Nr. 139Samstag, 15. Juni 193515. JahrgangEinzelpreis 70 Heller(einrchlieBlich$ Hellw Porto)IENTRALORGANDER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEM ARBEITERPARTEIIN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIKERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRÜH. Redaktion um» Verwaltung präg xn., fochova a. telefon mHERAUSGEBERi SIEGFRIED TAUB. CHEFREDAKTEUR, WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEURi DR. EMIL STRAUSS, PRAG.Das Sdiladitfcld van WittenbergVertnsAinitsinaiiOicr des SystemsSt Tote oder 500?Wittenberg.(DRV) Die Anzahl der bisher bei de« AufrLu-mungsarbeite« an der Llnglücksstätte insgesamt geborgenen Tote« beträgt«ach Angabe der Betriebsleitung 45. Die Verlustliste ist jedoch noch nicht ab»geschlossen.An die Delegiertenzum Parteitagund zur FrauenreichskonferenzEs wird den Delegierten zur Kenntnis gebracht, daß die Fronen- Reichskonferenz am Donnerstag, dem 20. Juni,«m9 Uhr vormittags im kleinen D o p z-Saal in Brün«, Lajanskyplatz 3, stattfindet.Die Berhandlnngen des Parteitagesbeginnen am Donnerstag, dem 20. Juni,um 19 Uhr(7 Uhr nachmittags). Di«Delegierten werden gebeten, sich so zeitgerechteinzufinden, damit unbedingt präzise 7 Uhr mitden Berhandlnngen des Parteitages begonnenwerden kann.Jeder Delegierte zur Frauen-Reichskonferenz und zum Parteitag muß sich mit einem Mandat der delegierenden Organisationen und mitseinem Parteimitgliedsbuche ausweisen.*Anforderungen von Wohnungen sindan das Parteisekretariat in Brün«, FranzösischeStraße 24/26, zu richten.An alle ParteiorganisationenDen Organisationen wird zur Kenntnis gebracht, daß alle für daS ReichSparteisrkretariatbestimmten Zuschriften vom Mittwoch, dem 19.Juni, ab an die Adresse deS Genossen Sieg,fried Taub, Brünn, Dopzsaal, L«.janskhplah 3, zu richten sind. Ab Sonntag,den 23. Jmri, können dann alle Zuschriften wiederunter der Adresse des Prager Sekretariates abgehen.MMWWMWWWWWMWnMWEW^EMWIM>WWWAbschied von MoskauStürmische Ovationen auf dem BahnhofMoskau. Außenminister Dr. Benes ist» wiebereits kurz gemeldet wurde, am Donnerstag ausMoskau über Charkow und Kiew nach Pragabgereist. Bis zut Grenze begleiteten den Ministerder tschechoslowakische Gesandte in MoskauP a v l ü mit Gemahlin und der Chef des Protokolls deS Kommissariats für Aeußeres Barkow.Auf dem Bahnhofe, der mit den tschechoslowakischen und sowjetrussischen Flaggen geschmücktwar, wurde dem scheidenden Aussenminister einfeierlicher und steundschaftlicher Abschied bereitet.Zur Verabschiedung hatten sich eingefunden: derVolkskommissär für Auswärtiges Litwinowund Gemahlin, der Stellvertreter Litwinows,Krestinski, der Vorstand der westlichen Abteilung im Aussenkommissariat Stern, der Vertreter des Kommandanten der Moskauer GarnisonGorbaäew, der Vorsitzende der MoskauerSowjets Bulganin, der Vorsitzende des russischen Verbandes für Fremdenbewegung A r o«s c w, weiters das gesamte Personal der tschechoslowakischen Gesandtschaft, der französische Botschafter A l p h a« d, der rumänische GesandteC i u n t u, die verantwortlichen Mitarbeiter deSAussenkommissariates und des Verteidigungskommissariates, Vertreter der Presse, des öffentlichenLebens usw. In dem Augenblicke, als sich der Zugin Bewegung setzte, bereitete daS den Bahnstegfüllende zahlreiche Publikum Dr. Benes stürmische O v at i o n e n.Mussolinis LosikRadikalste Lösung in Abessinien angekündigtParis. Von dem römischen BerichterstatterdeS„Excelsior" befragt, erklärt« der italienischeMinisterpräsident Mussolini:„Die Entwicklungder abessinischen Affären^ wird einen ganzlogischen Abs ch l u h erfahren. Italienbesitzt absolute Freiheit in seinen Entscheidungen.Unsere Grenzen jn Ost-Afrika sind st ä n bigb e d r o h t(l), und diese Gefahr steigt immermehr an. Es ist demnach auch unsere Pflicht, daSProblem der italienisch-abessinischen Beziehungenauf die offenste, aber auch radikalste Art einerLösung zuzuführen."Die Behörden bewahren strengstesStillschweigen über die Ursache derfurchtbaren Sprengschlagkatastrophe und sämtlichetelephonis chen Unterredungenwerden behördlicherseits streng kontrolliert. Freitag morgens wurden ganz plötzlichalle telephonischen Gespräche der ausländischen Presselorrespondenten unterbrochen, obwohl die Journalisten ihrenRedaktionen bloss die amtlichen Zahlen der Totenund Verletzten bekänntgaben. Zwei französische I o u r n a l i st e n, die sich im Kraftwagenan den Ort des Unglücks begeben wollten, wurden durch die G e st a p o angehalten und erst nachzwei Stunden in Freiheit gesettz.Jn Wittenberg sieht man in allen Stvatzenvernagelte Schaufenster und beschädigte Dächer.Am stärksten haben natürlich die der Unglücksstätte benachbarten Dörfer und Arbeitersiedlungen'Schaden erlitten, vor allem Reinsdorf selbst undBraunsdorf. Hier sind überall viele Dächer abgedeckt und viele Mauern und Giebel abgetragen.Auch an Mauern und Giebeln sind die Wirkungender. Explosion zu sehen. Die Bewohner hattenvielfach in der ersten Aufregung ihre Bettest ausden Wohnungen geholt und imFreienkam-piert.Jn den Strassen von Wittenberg sieht manjetzt viele Menschen mit Verbänden. Es handelt sich um die Leichtverletzten, dieschon aus den Krankenhäusern entlassen werdenkonnten.Das ganze Gebiet ist d u r ch Feldjäger abgesperrt.Einer der Arbeiter, die bei der Explosionskatastrophe in Reinsdorf verwundet wurden, erklärte dem Berichterstatter des Reuterbureaus,dass der Ort, an dem sich die Explosion ereignete,das Bild schrecklicher Verwüstung und Vernichtungbiete. Eine ganze Reihe von Gebäuden wurdendurch die Explosion zerschmettert. Einige Arbeiterverliehen gerade die Arbeit, als sich die Explosion ereignet«. Niemand, der in dem betroffenenGebäude weilte, vermochte der Vernichtung zuentgehen. Die Rettungsarbeiten für die Verwundeten setzten i« den ersten Nachmittagsstunden ein, unsere Arbeit aber, sagte der Arbeiter,ist allerdings sehr erschwert durch'die Flammenund die Gefahr neuer Exlosionen.Der Berichterstatter des R eu t e r büre a u s schätzt die Zahl der Toten bei der Ex-plosionskatastrophe auf 500 bis 1500. Mehrals sieben Stunden hindurch trugen die Rettungsmannschaften die Opfer auf einen improvisiertenVerbandsplatz. Die Stätte des Unglücks ist durcheinen Polizeikordon ahgesperrt. Die emporschlagenden Flammen sind auf weite, Entfernung hinzu sehen. Den Angehörigen der Opferwurde der Z u t r i t t zu der Unglücksstättenicht gestattet und es spielten sich Ber-z w e i f u n g s s z e n c n ab, als die F r a u e nund Kinder der Getöteten von den Gebäudenfortgewiesen wurden, in denen die Toten lagen.Heldenmütige Solidaritätder ArbeiterReinSdorf. Wie der Sonderberichterstatterdes DRB von der Unglücksstätte am Freitag mittag meldet, steigt immer noch Rauch von denschwelenden Trümmern des zerstörten Betriebsteiles auf. Nur den Rettungsmannschaften wurdedas Vordringen gegen den Katastrophenherd gestattet. Zu wirren Knäueln ineinandergetriebeneEisenträger, geborstene Kessel, grosse Lachen vonSäuren bezeichnen die Stelle, an der kaum 24Stmttien vorher noch Tätige am Werk waren.Die Absperrungen wurden auch in den Vormit-tagsstunden noch streng aufrechterhalten, weilman von vornherein durch etwa erneut auftretende Explosionen Opfer vermeiden wollte. Auf denTrümmern sieht man die Rettungsmannschaften,Sanitäter und Werkangehörige damit beschäftigt,ihre toten Arbeitskameraden zu bergen. Ueberallsieht man die über das Gelände verteiltenHydranten mit Schläuchen versehen.Todesmutiger Opfersinn und wagemutige Einsatzbereitschaft für die Arbeitskameraden zeichneten überhaupt die ganze Rettungsaktion aus.Eine besondere Gefahr bildeten im Augenblickder Katastrophe einige grosse Behälter mitSprengstoffen. Unter Einsetzung ihres Lebensdrangen mehrere Betriebsangehörige vor, umihrem Arbeitskameraden, der dort ständige Wachehält, zu bergen. Auf mehrmaliges Rufen erschien der Arbeiter wohlbehalten und erklärte,nicht eher vom Platze zu weichen, bis die gesamteAnlage vollkommen unter Wasser gesetzt fei. DiePflichterfüllung hat eine Ausbreitung und eineVermehrung der Zahl der Opfer verhindert,Vie Goebbels arbeitetPar i S.„Paris Midi" und„Jntransinge-ant" kündigen an, daß ihre Berliner Korrespondenten, die gestern abend nach Wittenberge reisten, um sich an Ort und Stelle über den Umfangder ExPlosionSkatastrophe in der westphSlisch-anhaltischen Sprengstoffabrik z« unterrichten, beiihrem Eintreffen in dieser Stadt von der Staatspolizei frstgenommen wurden, obwohl ihre AuS-weiSpapiere vollkommen in Ordnung waren. Diebeiden französischen Journalisten wurden unterBedeckung von vier Gendarmen zum Polizeidistriktschef nach Biefferitz gebracht, wo sie nacheiner halben Stunde wieder in Freiheit gesetztwurden. Die beiden Korrespondenten kehrten nachWittenberg zurück, konnten aber ihre Berichtetelephonisch nicht durchgeben, weil sie gerade imAugenblick, als sie dieZahlderOpferder Katastrophe melden wollten, regelmäßig unterbrochenwurden.niemand glaubtan die offiziellen ZiffernDer Sonderberichterstatter des HavaS«Bureaus, der Wittenberg und Reindorfbesuchte, meldet:Die geheime Staatspolizei hat den BesuchdeS Wittenberger Krankenhauses verboten.Die Angestellten des Spitals lehnten es auch ab,irgendwelche Erklärungen abzugebrn. Besondersden Photographen unter den Zeiwngsleuten begegnete man mit großem Mißtrauen. Auf derUnglückstätte selbst durfte nicht photographiertwerden. Auf dringende Borstellungrn der ausländischen Journalisten wurden diese schließlich ineinigen Polizeiautomobilen durch verschiedene, vonder Katastrophe betroffene Gebiete geführt. WaSdie Journalisten hier an grauenhaften Zerstörungen sahen, bewirkte, daß sie den offiziellen Angaben über die Größe der Katastrophe ziemlichskeptisch aufnahmen. Zum Beispiel wurdeeine Fra«, die auf einem Kartoffelacker arbeitete,der sich mehr als einen Kilometer weit von denWerken entfernt befindet, durch ei« schweresEisenstück, das durch die Lust gesaust kam, getötet.ISIS. 1925, 1935Das dritte Unglück seit dem Krieg.Das Reinsdorfer Werk, dass nach dem Versailler Vertrag unter Aufsicht der Alliierten-Kommission als einziges in beschränktem Umfange bestehen geblieben war, hat diesmal dasdritte Unglück über sich ergehen lassen müssen. Bereits 1915 und 1925 haben schwere Explosionenstattgefunden, die in beiden Fällen etwa 50 Menschenleben forderten.ProDcvorstclhmgdes neuen WeltkriegsAm selben Tag, da der grosse Tendenzprozessgegen die Leiter des deutschen Rundfunks zu einemkläglichen Ende kam, hat das Hitlersystem nocheine zwette Schlacht verloren. Während aber dieSchlacht im Gerichtssaal nur einen Verlust anEhre für die Ankläger brachte, bezahlt das deutsche Volk die Katastrophe von Reinsdorf mit Hunderten Menschenleben und dem namenlosen Unglück von Tausenden, die Gatten, Vater, Sohn,Ernährer verloren haben.Die offiziellen Berichte suchen die Zahl derToten und Schwerverletzten möglichst niedrig anzugeben. Sie sprechen von etwa 50 Todesopfern,von 70 bis 80 Schwerverletzten. Aber schon dieerste, noch unzensurierte Meldung hatte von wenigstens 100 Toten gesprochen und die englischenund amerikanischen Korrespondenten schätzen nachden Aussagen der Umwohner die Zahl der Totenauf einig« hundert bis tausend. Bei einer Belegschaft von rund 13.000 Arbeitern in der grösstendeutschen Munitionsfabrik würde es nicht wunder-nehmen, wenn tatsächlich 1000 Menschen dasOpfer der Katastrophe geworden wären» derenSchauplatz durch viele Stunden eine Hölle und denHilfsmannschaften unzugänglich war. Ein grosserGebäudekomplex ist völlig zerstört worden, näherals bis auf 500 Meter vermochte noch Stundennach der ersten Explosion niemand an das Flammenmeer heranzukommen, aus dem immer neueDetonationen ertönten. Jn dem acht Kilometerentfernten Wittenberg sind die Strassen mit.Glasscherben besät, Häuser geborsten, alle Fensterscheiben gesprungen oder zertrümmert. An diesenamtlich zugelassenen Daten mag man den Umfang des Unglücks ermessen. Dass sich im Augenblick d«r Explosion, also um drei Uhr nachmittags,nur 700 Mann im Werk befunden hätten, ist eineauf den ersten Blick erkennbare Lüge desPropagandaministeriums, dassofort nach dem Ereignis in Aktion getreten ist.Welch furchtbare Entlarvung übrigens der erbärmlichen Funktion solcher Amtsstelle, dass sie imZusammenhang mit einer Katastrophe amtiertund genannt wird, bei der ein menschlich fühlendes Wesen doch an alles andere als an„Propaganda" denken würde IEs hat sich sehr bald gezeigt, daß die raschaufgebotenen SA« und SS-Formationen weniger zur Rettung der Opfer eingesetzt wurden, alszur Ueberwachung des Schlachtfeldes, von demnicht nur Fremde und Berichterstatter, sondernauch die Angehörigen der elendiglich verbrannten Arbeiter mit Pistole und Karabiner ferngehalten wurden. Nimmt man zu den offensichtlichenBerheimljchungs- und Fälschungstendenzen derGoebbelschen Lügenfabrik noch die-t- eingestandene— Tatsache, dass alle Krankenhäuser derUmgebung sogleich überfüllt waren und zahlloseVerwundete rn Privatquartieren untergebrachtwerden mussten, so wird man weniger an den englischen Meldungen von 1000 Toten als an denBerliner von den„nur" 52 Opfern zweifeln.Zeigt sich so das System Goebbels-Hitler bei der Vertuschung des Unglücks, in derBrutalität gegen die Hinterbliebenen, in dem Zynismus gegen die Opfer von seiner widerlichstenSette, so darf nicht vergessen werden, daß es auchan dem Unglück überhaupt einen gewaltigen Schuldanteil hat.Die Sprengstoffwerke in Reinsdorf habenseit dem Beginn der deutschen Aufrüstung inüberstürztem Tempo gearbeitet. Dem System können ja nicht rasch genug Unmassen von Bomben,Granaten und Giftgasen^ erzeugt werden. Demdeutschen Volk wurde ja eingeredet, das es durch14 Jahre maßlos unglücklich gewesen, sei/ weil esnicht so rüsten durfte, wie die Aktionäre der Rüstungsfirmen es wünschten. Es galt also nachzuholen, was versäumt war, es gatt die„deutscheEhre" durch die serienweise Produktion von Mordwerkzeugen wieder herzustellen. Opfer dieseslächerlichen Ehrbegriffs sind die Hunderte deutscherArbeiter, die im Flammengrab von Reinsdorf zugrunde gingen.Die Verantwortung für das Unglück fälltdem System aber vor allem deshalb zur Last,weil nur Versäumnis der unerläss-r