«r. 188 Mittwoch, 14. August 1935 Seite S tfudeiendeutsdier Zeitspielet Fürsorgeminister Ing. Neöas im deutschen Industriegebiet Genosse Ing. N e k a s hat schon vor Antritt seines Ministeramtes zu jenen tschechischen Abgeordneten gehört, die den Verhältnissen im deutschen Gebiet ein ernstes Jntersse entgegengebracht haben Fürsorgeminister Genosse Ing. J. N e 8 a s spricht zu den Reichenberger Arbeitern und er war einer der ganz wenigen, die mit den um ihre nackte Existenz ringenden Arbeitern unmittelbar in Fühlung traten und einen Ausweg aus der fast hoffnungslosen Situation suchten. Als erster tschechischer Minister, dessen Reffort für die deutschen Arbeiter und Arbeitslosen eine lebenswichtige Bedeutung hat, suchte Genosse N e t a 3 jetzt wiederum deutsche Industriezentren auf und ist es ihm besonders hoch anzurechnen, daß dies schon wenige Tage nach der Uebernahme des Für- sorgeministeriums geschah. Sonntag weilte Genosse N e c a s in Reichen berg und Bodenbach unter den deutschen Arbeitern. Er nahm— wie wir bereits berichtet haben— an den sozialdemokratischen Kundgebungen teil und besprach mit den Vertretern der lokalen Sclbstver- lvaltungskörper die wirtschaftlichen und sozialen K»gen dieser Gebiet«. In seiner Antwort an die Vertreter der Stadt Reichenberg sagte der Für- sorgeminifter u. a.: Sämtliche Aktionen, die die Wiederbelebung des Wirtschaftslebens im Reichenberger Bezirke betreffen, werden vom Ministerium für soziale Fürsorge und der ganzen Regierung unterstützt werden. Wir wissen aber alle, daß hier nur eines helfen kann: Die Wiederbelebung der Textil- und Glasindustrie; alles andere sind nur Hilfs- und Notaktionen. Die Lösung dieser Frage hängt nicht allein von der Führung der Handelspolitik bei uns ab, auch die Entwicklung der Weltverhältniffe ist nicht außer Acht zu lassen. Als unrichtig und bösartig mutz jedoch die Verbreitung von Nachrichten bezeichnet werden, als würden die maßgebenden Faktoren absichtlich die Industrie in den überwiegend von deutscher Bevölkerung besiedelten Gebieten Nordböhmens zugrunde gehen lassen. Durch unglüchselige Umstände ist gerade in diesen Gebieten die Textil- u. Glasindustrie konzentriert. Diese Industriezweige sind nicht nur bei uns, sondern überall anderswo in Mitleidenschaft gezogen. Die Tendenz, die den Regierungsfaktoren Novdböhmen schadende Absichten deshalb zuschrieb, weil dieses von Deutschen besiedelt ist, ist bösartig und unsinnig, schon aus dem Grunde, weil es dort überall starke tschechische Minderheiten gibt und die tschechischen Arbeiter unter der Krise ebenso zu leiden haben, wie ihre arbeitslosen Kameraden deutscher Nation. Im Verlaufe der weiteren Beratungen äußerte sich Genosse Ing. N e k a s zu den Problemen der Gewinnung von Absatzgebieten, der Währung und der Ueberindustrialisierung, die in irgendeiner Form gelöst werden müssen. Er bemerkte, daß sich in dieser Richtung doch schon einiges geändert hat. Das Gctreidemonopol ist ein wichtiges Instrument unserer Handelspolitik geworden, welches u. a. eine bessere Verwendung der Ueberschüsse aus Jugoslawien ermöglicht. Durch die Aenderung m den Beziehungen au r-msserrntzland ist unsere Ausfuhr dorthin'ech«--m»l größer geworden. Auch sonst ist eine EntNr'<nw zum Besseren vorhanden. Es wird, auch em»•orm von Exportprämien gefunden werden müK-ir". Diese Probleu»» beschäftigen stark die ganze Regierung. Cs ist zu hoffen, daß es der Initiative der sozialdemokratischen Minister gelingen wird, auf diese Arbeiten beschleunigend cinzuwir- ken. Vie Henleinpartei und Deutschland Die„Lidov ö Noviny" stellen neuerdings fest, daß die Henleinpartei noch nicht klar sagte, wie sie sich zum Regime in Hitlers Dritten Reich stellt. Der Führer der Partei, Henlein , wich seinerzeit dieser Stellungnahme aus. Seitdem aber ist er über Deutschland in die Schweiz und dann nach England gefahren. Henlein hat, wie ein Abgeordneter seiner Partei erklärte, in der Schweiz Informationen über unsere Verhältnisse erteilt und reiste sicher mit der gleichen Absicht nach England. Man muß sich daher wundern, daß der Mann, der das Ausland über unsere Verhältnisse informieren will, nicht genügend darüber informiert ist, was in Deutschland vorgeht, so daß er darüber sein Urteil abgeben könnte. Unter Henleins Mitarbeitern gibt es genügend Leute, die Deutsch land aus eigener Erfahrung kennen. Einige seiner Mitarbeiter studierten und lebten in Deutschland . Und nicht nur das: Einige Leute aus der Umgebung Henleins waren in derletzten Feit in, Deutschland . Wenn also Henlein über Deutschland so wenig informiert ist, daß er als Parteiführer nicht seinen Standpunkt darlegen kann, so würden sicherlich z. B. die Herren K. H. Frank , Neuwirth, Kollner und andere— aus eigener Erfahrung und durch ihre letzten Reisen— sagen können, wie das heutige Hitler- deutschland aussieht. Natürlich eilt die Henleinpartei nicht damit, ihren Menschen zu sagen, warum ihre Hauptfunktionäre nach Deutschland reisen. In der Partei des„einfachen Mannes aus dem Volke" existiert anscheinend eine„hohe Politik", von der die gewöhnlichen Parteiangehörigen nichts wissen sollen. Die Henleinpartei weicht davor zurück, ihr Verhältnis zu Deutschland klar zu präzisieren, weil sie damit auch klar zum Ausdruck bringen müßte, wie sie sich zu dem Regime stellt, nach welchem das heutige Deutschland aufgebaut ist. Die Henleinpartei weicht diesem klaren Standpunkt auch aus innerpolitischen Gründen aus: Sie hat genügend Wähler, die schon heute sehen, daß Hitlerdeutsch- land der Arbeiterschaft und den kleinen Leuten nicht geholfen hat, und ebenso gibt es unter den Henleinanhängern genug solche, die kritiklose Verehrer des Dritten Reiches sind. Deshalb weicht die Henleinpartei allem aus, was ein klares Wort über Deutschland und sein Regime bedeuten würde. Hiller zerstört die Sozialgesetzgebung Die Kampagne gegen die Arbeitslosen Die Nationalsozialisten setzen ihr Zer- störungswcrk an der von der Sozialdemokratie erkämpften sozialpolitischen Gesetzgebung fort. Da Hitler den Befehl ausgegeben hat, daß bis Ende 1936 Deutschland von Arbeitslosen frei sein müsse, und Ley als Leiter der Deutschen Arbeitsfront seinem Führer schon viel friiher die Erreichung dieses Zieles melden möchte, so werden jetzt alle Anstrengungen darauf gerichtet, di« Arbeitslosenziffer weiter um jede« Preis zum Sinken zu bringen. Obwohl schon bisher zu diesem Zweck die Arbeits- losenversicherung erheblich verschlechtert worden ist — es sind bekanntlich ganze Berufe aus ihr ausgeschieden worden, es wurden die unter 21 Jahre alten Personen ausgeschlossen und auch alle diejenigen ohne Rücksicht auf das Alter den Wohlfahrtsämtern zugewiesen, die unverheiratet als Söhne oder Töchter in der Familie leben und deren Vater oder ein anderes Familienmitglied Einkommen oder Unterstützung bezieht,— so reichten diese Methoden zwar aus, um das Heer der anerkannten und noch mehr der nicht anerkannten Wohlfahrtserwerbslosen anschwellen zu lassen, aber sie reichten nicht aus, die Arbeitslosigkeit völlig zum Verschwinden zu bringen. Also müssen neue reaktionäre Maßnahmen durchgeführt werden. Ueber die Richtung, in der sie geplant sind, gibt der Direktor des Arbeitsamtes München , Dr. Adam, in einem Artikel in der„Sozialen Praxis" Aufschluß. Er behauptet, daß unter den zwei Millionen Erwerbslosen, die Ende Juli noch gemeldet waren, minksstens eine halbe Million Personen mit- geschleppt würden, die für die Arbeitsvermittlung überhaupt nicht mehr in Frage käinen. Er fordert, daß diese halbe Million abgeschoben wird. Um das zu erreichen, verlangt er, daß als erstes Opfer die Bestimmung des 8 88 des Arbeitslosen- Versicherungsgesetzes fallen müsse, die in ihrem wichtigsten Teil besagt, daß wenn ein Arbeitneh- wichtigsten Teil besagt, daß, wenn ein Arbeitneh- losmelduNg während sechs Monaten in einer Versicherungspflichtigen Beschäftigung gestanden hat, nur dann als arbeitsunfähig erklärt werden darf, wenn sich sein körperlicher oder geistiger Zustand nach dem Ausscheiden aus der Beschäftigung so verändert hat, daß er dadurch weniger als ein Drittel erwerbsfähig geworden ist. Fällt dieser Absatz, dann ist der Willkür der Arbeitsämter tatsächlich freier Lauf gegeben «nd es können mit einem Schlag hunderttan- fende Arbeitslose ans der Versicherung«nd von den Arbeitsämtern ausgeschlossen werden. Aus dem Artikel erfährt man übrigens, daß die Arbeitsämter auch jetzt schon ohne Gesetze oder Verordnungen, sondern nur auf dem Verwaltungswege, häufig ganze Berufe und krisenunterstützte Arbeitslose einfach aus der Krisenfürsorge hinauswerfen und denWohl- fahrtsämternüberweisen. Der Münchner Arbeitsamts-Direktor schlägt neben der weiteren Verstümmelung des Gesetzes außerdem vor, daß alle Angestellten über 60 Jahre und auch die Arbeiter» die JNvalidenunterstützung beziehen, aus der Arbeitslosen-Versicherung ausgcschieden werden. Natürlich verbindet er damit nicht den Vorschlag einer Erhöhung der Invalidenrente. Es kann kein Zweifel sein, daß bei einem derartig rigorosen Vorgehen die Arbeitslos enz if- fer rapid zurückgehen muß. Aber eben nur die Ziffer, nicht die Arbeitslosigkeit! Darf man sich also nicht Wundern, wenn selbst bei nichtfortschreitender Besserung der Wirtschaftslage in Deutschland weiter ein. angebliches Sinken der Arbeitslosigkeit gemeldet wird, so gilt es gleichzeitig, die Aufmerksamkeit immer wieder auf das ungeheuerliche Zerstörungswerk der Nationalsozialisten, sowie auf die Brutalität hinzulenken, mit der sie die Opfer der kapitalistischen Wirtschaftskrise in das tiefste Elend hineinstoßen und dabei der Welt vortäuschen wollen, sie hätten Deutschland von der Geißel der Massenarbeitslosigkeit befreit. Diese Verpflichtung haben die Freunde einer wahren Sozialpolitik in unserem Staate um so mehr, als die gesamte Hen- leinpresse diese sozialreaktionären Umtriebe der reichsdeutschen Nationalsozialisten beharrlich totschweigt. Selbstbetrachtung eteft Blinden W o diese Selbstbetrachtung angsstellt wird und wer sie anstellt, sei zunächst verschwiegen, auch von welchem Staat die Rede ist, gestatte man uns, vorerst zu unterschlagen. .Als Diktatur... bekämpft er jedes Eigenleben des Individuums, jede individualistische Regung und maßt sich die Herrschaft über alle Gebiete der menschlichen Betätigung an. Es gibt grundsätzlich keine Sphäre, in die sich der Mensch zurück« ziehen kann, die vor dem Einbruch des Staates gesichert ist. Der... Staat ist feinem Anspruch nach, aber auch danach, wie er diesen Anspruch in der Wirklichkeit durchsetzt, der totale Staat in Reinkultur. Die Atmosphäre, in der der junge Mensch aufwächst, wird vollkommen von den ununterbrochenen Ausstrahlungen dieses totalen Staates bcherrscht. Auf Schritt und Tritt stößt der Schuljunge, der junge Arbeiter, der Student auf Losungen und Prollamattonen, in' denen der Staat feine jeweiligen Forderungen stellt..." Der Verfasser, der ein militärisches Thema behandelt, findet keinen Gefallen daran, sondern fragt besorgt: .... wie denn in einem System, das radikal die Persönlichkeit verneint, Raum sein soll für.die Erziehung einer starken, verantwortungsfreudigen Führer schicht, die wir als eine der tragenden Säulen des Wehrgebäudes zu betrachten gewohnt sind..." „Der zweite Einwand.-, ist der, daß diese Dauerpropaganda des... Staates schließlich diegegenteiligeWirkungauf die... Jugend haben kann, daß er sie nämlich ermüdest, sie dem Staats- und damit auch dem Wehrgedanken gegenüber gleichgültig oder gar abtrünnig macht... Es fehlt... nicht an deutlichen Anzeichen dafür, daß das allzu starke Maß der staatlichen Propaganda nicht mehr antreibend, sondern allmählich abstumpfeyd zu wirken beginnt..." Natürlich wird niemand an ein anderes Laich denken, als Deutschland , wo das haargenau alles so ist. Die Zeitung könnte eine englische oder sonstig« demokratische.sein, der Verfasser ein einsichtsvoller Liberaler. Aber nein— es ist von Rußland und dem dortigen Militarismus die Rede, und diese vernichtende Kritik am totalen Staat ist zu losen(bitte setzen Sie sich!), im„Völkischen Beobachter", in zwei Wehrbeilagen des Monats Juli! Unsere Kundgebungen vom Sonntag Grenztreffen in Bodenbach : Ankunft eines Sonderzuges Arbeitertag in Reichenberg : Genosse Heinrich Müller spricht
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15 (14.8.1935) 188
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