Nr. 134
Samstag, 8. Juni 1935
15. Jahrgang
IENTRALORGAN DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK,
ERSCHEINT MIT AUSNAHME DIS MONTAG TÄGLICH FRÜH. Redaktion und Verwaltung präg»i., fochova<2. Telefon nm, HERAUSGEBER! SIEGFRIED TAUB . CHEFREDAKTEUR ! WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEURi DR. EMIL STRAUSS, PRAG .
Einzelpreis 70 Heller (•luchliaSlich 5 Haller Porto}
Wir sind nicht so boshaft, im Stile einer gewissen loyalen Propaganda zu behaupten, daß der Führer der Sudetendeutschen Partei mit der Kriegskasse in die Schweiz durchgebrannt sei, sondern registrieren: I» Bad Elster , einem reichsdeutschen Grenzort unweit von Asch , fuhr Donnerstag ein hochelegantes Achtzylinder-Auto vor. Bei der Kontrolle stellte ein tschechoslowakischer Finanzer fest, daß einer der Insassen einen höheren Markbetrag auSführen wollte, alS zulässig ist. Der Mann mußte sich legitimieren und siehe da— es war Konrad Henlein . Roch am Donnerstag abends wußte das Prager Blatt„A- 3 e t" über den Zwischenfall zu berichten. Die Redaktion dieser Zeitung stellte gleichzeitig fest, im Prager Pressequartier HenleinS sei über Anfrage erklärt worden, Henlein befinde sich nicht im Ausland, sondern auf Urlaub in der Tschecho slowakei . Freitag früh wußte di« dem gleichen Pressequartier nicht fernstehende„Bo- hemia" zu berichten, Henlein habe eine Urlaubsreife in die Schweiz angetreten. Eine ganz nette Geschichte. Sie entspricht ganz der Moral der Sudetendeutschen Partei. Würde ein sozialdemokratischer Führer aus einem Land mit 662.000 Arbeitslosen per Achtzylinder- »dmgen in die Schweiz aus Urlaub fahren, dann gäbe es eine neue Millionenauflage des Mugblat- leS:„Die Bonzen im Speck — d i e Arbeiter im Dreck." Doch das nur nebenbei. Politisch gesehen sieht die Reise keineswegs mysteriös aus. Henlein flieht vor seinen Wählern. Wir haben keinen Moment an einen politischen Ausflug nach Deutschland geglaubt, denn die regulären Verbindungen seiner Partei mit dem Dritten Reich funktionieren bekanntlich so gut, daß sich der Herr Führer persönlich garnichi zu strapezieren braucht, wenn er Weisungen aus Berlin entgegennehm-en will. Das ist vielmehr die berühmte Reise Henleins zum Völkerbund, von der die Flüsterpropaganda seiner Agitatoren schon seit Wochen zu erzählen wußte! Die Sudetendeutsche Partei ist heute die Gefangene ihres gigantischen Wahlschwindels. Sie hat unter der deutschen Bevölkerung Hoffnungen erweckt, die sie nicht erfüllen kann. Nach dem .Wahlsieg wollte die Partei Henleins eine neue Periode der,L o y a l i t ä t" einschalten, um sich in die Regierung hineinzuschwindeln. „Loyalität bis zur Demütigung"— das war die geheime Parole nach den Wahlen. Aber die aufgeputschten Anhänger machten den Schwindel nicht mehr mit. Henlein mutzte umstecken. Er durfte es nicht mehr wagen, seine an Masaryk und Malypetr gesandten Ergeben« hcitstelegramme in der„Rundschau" zu veröffentlichen. Die Wähler warteten auf den versprochenen Schritt beim Völkerbund. Und so Mußte Henlein in die Schweiz fahren. Der Völkerbund tagt zwar derzeit gar nicht. Henlein wird im Parlament der Nationen höchstens den Portier und einige Telefonfräulein antreffen, doch das tut nichts zur Sache. Es genügt, wenn der Führer in einem noblen eidgenössischen Hotel absteigt und einige Ansichtskarten schreibt — die Flüsterer werden behaupten, Henlein habe mit dem König von Siam oder mit dem Schah von Persien über den Anschluß verhandelt. Aus eine Lüge mehr oder weniger kommt es wahrlich nicht mehr an. Die Sndetendeutsche Partei erkanft sich mit diesem Schritt noch einige Wochen oder Monate Schonzeit vor der Enttäuschung ihrer Wählermassen. Wir wetten darauf: die Sudeten -Nazis werden in der nächsten Zeit behaupten, Henlein habe beim Völkerbund interveniert und irgendwelche Zusagen für die erhoffte Einverleibung ins Hitlerreich erhalten. Macht nichts. Der Zu
sammenbruch des ganzen Henleinschwindels wird um so furchtbarer sein! Auf Urlaub am Genfer See Unsere Auffassung hat verblüffend, schnell eine glänzende Bestätigung gefunden: Während das Pressequartier der Sudetendeutschen Partei Donnerstag abends noch erklärte, Henlein be- findc sich auf Urlaub innerhalb der Tschechoflowa- kei, melden Freitag abends die von ihr heraus- gegebenen„Sudetendeutschen Pressebriefe", Hen lein sei auf Urlaub an den Genfer See gefahren. So will sich der sudetendeutsche MessiaS das Bölkerbundgebäude wenigstens von außen anschauen, um den Gerüchtemachern neuen Stoff zu liefern. o- Henlein-Deputation bei Malypetr sichert anständiges parlamentarisches Verhalten zu Wir hatten bereits in der Vorwoche gemeldet, daß die Gerüchte von einem Empfang der Vertreter Henleins durch den Ministerpräsidenten noch im Laufe der Verhandlungen über die Regierungsbildung falsch sind und mst der Partei über die Frage des Eintrittes in die Regierung nicht verhandelt werden wird, daß jedoch nach ^d e r K a b i n e t t S b i l d u n g das Ansuchen von Oppositionsparteien nach einer Unterredung mit dem Ministerpräsidenten nach den sonst üblichen Richtlinien behandelt werden dürste. Dieser letztere Fall ist, wie das„Prävo Lidu" meldet, nunmehr eingetreten.
Ministerpräsident und Außenminister: Pierre Laval ,(Senator, Unabhängig) Staatsminister: H e r r i» t(Radikaler), Marin(Rechte) und F l a n d i n(Republikanische Linke) Justiz: Lton B t r a d(Senator der Mitte) Inneres: Pagano«(Radikaler) Krieg: Fabry(Zentrumsrepublikaner) Kriegsmarine: P i t t r i(Republ. Linke) Flugwesen: General Dena in Handel: Georges Bonnet (Radikaler) Finanzen: Marcel Regnier(Radikaler) Nationale Erziehung: MarcombeS (Radikaler) Orffentliche Arbeiten: Laurent Eynar (Radikal« Linke) Kolonien: Rolli«(Zentr.-Republikaner) Handelsmarine: Mario R o« st a«(Republikanischer Sozialist, Senawr) Arbeit: Frossard(Unabhängig, früher Sozialist) Pensionen: M a« p o l i(Radikaler) Landwirtschaft: C a t h a l a(Rad. Linke) Gesundheitswesen: Ernest L a f o n t(Unabhängig, früher Neosozialist) Post: Mandel(Unabhängig) Unterstaatssekretär im Ministerprifidium: Camil B l a i s o(Rechte) Roch in der Nacht hat Laval die Mitglieder der neuen Regierung dem Präsidenten der Republik vorgestrllt. Der radikale Klub teilte um 23 Uhr Laval mit, daß der gesamte Klub mit Ausnahme einiger Mitglieder beschlossen habe, Laval das Bertrauen z« votieren, und ihm eine be- schränktc Bollmacht unter der Bedingung zu erteilen, daß sämtliche führenden Ministerien außer dem Außenministerium, das er selbst behalten könne, durch Radikale be- setzt werden, und zwar vor allem die Ministerien des Innern, der Finanzen, deS Handels und der Bolkserziehung. Laval hat dieser Bedingung der Radikalen entsprochen.
Nachdem der Ministerpräsident sich zunächst in einer Aussprache mit Dr. H o d a c über die Absichten des Närodnt sjednoceni im neuen Parlament informiert hatte, kam es am Freitag auch zu einer Unterredung MalypetrS mit Vertretern der Henleinpartei. Henlein selbst hat offenbar Absichtlich v o r- her seine«Urlaub an getreten, da für den Empfang von vornherein nur ein Repräsentant der Parlaments- fraktion der Partei, nicht aber der außerhalb des Parlaments gebliebene„Führer" in Betracht kam. Die Henleindelegation führte denn auch der neue Abgeordnete Frank, als der. Vorsitzende. des gemeinsamen Abgeordneten- und Senatorenflubs der Henleinpartei, weitere Delegierte waren der wandlungsfähige Herr Dr. Rosche und Henleins Organisationschef Dr. Sebekowski. Das„Prävo Lidu" veröffentlicht über diesen Empfang folgende Informationen: „Die Unterredung des Vorsitzenden der Regierung mit diesen drei Vertretern der Henleinpartei hatte rein informativen Charakter.' Der Ministerpräsident wünschte zu wissen, wie es in demokratischen Staaten Brauch ist, wie sich diese starke oppositionelle Fraktion im Parlament verhalten wird, welche Ziele sie sich stellt und was für eine Taktik sie wählen wird. Man berichtet uns, daß di« Delegation der Henlein - Partei den Vorsitzenden der Regierung sehr nachdrücklich versichert hat, daß er sich auf die Diszi- plinierthett, das anständige Verhalten und die unbedingte Ordnung verlassen könne, di« die Abgeordneten und Senatoren in beiden Kammern befolgen werden. Sie versicherten, daß sie keine Ausschreitungen begehen und auf parlamentarische Art vorgehen werden. Die Henlein -Partei wird offenbar beweisen wollen, daß ihre Leute „salonfähig" sind."
Das neue Kabinett stellte sich abends um halb 7 Uhr der Kammer vor. Die Regierungserklärung war nur kurz. Es wird betont, daß di« Regierung gebildet wurde, um die Spekulation zu bekämpfen und den Franc zu verteidigen. Der Stand der Finanzen sei die einzige Drohung, die auf dem Franc laste. Der einzige Artikel des Ermächtigungsgesetzes, den die Regierung eingebracht hat, lautet: „Nm eine Entwertung der Währung zu vermeide«, ermächtigen Senat und Kammer die Regier««-, bis zum 31. Ottaber 1835 ans dem Ber - »rdnungSweg« alle Maßnahmen mtt Gesetzeskraft zur Bekämpfung der Spekulation und Mr Verteidigung des Franc» M ergreifen. Diese Brr- Ordnungen, die»am Ministerrat beschlossen werden, werden vor dem 1. Jänner 1838 dem Parlament zur Ratifizierung unterbreitet." Bei der ersten Abstimmung, zu der Laval die Vertrauensfrage gestellt hatte» wurde die Vertagung der eingebrachten Jntrrpellattonen von der Kammer mit 412 gegen 137 Stimmen beschlossen. Dann ttat eine Sitzungspause rin, in der der Finanzausschuß die Ermächtigungsvorlage beriet. Der Finanzausschuß der Kammer hat nach Anhörung des Ministerpräsidenten Laval und des FinanzministrrS Regnier die Ermäch- ttgung für die Regiernng mit 19 gegen 14 Stimmen angenommen. Die Mehrzahl der Mitglieder der radikalen Partei stimmte dagegen. Dieses SttmmenverhältniS scheint nichtS destoweniger dafür zu zeugen, daß dir Regierung «ine Mehrheit von etwa 50 Stimmen erhalten wird. Boulsson wieder Kammerpräsident Zu Beginn der Nachtsitzung wählte die Kammer Bouisson nach seinem kurze« Zwischenspiel alS Ministerpräsident witt>erum mit 285 von 444 Stimmen zum Präsidenten der Kammer,
Oeiientlidie Arbeiten — rasdier durdiiUhren! Nach den Feststellungen deS Ministeriums für soziale Fürsorge betrug nach den vorläufigen Feststellungen die Anzahl der arbeitslosen ArbritSbewerbrr Ende Mai 662.735. EndeAprfl hat diese Zahl 734.550 betragen, eS ist als» im Laufe deS Monates Mai die Zahl der Arbeitslosen um 71.815, daS ist um 9.8 Prozent, gesunken. Die Heuer verzeichnete größte Arbeitslosigkeit weist der Monat Feber auf, da die Zahl der Arbeitslosen 833.194 betrug, so daß seither die Zahl der Arbeitslosen um 170.459, oder um fast 20 Pro. zent, zurückgegangen ist. * Auf den ersten Anblick schauen diese Feststellungen W Ministeriums für soziale Fürsorge nicht ungünsttg aus und tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit seit dem Februar im Rückgang begriffen. Ein etwas anderes Bild gewinnt man allerdings, wenn man die Entwicklung der Arbeitslosigkeit im vorigen Frühjahr mit der in den heurigen Saisonmonaten vergleicht. Die höchste Arbeitslosenziffer weist im Jahre 1934 gleichfalls der Feber auf, und zwar mit 844.284, in welchem Monat die Zahl der Arbeitslosen um 11.090 größer war als im Feber 1935. Bon Feber bis Mai 1934 ist nun die Zahl der Arbeitslosen von 844.284 auf 624.850, das ist also um 219.434 oder um etwas mehr als 27 Prozent gesunken, vom Feber bis Mai 1935 jedoch von 833.194 nur auf 662.735, das ist, wie bereits oben vermerkt, um 170.495 oder um nur 20 Prozent. Das Sinken der Arbeitslosigkeit geht dem- nach Heuer langsamer vor sich als voriges Jahr: Im Mai 1935 ist die Zahl der Arbeitslosen um 37.885 größer als im Mai des Vorjahres. Eine nähere Betrachtung der wirtschaftlichen Lage zeigt uns die Ursachen dieser Entwicklung auf und ist uns daher auch ein Hinweis, mtt welchen Mitteln dieser nicht befriedigenden Lage abgeholfen werden könnte. Wenn man die einzelnen Produktionszweige einer Untersuchung unterwirst, so findet man, daß in der industriellen Urproduktion, aber insbesondere in der Schwerindustrie die Verhältnisse etwas günstiger liegen. Im April 1934 wurden im Steinkohlenbergbau 756.000 Tonnen gefördert, im April 1935 816.000 Tonnen, in der Braunkohlenproduktton in den gleichen Monaten 1,182.000 und 1,219.000 Tonnen. Mag man die Mehrproduktion an Kohle noch auf die kältere Witterung des heurigen Frühjahrs zurückführen, so zeigt der Aufstieg in der Erzeugung von Koks, Eisen und Stahl, daß es sich doch um eine gewisse Konjunktur in diesen Industriezweigen handelt. In den genannten Vergleichsmonaten des heurigen und vorigen Jahres wurden Koks 107.000, bzw. 116.000 Tonnen erzeugt, Eisen 55.000 und 57.000 Tonnen und Stahl 91.000 und 94.000 Tonnen. Sicherlich steht das im Zusammenhang mit der Rüstungsindustrie, die infolge der wachsenden außenpolitischen Spannungen in Europa zu tun hat. Dagegen können wir, und das interessiert unS hier besonders, bei den Konsumtionsmitteln, und in der Exportindustrie keine Besserung feststellen. Noch immer schlecht geht es der Porzellan-, Glas- und Textilindustrie, an welchen Jndustrieztödigen die deutschen Arbeiter dieses Landes ein besonderes Interesse haben. Um welch: Milliardenwerte es sich da handelt, ist daraus ersichtlich, daß die Textilindustrie in den Jahren der Konjunktur etwa für sieben Milliarden XL Waren jährlich ausgeführt hat, im Jahre 1934 aber nur für 1% Milliarden XL. Wohl zeigt die Gesamtausfuhr aus der CSR. eine geringe Besserung auf, in den ersten vier Monaten des Jahres 1934 wurden Waren für rund zwei Milliarden XL aus- geführt, in der gleichen Zeit 1935 im Werte, von rund 2.2 Milliarden XL. Aber diese Besserung reicht nicht aus, um die Zahl der Arbeiter in unseren Fabriken zu vermehren. Die Rüstungsindustrie befindet sich zumeist im tschechischen Gebiete und ihre Konjunftur kommt den deutschen Arbeitern nicht zugute. Ein Umstand, der uns den Weg zeigt, wie man unseren Arbeitslosen im deutschen Gebiete Beschäftigung verschaffen könnte, ist die Tatsache, daß die Bausaison außerordentlich schwach ist. Noch im Monat Mai hat
Laval vor der Kammer Mehrheit von 50 Stimmen wahrscheinlich Paris.(Havas.) Dem Ministerpräsidenten Laval ist es nm 2.35 Uhr früh gelungen, die Regiernng in folgender Zusammensetzung zu bilden: