteile, die man mit mindestens 15 einsetzen kann, so daß das Jahr 1933 mit 13V Todesurteilen abschließt, abgesehen von den Ermordungen. Hingerichtet wurden von diesen 130 Verurteilten 70 Prozent gleich 91 Hinrichtungen. Wir wissen, welche Steigerungen das Blutwerk im Jahre 1934 noch erfahren hat. Deutschland , das Land der Rekorde, hat die Genugtuung, im Kopfabschlagen an der Spitze der Nationen zu marschieren.— Dagegen nehmen die Studierenden ab. Von 16.210 Studierenden des SommerhalbjahrrS 1933 ist die Ziffer für das Wintersemester aus
Die wirtschaftliche Krise i« Holland (AP.) Im Gegensatz zu Belgien rollte man bis jetzt in Holland trotz der steigenden Krise nicht die entscheidenden wirtschaftlichen Probleme, die Fragen der Währungspolitik, der landwirtschaftlichen lleber- produktion und der Industrialisierung auf. Die Arbeitslosigkeit betrug 1931 nur 138.000 Personen, stieg 1932 auf 271.000 und 1933 auf 323.000 Personen. Auf dieser Höhe hielt sie sich 1934 ungefähr. Daneben gibt es eine starke unsichtbare Arbeitslosigkeit durch die Verelendung des Mittelstandes, die aus dem Rückgang der Zahl dir Steuerpflichtigen hervorgeht(1931/32:1,668.000, 1933/34 dagegen nur 1,485.000). Die von weiten Kreisen der Bevölkerung geforderte staatliche Arbeitsbeschaffung würde große Mittel erfordern. Man sucht aber den Staatshaushalt durch Beschränkung der Ausgaben im Gleichgewicht zu halten. Die staatlichen Einnahmen find ganz erheblich zurückgegangen, und die Politik der Regierung Colijn ging darauf aus, die Ausgaben diesen sinkenden Einnahmen anzupassen. Die Steuerkrast der Bevölkerung läßt zudem, zumal nach der Neueinführung der Umsatzsteuer, eine Steuererhöhung kaum noch zu. Hier liegen die großen Schwierigkeiten. Eine Reserve von 253 Millionen Gulden, die 1930 noch ausgewiesen wurde, ist obendrein inzwischen aufgezehrt worden. Es gibt Abgaben auf Getreide, Mehl, Zucker, Fleisch, Milch, Speisefette und Käse, die durchaus den Charakter indirekter Steuern tragen. Kommt noch hinzu, daß die Möglichkeiten eine Einschränkung durch die Erhöhung der Ausgaben für die Landesverteidigung erfahren haben, die naturgemäß durch die internatio- nale Lage notwendig geworden war. Eine aktiv« Krisenbekämpfung müßte also, statt die Ausgaben den sinkenden Einnahmen anzupaffen, umgekehrt die Einnahmen den steigenden Ausgaben angleichen. Das sind zurzeit die Kernfragen der holländischen Wirtschaft, auf di« sich naturgemäß nach den Vorgängen in Belgien das Interesse konzentriert.
14.016 gefallen. An sämtlichen deutschen Hochschulen studieren noch 483 Ausländer. Rapider Schwund! Auch hier ein Rekord. Noch eine Zahl, die interessiert: für die Kriegsopferversorgung hat das frühere Regime im Haushalt 1927/1928 1.616,400.000 RM eingesetzt und 1929/1931 diese Ausgaben noch um zirka 100 Millionen gesteigert, während der Frontsoldat Hiller nur noch 1.230,000.000 RM im Haushalt 1933/1934 für die Kriegsverletzten eingesetzt hat. Also eine Verringerung von 25 bis 30 Prozent! Dagegen für Wirtschaft und Verkehr ist der Subventionsetat von 101,000.000 RM auf 314,000.000 RM gestiegen! Man sieht Zahlen, nichts als Zahlen, aber sie erzählen dem deutschen Volke einige bittere Wahrheiten, wenn es sie lesen würde! Ja— I würde! Felix Burger
Gcriciitssaal Gattenliebe und Verwandtenhaß Prozeß um ein Grat Prag . Der 8 306 unseres Strafgesetzes zählt zu jenen Strafparagraphen, die selten Gegenstand von Anklagen bilden. Es betrifft die Entwürdigung von Grabstätten, also«in Delikt, das sich normale Kulturmenschen wohl kaum je zuschulden kommen lassen. Wenn solch« Fälle sich ereignen, pflegt es sich um traurige Entartungen eines bestialischen Fanatismus zu handeln, wie etwa bei de« Schändungen jüdischer Gräber durch Jünger des Hcckenkreuzes. Um so sonderbarer mutet dieser vor dem hiesigen Kreisgericht verhandelte Fall an. Angeklagt war eine 24jähriqe Witwe der Grabsteinschändung an der letzten Ruheftätteihres vorkurzem verstorbenen Gatten. Wohlgemerkt eines wirklich geliebten Gatten. Di« Angeklagte war in der Anflimr beschuldigt. Blumenschmuck vom Grabe ihres Mannes beseitigt und auf den Kehrichthaufen geworfen zu haben. Di« auf solche, nach der Anllage pietätlos«, Weise beseitigten Kränze und Sträuße, waren vor dem Weihnachtstag von den nächsten Verwandten des Verstorbenen auf sein Grab gelegt worden. was bekanntlich eine althergebrachte Sitte ist. Von eben diesen Verwandten wurde später die Strafanzeige erstattet, daß die Witwe des Toten die Liebesgaben der angeheirateten Verwandtschaft nicht auf dem Grabe ihres Mannes dulden wolle und sie kurzerhand und in sträflicher Art entfernt«. Schon dieses Vörgehen labt ahnen, daß zwischen der Witwe gpd den Verwandten ihres Gatten unversöhnliche Feindschaft besteht und der Verlauf der Verhandlung war geeignet, diese Meinung zu verstärken. Es scheint, daß diese Ehe. die übrigens durchaus glücklich war. eine stürmische Vorgeschichte hatte. Die messerscharfen Bemerkungen der Zeugen gegeu-die.Angeklagte und umgekehrt, die während der Verhandlung fielen, bewiesm die gegenseitige Einstellung zur Genüge. Während die als Zeugen vernommenen Verwandten darzutun suchten. eS habe sich tatsächlich um einen Akt grabschänderischer Pietätlosigkeit gehandelt, erklärte die Angellagte, daß die Kränze und Blumen so verwelkt und die weißen Schleifen daran so ver
schmutzt waren, daß sie sie entfernen mußte, weil das Grab dadurch verunziert wurde. Sie habe daher mit gutem Recht diese häßlich aussehenden Blumenspende» entfernt. Bei solcher Sachlage erachtete der Gerichtshof den Schuldbeweis nicht als erbracht und sprach di« angellagte Witwe frei. rb.
Woher kam die Malaria auf Ceylon? Allein in dirsem Jahr find 30.000 Menschen in Ceylon an der Malaria gestorben, aber noch ständig steigt die Zahl. In bestimmten Bezirken haust die- Tropenfitber feit Menschengedenken. In den Reisfeldern haust der Tod. Und doch bebauen er die Singha» lesen und Tamilen von Generation zu Generation weiter. Ceylon ist stark übervölkert. Das hat zur Folge eine Produktion von Maffennahrungsmitteln. Dazu gehört ebenso wie in Indien und China von alt«rsh «r der Reis. Reis kultur ist aber ohne eine natürliche oder künstliche Versumpfung des Bodens undenkbar, weil diese Pflanze ein ausgesprochenes Sumpfgras ist.. Beim Anbau, wenn die Felder neu bewässert werden, steigt die Fieberkurve, und mit der Ernte sinkt sie. 27 Grad sind jene Temperatur, in der sich die Larven der Fiebermücke am wohlsten fühlen. In dem berüchttgten Distrikt von K o g a l l a. dem Hauptsitz der diesmaligen schrecklichen Epidemie, kann man ganze Wolken dieser schwirrenden Tiere sehen. Natürlich dürfte man ein solches Sumpftal, das schon sett Jahrhunderten das„Tal des Todesschattenr" genannt wird, nicht bewohnen. Und doch wohnen sie dort, denn Ceylon fft übervölkert. Der größte Teil der Bevölkerung ist, auch in„normalen" Zeiten, fieberkrank. Die Sterblichkeit ist auch sonst ungeheuer. Aber diesmal ist förmlich«in Höhepuntt erreicht. Jetzt liegen die Eingeborenen nicht nur zitternd vor Schüttelfrost und bewußtlos in ihren Hütten, von unaufhörlichen Anfällen geplagt, nein, sie brechen wt auf der Straße oder auf dem Feld zusauunen. Man sieht Geschöpfe, die ausgemergelt und abgezehrt sind, wie nach einer Hungersnot. Aber jetzt kommt das Schlimmste: Nichts vermag den religiösen Widerstand der Eingeborenen gegen die Arzneien der Weißen zu brechen. Die englischen Aerzte find hier machtlos. Die Priester verkünden ihren Gläubigen, daß sie heilige Gebote verletzen, wenn sie freiwillig in dir Krankenhäuser gehen, in denen man natürlich auf die Ka- strnvorschriften Rücksicht nehmen kann. Die Auswirkungen des Buddhismus und der Schiwa- Lehre sind also fast noch schlimmer als die Ucber- schwemmungen durch den Reisbau. Durch die Epidemie wird die Uebervölkerung etwas nachlassen. Denn die Malaria hinterläßt eine solche Erschöpfung und einen derartigen Lebensüberdruß, daß die Be- völkerungsziffer, von den Toten ganz abgesehen, sinken muß. Aber waS nützt es, wenn die Bevölkerungszahl von 3 Millionen auf 2,700.000 zurückgeht? Was Hilst daS gegen die„Täler des Todes- schattenS"? Dazu würde es riesiger. Flußreguliexun- gen und einer Entsumpfung Les Bezirkes von Kegalla bedürfen. Aber die Einwohner brauchen den Reis. Das ist ein circuluS vitiafus, und so kommen Kenner zu dem resignierten Schluß, daß diese Epidemie auf Ceylon nicht die letzte gewesen sein wird.
WM M Sozialpolitik
Herweg- und der Sozialismus Zu seinem 60. Todestag Von Hermann Wendel An der Spitze des„Volksstaat", des Haupt- blaties der Sozialdemokraten Eisenacher Richtung vom 11. April 1875, findet sich die Mitteilung: „In den letzten Tagen hat die deutsche Sozialdemokratie zwei Veteranen verloren: am 6. April starb in Paris Moritz Hetz und Tags darauf in Baden-Baden Georg Herweg h." Run konnte Herwegh mit Fug insofern ein Veteran der Sozialdemokratie genannt werden, als er, neben seinen poetischen Verdiensten um die Sache der arbeitenden Massen, mit dem Sozialismus stets in enger Fühlung gestanden hatte und eine Zeitlang eingeschriebenes Mitglied und Bevollmächtigter des„Allgemeinen Deutschen Arbeiterver eins " gewesen war. Aber heute lätzt sich die Frage, ob Herwegh jemals bewußter Sozialdemokrat war, nur dahin beantworten: Demokrat? Jak Sozialist? Nein! Als sich der werdende Dichter in seiner Vaterstadt Stuttgart , wo er am 31. Mai 1817 geboren war, geistig zu entfalten begann, war von den Vorläufern des modernen Sozialismus gerade Saint-Simon in den literarischen Salons in Mode, und manche Zelle in den„Gedichten eines Lebendigen" llingt an saintsimonistische Gedanken an: Priester nur wird's fürder geben Und kein Laie mehr auf Erden sein. Von selbst wurde er dann durch seine Schwärmerei für Börne zu Lamennais geführt, dessen„Worte des Glaubens" der Verfaffer der„Pariser Briefe" übersetzt hatte; in den kritischen Aufsätzen? die Ende der dreissiger Jahre in Wirths«Deutscher VolkShalle" erschienen, sprach sich Herwegh mehrfach mit warmer Anerkennung über den streitbaren Abbs auS, der das Feuer des Sozialismus mll dem Weihwasser des Christentums gar seltsam zu vermischen suchte, und eS lag nicht so fern von dessen Weltanschauung, wenn er„die laut ausgesprochene Reform unserer sozialen Missstände" für die moderne Religion erllärte. Aber an Sozialismus erinnerte in den„Gedichten eineS Lebendigen" auch nicht ein Sterbenswörtchen. Was dem zu- kunftshungrigen jungen Geschlecht des zum Selbst
bewusstsein erwachenden Bürgertums die Seele zutiefst bewegte, fand er hier in hinreissenden Weisen ausgesprochen; wie Sturmgeläut von hohem Glockenstuhl Nang der eherne Schall dieser Verse ins Land, aber«in nüchternes Ohr hörte heraus, dass sie allgemein begeisterten, weil sie sich in Allgemeinheiten verloren. Der Sehnsucht nach deut scher Einheit, dem Drang nach Weltmeer und Weltmarkt, der Hoffnung auf den neuen Preuhen- könig galten, ganz im Sinn des Liberalismus, einzelne dieser feurigen Hymnen, aber der Grundton, der sie mächtig durchzitterte, hiess Freiheü. Altar der Freiheit! Geist der Freiheit! Der Freiheit Oriflamme! Der Freiheit eine Gaffe! Freiheit, o du Felsenwort! so hallte eS ohne Unterlass, aber diese Freiheit Herweghs war ein so abstraktes, in reinen Gedankenhöhen schwebendes Wesen, dass sich jeder halbwegS fortschrittliche Liberale dieser Göttin huldigend neigen konnte. Im Mai des gleichen Jahres 1841, in dem die„Gedichte eines Lebendigen" aufflatterten, trug Wilheün Weitling, von Paris kommend, den Flammenbrand seiner urwüchsigen Handwerks- burschenkommunismuS unter die meist zugewanderten Arbetter der Schweiz ; er gründete hier eine Zweigniederlassung des„Bundes der Gerechten" und schuf im„Hilferuf der deutschen Jugend" eine Monatsschrift zur AuSsaat seiner Gedanken. Im Kreise dieser Genfer Kommunisten tat sich auch Herwegh mm und bekaimte sich, von den liberalen Reaktionären Zürichs dieserhalb angegriffen, mit Freimut zu diesem Verkehr. Aber 1842 lernte Herwegh auch zwei sehr entgegengesetzte Revolutionäre kennen, Karl Marx und Michael Ba kunin , von denen der Nährvater des modernen Anarchismus ralch weit grösseren Einfluß auf den leicht lenkbaren Dichter gewann als der Altmeister des wiffenschattlichen Sozialismus. Zwar der» Hefte sich die Bekanntschaft mit diesem während ikreS gemeinsamen Aufenthaltes in Paris zur Freundschaft, und wie Marx gern den steifleinenen Tadel irgend einer engen Spiesserserle von Herwegh im Sinne der Verse Gottfried Kel lers äbwehrte: Poeten sind's, so laß sie ungeschlagen! Denn solch«, weißt du, haben immer recht, so bekannte Herwegh noch Jahrzehnte später öffentlich, dass er Marx „trotz alles Gelläffs für unseren eminentesten Nationalökonomen" halte. Aber in die Gedankenwelt des kühnen Denkers drang der Dichter, dem weder Philosophie noch Volkswirtschaft vertraute Begriffe waren, niemals
tiefer ein. Dagegen behagte die anarchistische Oberflächlichkeit Bakunins dem schroffen Individualisten weit mehr. So wenig wie der Nüffe dachte er vorderhand an Organisationen und Aufbau, an„die posittven Mächte"„nach die sen", schrieb er 1848,„wollen wir in einem Jahrhundert fragen", sondern zunächst kam eS ihm darauf an,„der alten Welt und der alten Weltanschauung gründlich den Garaus" zu machen. In den vierziger Jahren in Paris hatte Heinrich Heine dem Gefährten in Apoll den jungen Lassalle mtt den Worten zugeführt: „Ich stelle Ihnen«inen neuen Mirabeau vor." Als sich die beiden 1860 wiedersahen, knüpfte sich schnell ein vertrautes Verhältnis zwischen dem Sturmrufer der bürgerlichen Revolution und dem Aufrüttler der arbeitenden Klaffe, das nicht aus Persönliches und Privates beschräntt blieb. Scharfen Blicks erkannte Lassalle die schwachen Seiten des Freundes, wenn er ihn vor„der Auflösung des Staatsbegriffs in den AtomiSmus der Individuen" warnte und ihm davon abriet,„immer ins Allgemeine hinein zu dichten". Aber schliesslich hiesse es den Beruf deS echten Dichters verkennen, der. einem inneren Muss gehorchend, in die Saiten greift, wenn der Agitator bei Her wegh in aller Form„schnellstens ein begeistertes und begeisterndes Gedicht auf das Auftreten des Arbeiterstandes" bestellte. Manches Hängens und Würgens bedurfte eS. bis der Dichter dem Drängen nachgab und Laffalle das„BundeSlied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" zusandte, das sich zudem allzu sehr an Strophen Shelleys anlehnte. Auch hatte der Oberst-Brigadier Rüstow Wohl recht, dass sich Herwegh nur durch„einen generösen Gedanken" habe bewegen laffen, aus dringendes Zureden Lassalles Bevollmächtigter des neugegründeten Vereins für die Schweiz zu Werden. Aber betonen durst« Herwegh , wie immer dem war, dass sein Herz für die Enterbten geschlagen habe. Mehr noch! Statt von den kühlen Köpfen und matten Deelen der Bourgeoisie di« Wcltenwende zu erwarten, setzte er seine Hoffnung auf die Massen, und insofern der Sozialismus ein Mittel war, sie aufzustürmen, begrüßte er auch ihn. 1847 ermahnte er die in Berlin weilende Lebensgefährtin, vor den Schöngeistern deS Varnhagenschen Kreises nicht zu viel gegen den Kommunismus zu sprechen:„Ihnen gegeniiber hat er ja«in unbestreitbares Recht, und auch für uns
ist er ein Element, ohne das man die Rechnung nicht machen und mit der alten Welt nicht fertig werden kann." In diesem Sinn nahm er im zweiten Teil der„Gedichte eines Lebendigen" in einer gelegentlichen Tente für die Kommunisten Partei: Spottet des BölkleinS nicht! ES hat ja den römischen Adler Eine geringere Zahl solcher Apostel gestürzt. Noch ungestümer als in dem„BundeSlied""am sein warmes Gefühl für Leid. Sehnsucht und Zorn der fronenden Massen in dem Gedicht„Die Arbeiter an ihre Brüder" zum Ausdruck, in dem eS wie unterirdisches Grollen dröhnte. Noch machtvoller bäumte sich, in einer toten Zeit seines Schaffens, die alte Kraft de» Dichter» auf, als er f873 der Märztage vor einem Vierteljqhrhuichert gedachte: Achtzehnhunderwierzig und acht. Als du geruht von der nächtlichen Schlacht, Waren es nicht Pr»l«tari«rleichen, Die du, Berlin , vor den zitternden, bleichen. Barhaupt grüßenden Cäsar gebracht, Achtzehnhunderwierzig und acht? Achtzehnhundertsiebzig und drei, Reich der Reichen, da stehst du, juchhei! Ab«r wir Armen, verkauft und verraten, Denken der Proletariertaten—>—• Noch sind nicht alle Märze vorbei. Achtzehnhundertsiebzig und drei! In diesen Versen klirrte e» noch einmal hell wie von dem kriegerischen Erz der„Gedichte eines Lebendigen" und schvtterte es dumpf wie von dem Maffenschritt der Arbeiterbataillone, den Laffalle einst prophetischen Ohre» vernommen hatte. Ob solcher reisiger Kamvstlänge war Her wegh sdit je den Schildhaltcrn überlebter Zustände bitter verhasst: im Hochverratsprozetz gegen Bebel und Liebknecht liess, um die ganze Gefährlichkeit der Angeklagten zu erweisen, der Staatsanwalt auch Herweghsche Gedichte aus dem„Volksstaat" verlesen, und als di« Büttel des Sozialistengesetzes auSzotzen,„den verfluchten Kerl, den Geist" zu fangen, verfielen als eines der ersten Büche« Her wegh »„Neue Gedichte" dem Verbot. Dafür lebt der Dichter im Herzen der Arbeiterflasse, die es ihm nickst nur dankt, dass er der Freiheit eine Gaffe zu brechen unternahm, sondern auch, dass er dem ewigen Frieden die Bahn zu weisen suchte und die Zeit verkündete, da e i n einig Feuerband alle Völker umschling.