Nr. 222
Sonntag, 22. Srptemsier 1935
Seite 3
„Sen Ostland woll’o wir ziehen..." In den Stunden, in denen der italie nische Fascismus am Werl ist, die Welt von Afrika her in Brand zu setzen, droht der deutsche Fascismus den Kriegsbrand im Nordosten Europas zu entfachen. Hitlers Nürnberger Drohungen gegen Litauen waren nicht mitzzu- verstehen und die alarmierenden Berichte über deutsche Truppenkonzentrationen in Ostpreußen zeigen, daß Hitlers Kriegsdrohungen keineswegs auf lange Friste berechnet sind. Nicht umsonst gröhlen die Söldner der deut schen Reaktion seit je als Lieblingslied:„Gen Ostland woll'n wir ziehen!" Dort an der Memel , dem östlichen Grenzfluß des Reiches, liegt ja das politische und geistige Geburtsland des braunen Fascismus. Noch als die russische»« Grenzprovinzen Estland, Livland und Kurland zum Zarenreich gehörten, unterhielten die deutschsprachigen „baltischen Barone" dieser Provinzen, deren Peitschenherrschaft über das verarmte Bauernvolk sprichwörtlich geworden ist, die besten Beziehungen zu den adchigen Junkern des Deutschen Reiches. Sie waren es auch, die sich nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches und der Gründung der Sowjetrepublik an die Spitze des sowjetfeindlichen Bürgerkrieges im Baltikum stellten und den Kampf gegen das verhaßte Räteregime noch längst nach dem offiziellen Waffenstillstand und der Auflösung der deutschen Armee als Bandenkrieg unter Awalow-Bermondt fortsetzten. Mit dem Ende des bewaffneten Krieges war der Kampf der preußischen Reaktion um das Baltikum nicht beendet. Zwei große Ziele gab es und gibt eS dort für die ostelbischen Barone zu erreichen: den berühmten„Siedlungsraum im Osten"(der in vieler Hinsicht Mussolinis Traum vom„SiedlungSraum im Süden" entspricht) und vor allem— die für die fernere östliche Eroberungspolitik unentbehrliche militärische Grenze gegen Sowjetrußland. Alle Träume von der unermeßlichen deut schen Zukunftskolonie im russischen Raum, alle Träume von einem reaktionären Kreuzzug gegen das gehaßte Bolschewikenland stehen und fallen mit dieser Grenze. Es ist kein Zufall, daß die „altenBaltikumkämpfer" die erstenreaktionären Bandenzellen bildeten, aus denen später die SS und SA und die ganze braune Terrorarmee des Nationalsozialismus hecvorging. Schon in den aflerersten Fahren der Weimarer Republik , als das deutsche Bolk sich noch allzublind in ewiger Freiheit glaubte, entstanden aus den Baltikumkämpfern die erzreaktionären Vereinigungen des„Kur-, Liv- und Est- ländischen StanunadelS" und der„Ekbala", zu deren tätigsten Funktionären Herr Alfred Rose n b e r g'gehörte, der spätere„weltanschauliche" Mentor des Nationalsozialismus. Keiner der neu gegründeten Randstaaten Estland , Lettland und Litauen war der deutschen irredentistischen Agitation so sehr ausgesetzt, wie das direkt an daS Reich grenzende Litauen . Selbst ul« der allgemeine Bandenkrieg um das Baltikum schon zum Stillstand gekommen war, tickte an den Ufern der Memel noch immer ein unterirdischer Guerillakampf, der auch von den interalliierten Truppen, die in das gefährdete Gebiet zur Aufrechterhaltung der Ordnung geschickt worden waren, anfangs nicht völlig unterdrückt werden konnte. Erst als nach dreijährigen Kämpfen am 15. Jänner 1923 litauische Truppen wieder einmal den deutschsprachigen Grenzstreifen des Landes bis an die Memel besetzt hatten, griff der Völ kerbund entscheidend ein. Im Memel st atut wurde festgelegt, daß jener Grenzstreifen von nun ab litauisches Mandatgebiet unter Kontra Ile der Signatarstaaten des Völkerbundes sei. Das Me melland erhielt— obwohl der litauischen Regierung in Kowno unterstellt— seine eigne vom Völkerbund garantierte Verfassung und seinen eigenen in mancher Hinsicht autonomen Landtag. Aber die deutsche Reaktion dachte gar nicht daran, mit dieser Lösung auf ihre Ostziele zu verzichten. Zwar versuchte die deutsche Republik den Kampf zu liguidieren und eine Zeitlang schien es, als sollte das gelingen, besonders da Litauen nach dem polnischen Raubzug nach der eigentlichen litauischen Hauptstadt Wilna Anlehnungen Polens großen Gegner Deutschland suchte. Die Totengräber der deutschen Republik, die ostpreußischen Stammväter des HitlertumS aber sind auch in dieser Zeit von ihrer imperialistischen Ostpolitik gegen das Memelland nicht abgewichen. Und mit dem Machtantritt des Nationalsozialismus fielen die letzten Hemmnisse. Das Schema der deutschen Politik in Litauen gleicht aufs Haar jenem in unserem Sudetengebiet. Was das Sudetengebiet für unsere Repu blik , ist das Memelland für Litauen . Der litauische„Henlei n", ein Mann namens Dr. Schreiber, erhielt reichliche Geldmittel, um dort eine nationalsozialistische Bewegung großzuziehen. Der Erfolg dieser schrankenlosen Demagogie blieb nicht aus: so wie es in Oester reich geschehen ist, war den„vaterländischen" litauischen Fascisten die politische Gefahr infolge der Nazihetze ein willkommener Anlaß, die„autoritäre" Regierung auszurufen und unter dem Vorwand des Antinazikampfes das parlamentarische Regime in Litauen zu stürzen, jede politische Freiheit zu unterdrücken, die Sozialdemokratie aufzulösen und ihre Mitglieder zu verfolgen. Ein sehr wesentlicher Um
stand aber unterscheidet die Entwicklung in Litauen und in Oesterreich : die Verfassung des Memellandes, die vom Völkerbund garantiert ist, entzog sich dem Zugriff der„autoritären" Regierung in Kowno , so daß längst nach der Auflösung des litauischen Staatsparlamentes der litauische Landtag nach wie vor besteht und eben jetzt für den 29. September seine Wahlen ausgeschrieben hat. Es scheint nun, daß gerade dieser Wahlkampf Hitler den Anlaß zu einem entscheidenden, in seiner Auswirkung unabsehbaren Schritt gegen Litauen bieten soll. Die litauische Regierung hatte im Feber des vorigen Jahres die getarnte nationalsozialistis che Partei des Memellandes, die„sozialistische Volksgemeinschaft", aufgelöst und gleichzeitig durch Regierungsverordnung allen Mitgliedern, die länger als sechs Monate bei der Partei eingeschrieben waren, das Wahlrecht entzogen. Der offen nationalsozialistische Präsident des Landtages, Dr. Schreiber, dessen Verbindungen mit der Nazizentrale in Berlin unzweifelhaft nachgewiesen wurden, wurde abgesetzt, zu seinem Nachfolger der litauisch„vaterländische" Herr R e i s g y s ernannt. Für die nun bevorstehenden Wahlen hat die nationalsozialistische memelländische„Volksgemeinschaft", deren Wahlaufruf von allen deutschen Parteien mit Aus
nahme der deutschen sozialdemokratischen Partei unterzeichnet ist, als Spitzenkandidaten wieder jenen Dr. Schreiber aufgestellt. Daraufhin holte die litauische Regierung zum Gegenstoß aus: sie ließ die Staatsbürgerschaft Dr. Schreibers über« prüfen; mit dem Ergebnis, daß seine Staats- bürge r s chaft für ungültig erklärt und ihm damit das passive Wahlrecht entzogen wurde. Nun besteht gewiß kein Grund, di« Berfas- sungsbrüche der litauischen autoritären Fascisten- regierung zu verteidigen. Geradezu grotesk aber nimmt es sich aus, wenn ausgerechnet Herr Hit ler sich in Nürnberg über die„Einschränkung der parlamentarischen Freiheit und des Wahlrechtes im Memelland " ereifert. In Wahrheit liegen die Dinge so, daß der Sturz der Demokratie in Li tauen , ganz so wie in Oesterreich , die verzweifelten Mittel ständig neuen Verfaffungsbruches erst notwendig gemacht hat. Unter dem Borwand, die Nazigefahr in Memelland zu bekämpfen, hat der litauische Fascismus sie erst recht genährt, so sehr genährt, daß der deutsche Ostkrieg nun zum Greifen nahe vor der Türe zu stehen scheint. Wo immer der Fascismus an der Macht ist, im Süden oder Norden, in mächtigen Reichen oder lleinen Staaten— überall treibt er mit schauerlicher Notwendigkeit zum Krieg. Vom Nil bis an die Memel raffeln drohend die Waffen...
Herr Schuschnigg bekommt Angst
„Er hat sich nie einseitig an Im österreichischen Regierungslager herrscht wegen der weltpolitischen Entwicklung steigende Bestürzung. Maßgebend« Regie- rungsbenmte, dir in den letzten Tagen ein« auffallende Beflissenheit an den Tag legen, „Staatsfeinde" mit Jnformatitionen zu versehen, berichten von einer wahren B e r- zweiflungsstimmung der klerikv- fascistischen Führer, di« durch da« a f r i k a- nischeAbenteuer ihre« Kolonialherrn die letzten Grundlagen ihrer Macht inS Wanken geraten sehen. Bollkomm«n planlos bemühen sich dir Herren um hastige Verhandlungen mit denNa»iS, dren Vertreter in den letzten vier- zehn Tagen im Bundeskanzleramt ein- und aus- gehen. Besonders der Kreis um den Landeshauptmann von Oberösterreich , Gleißnr r, ist entschlossen, alles auf diese letzte Kart« zu setzen, und seine Macht anstatt durch den unsicheren Kolonialherren Mussolini durch den— wie sie meine«— vorläufig noch sichereren Kolonialherrn Hitler zu ersetzen. Ein anderer Teil der auf- geschreckton„ Führer" garnituron sucht eilig(aber wie man hört, nicht gerade erfolgreich) Anschluß an die bisher abgesägten demokratischen Bertreter der alten christlichsozialen Partei, die wenig Lust zeigen, sich an daS außenpolitisch wansiende Regime zu ketten. Gleichzeitig werden nach allen Seiten diplomatische Fühler ausgestreckt, ob man nicht„schlimmstenfalls" bei irgendwelchen anderen Mächten»der Mächtegruppen Unterschlupf finden könnte. Außerordentlich bezeichnend ist in diesem Zusammenhang ei» Wiener Bericht d«S gestrigen « 4 Standgerichtsanzeigen wegen der Salzburger Höllenmaschinen Salzburg . Die Staatspolizei veröffentlicht einen amtlichen Bericht über den Versuch von Massenattentaten auf führende Salzburger Persönlichkeiten, der Mitttooch in Linz aufgedeckt wurde. Unter den Adressaten befand sich der Salzburger ErzbischofWaitz, der ehemalige sozialdemokratische Abgeordnete A b r a m und der Salzburger Vizebürgermeister Döbler. Die Polizei hat die Urheber des Attentates ausgeforscht, von denen fünf verhaftet worden sind. Die Hauptschuldigen, der Tischlermeister Johann
lallen angelehnt" „Prager Mittag", der sich, wie mau weiß, sehr guter Beziehungen»um Preffereferat des österreichischen Bundeskanzleramtes erfreut. DaS Blatt schreibt: „In Oesterreich verfolgt«an di« britisch« Flottenkonzentratioa im Mittelmeer mit st e i- geudrrLrsorgnis... Für Oesterreich er. gäbe sich au» dies« Entwicklung dir Notwendigkeit, sich stärker alS bisher»ach West europa zu orientieren, was sür dir Regierung Schuschnigg kein Frontwechsel wäre, weil sie sich nie einseitig au Italien angr- lehut und zum Beispiel di« Beziehungen zu Prag i«m«r sorgfältig gepflegt hat...." ES ist sehr bezeichnend für die Stimmung im Bundeskanzleramt, daß man jetzt bereits so offen das AbrückenvomitalienischenPro- tektorat vorbereitet und Sicherungen auf anderer Seit« sucht. Di« Herren werden sich aber wohl auch flar machen müssen, daß die Tschechoslowakei ein demokratischer, von den sozialdemokratischen Parteien mitregierter Staat ist und nicht das fasristisch« Italien . DaS heißt, daß di«„sorgfältige Pflege" der österreichischen Beziehungen zu Prag , die nicht nur auS politischen, sondern auch auS wirtschaftlichen Gründen für beide Teil« sehr zu begrüßen wäre, wesentliche Veränderungen in den innrrpolitischen Methoden Oesterreichs vorauSsetzt, da nur ein« konsolidierte, durch die Zustimmung der VolkSmassen legitimierte Regierung, die Pflege solcher Beziehungen fruchtbar erscheinen läßt. t« Hochwarter auS LeoberÄwrf und der Schustergehilfe Johann Danninger auS Gmunden , sind jedoch nach Deutschland entflohen. Gegen die Schuldigen wurde die Anzeige beim Standgericht erstattet. Schuschnigg rüstet Im Blitztempo Wiener-Neustadt . Die während des Wellkrieges von der Firma Daimler errichtete Flugzeugfabrik wurde an die Flughafen-Betriebsgesellschaft weiterverpachtet, die in den Fabriksanlagen„Sport- und BerkehrSfllMeuge" bauen, aber auch für den HeereSbedars arbeiten wird.
Handelsvertragsverhandlungen mit Oesterreich ergebnislos Delegation abgereist Prag . Die Handelspolitischen Verhandlungen mit Oesterreich wurden vorälufig been- d e t. Während der Verhandlungen verwiesen die Bertreter der tschechoslowakischen Nationqjbank auf die Entwicklung der Zahlungsbilanz in den verflossenen acht Monaten und hoben insbesondere die Tatsache hervor, daß die Zahlungsüberweisungen„nach Oe st erreich sich im heurigen Jahr bedeutend erhöht haben. Die österreichische Delegation verließ gestern Prag. „christlicher" Terror gegen eine totkranke Frau Wir lesen in der„Arbeiterzeitung": Genossin B a i k a aus Graz wurde vom Grazer Landes« gericht zu fünf Jahren schweren Kerkers verurteilt, weil bei ihr ein Flugblatt gefunden worden ist. Die Genossin ist schwer krebskrank. Sie mußte deshalb aus der Untersuchungshaft in das Spital überführt werden und konnte sich auch in der Gerichtsverhandlung nur sitzend verantworten. Trotz ihrem schweren Leiden wurde sie aus dem Spital in den Kerker überführt. Sie hatte sich nämlich auch in und nach der Gerichtsverhandlung standhaft geweigert, anzugeben, von wem sie das Flugblatt erhalten hatte; deshalb hat man die schwerkranke Frau in den Kerker gesetzt! All das im christlichen Staat im Zeichen der Ouadrage- simo anno!
Hoch nicht alle Möglichkeiten erschöpft? Paris . Die römischen Korrespondenten der Pariser Abendblätter bemerken zu dem amtlichen Bericht über die Sitzung des italienischen Ministerrates, daß noch nicht alle Möglichkeiten erschöpft seien.„Temps" erklärt aber jetzt schon, daß diese Hoffnungen nur sehr gering seien. Die sozialistische Presse fordert von der franzö sischen Regierung, in Genf ein schärferes Vorgehen einzuschlagen und Sanktionen gegen Italien in Anwendung zu bringen. Auch die Radikalen sind für die Geltendmachung der Paktbestimmungen, doch ist ihr Standpunkt zurückhaltender. Dagegen stellt sich ein Teil der konservativen Presse auf die Seite Italiens . Kriegsvorbereitungen In Aegypten Kairo. Unter Berufung auf zuständige militärische Stellen beschäftigen sich die ägyptischen Blätter mit dem Verteidigungsplan an der Westgrenze des Landes. Dieser Plan sieht die Räumung der Wüste bis Amerieh, 30 Kilometer vor Alexandria unter gleichzeitiger Zerstörung der darüber hinausführenden Eisenbahn st recke vor. In Amerieh seien kriegsmäßige Vorbereitungen und die Aufftapelung von Meterial im Gange.
Vor dem Prozeß gegen die Marseiller Mordkompllcen Paris . Der Kassationshof hat den Einwand der drei Kroaten , die wegen Mitschuld an der Ermordung des Königs Alexander in Marseille angeflagt sind, verworfen und bestimmt, daß sie im H e rb st e vor daS Schwurgericht in Aix-en-Provence kommen werden. „Tag des Friedens" der französischen Einheitsfront Pari-. Die Linksfront, welche die politischen Parteien und Organisationen von den Kommunisten bis einschließlich zum linken Flügel der Radikalen zusammenfaßt, trifft Vorbereitungen, damit der 11. November— der Jahrestag des W affen still st andes— von den Linksparteien mit Maffenfeiern als ,.F e i e r t a g de» Frie- d e n s" in Verbindung mit„Kundgebungen gegen den Fascismus" begangen werde. Vor wichtigen ErgSnzungswahlen In Frankreich Paris . Am 20. Oktober finden inFrank- reich die Ergänzungswahlen zum Senat statt, und zwar werden 107 Senatoren gewähll, das ist annähernd ein Drittel des Senates. Den Wahlen kommt als Spiegelbild der polttischen Bolksstimmung große Bedeutung zu. Man rechnet allgemein mit einem bedeutenden Stimmengewinn der Linken.
Spanische Opposition fordert Heuwahlen Madrid. Präsident Zamora Hält mit den Vertretern der einzelnen Parteien Besprechungen ab. Die Oppositionsparteien beharren auf ihrer Forderung nach Neuwahlen, während die Regierungsparteien die Bildung eines dem Kabinett Lerroux ähnlichen Ministeriums empfehlen.
I