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1ENTRALORGAN DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK

ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRÜH. REDAKTION UND VERWALTUNG PRAG XII., FOCHOVA 62. TELEFON 53077. HERAUSGEBER SIEGFRIED TAUB . CHEFREDAKTEUR : WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR: DR. EMIL STRAUSS. PRAG «

15. Jahrgang

Samstag, 26. Oktober 1935

Nr. 250

Mussolini sucht eine Rückzugslinie Die Fräse der nächsten Tage: Neue Offensive In Abessinien oder neue Verhandlungen Rom -Paris -London Englische Wahlen im Vordergrund Aus den vorliegenden widersprechenden Meldungen der Depeschen­agenturen, die von den SchauplLtzen der internationalen Politik kommen, scheint hervorzugehen, daß Muffolini entweder eine Rückzugslinie sucht oder aus taktischen Gründen einRückzngsmanövervortäuscht. Soviel haben die letzten Wochen gezeigt, daß Mussolini nicht nur Kriegsreden halten, sonder« auch Friedenstauben steigen laßen kann. Zuletzt drohte er: Sanktionen das ist der europäische Krieg" und nun beantwortet er die angedrohten wirtschaftlichen und finanziellen Strafmaß­nahmen der Völkerbundmächte mit der Zurückziehung einer Division von Lhbien.Als versöhnliche Geste gegenüber England wird es gewer­tet, daß Italien diese Entlastung der äghptischen Grenze an keineBedin- g u n g geknüpft hat. So sollte diese Maßnahme osfenbar ei« günstigeres Ter- rein für neue diplomatische Verhandlungen schaffen. Zm Augenblicke steht der Perspektive eines politischen Arrangements über die abessinische Frage die Ankündigung gegenüber, daß die Italiener am 28. Oktober eine g r o ß- angelegte Offensive gegen das innere Abessinien unternehmen werden.

Herriot für energische Sanktionen Paris . Der Kongreß der Radikalen Partei befaßte sich am Freitag mit der auswärtigen Po­litik. Gegen Schluß der Debatte sprach der Par­teivorsitzende Staatsminister H e r r i o t. Er betonte, daß die radikale Partei sich auf dem Kongreß in Toulouse vor drei Jahren als erste freundschaftlich an Italien wandte. Die gleichen Gefühle hege sie auch heute zum italienischen Volk. Herriot rekapitulierte dann die Vermittler­rolle Frankreichs , das Italien die freundschaft­lichsten und sichersten Ratschläge gegeben habe. Niemand könne und dürfe es Frankreich aber ver­bieten, daß es sich auch gegen die Störung eines kleinen Volkes wandte, das seine Unabhängig­keit verteidigt.(Lebhafter Beifall.) Herriot begründete hierauf die Notwen­digkeit und Pflicht einer freundschaftlichen Zu­sammenarbeit mit Großbritannien . Die beiden Staate» ergänzten sich gegenseitig und ihr Einvernehmen sei nicht nur ein verstandesmä­ßiges, sondern auch ein gefühlsmäßi­ge S. Heute handelt es sich nicht darum, ries Herriot, ob Frankreich italophil oder italophob, anglophil oder anglophob ist. Das Problein ist einfacher: Ist Frankreich für oder ge­gen den Völkerbund. Ihre Ant­wort ist für mich nicht zweifelhaft. Aber eS ist notwendig, die Oeffentlichkeit zu überzeu­gen, daß, eine Oeffentlichkeit, die einige durch die Behauptung verwirren wollen, daß' der Völkerbund enttäuscht habe oder gescheitert sei. Das ist nicht wahr! £ Frankreich ist an die Bestimmungen des Völkerbundpaktes gebunden.Es verlangt dies seine Pflicht und auch seine Ehre(Lebhafter Beifall.) Die Pflicht, die Ehre, das sind Begriffe, für die ich lieber begraben sein will, als sie zu brechen. Ich sage Euch feierlich: Ihr würdet in Zukunft eine furchtbare Brrantivortung auf Euch nehmen, wenn Ihr Italien behilflich wäret, oder diejenigen abspenstig machtet, die den Willen haben, daß Sanktionen gegen jeden Angriff beschleu­nigt verwirklicht werden. ' Der ganze Saal akklamierte Herriot lebhaft bei diesem Abschluß seiner Rede. Der Kongreß beschloß, Herriots Rede als Broschüre drucken zu lassen.-

Oeringer Effekt eines Bombenangriffes Harrar. (Reuter.) Vier italienische Flug­zeuge bombardierten Gabiadarre. Sie tvgrfen dabei 200 Bomben ab, durch die sieben abessinische Soldaten verwundet wurden.

Prag.(Amtlich.) In der am Freitag nachmittags stattgefundenen Sitzung des Minister­totes wurde der Bericht des Finanzministers über den Fortgang der Arbeiten an dem Staatsvor­anschlag für das Jahr 1936 zur Kenntnis ge­nommen. Der Grsamtbedarf wird annähernd 8.030,000.000 betragen. Das Budget wird mit einem geringeren Ueberschuß auf der Ein- nohmenseite im Gleichgewichte sein. Der defini­tive Budgetvoranschlag wird im Ministerrate am 29. Oktober genehmigt werden. * Der Minister des Aeußeren erstattete Bericht über die weitere Entwicklung der internationalen Lage und über die Verhandlungen betreffend den ilalienisch-abessinischen Konflikt sowie über den Sinn des zwischen Frankreich und England ge­troffenen Abkommens. Der Bericht wurde zur Kenntnis genommen. Die Regierung befaßte sich dann mit der Frage der Durchführung der wei­teren Empfehlungen der' Sanktionskonferenz und legte die Richtlinien für das weitere Vorgehen fest. Auf legislativem Gebiete wurden die Re- gierungsverordnungsentwürfe über die Abgaben für Amtshandlungen in Verwaltungsangelegen­heiten im Rahmen der Durchführungsverordnung

8n italienischer Versuchsballon Der offiziöse Journalist Virginia Gaya veröffentlicht imGiornale d' Italia" einen Vor­schlag» in dem man die Friedemevedingungen Mussolinis zu erkennen glaubt. Er verlangt in der Hauptsache: 1. Entwaffnung Abessiniens, das nur eine kleine ständige Armee behalten soll, und inter­nationale Kontrolle über das ganze Gebiet, ' das Italien als das eigentliche Abessinien an­sieht, zum Unterschied von den autzenliegenden Provinzen. 2. Die Besetzung der ganzen Provinz Tigre durch Italien . 3. Abessinien soll einen Hafen an der erythräischen Küste, also unter der Kontrolle Italiens erhalten. Bon Ogaden und Harrar schweigt Gaya. Meldungen aus Rom wollen wissen, daß bereits über die Abtretung der abessinischen Außenprovinzen Tigre und Ogaden(Muffolini sagte zwar:ich bin kein Wüstensammler") ver­handelt wird. Viel heikler ist aber hie Frage der Provinzen Harrar und A u s s a, welche Französisch- und Britisch-Somali-Land vorgela­gert sind. England und Frankreich haben kein Interesse daran, diese Kolonien durch italienische Streitkräfte umfassen zu lassen.

zu dem neuen Gesetz über die Fahrt mit Motor­fahrzeugen, über die Verlängerung der Gültigkeit der vorüb ergehe nd en Herabsetzung der Zollsätze auf Fett und über die Regelung des Zolltarifs bei der OrangeNeinfuhr sowie über die Ergänzung des damit zusammenhängenden Taratarifes genehmigt. Bewilligt wurden die erforderlichen Mittel zur Fortsetzung der staatlichen Ernährungsaktion für Arbeitslose und Kurzarbeiter«nd der M i k ch a k t i o n für die Kinder arbeitsloser und beschränkt arbeitender Familienernäher für eine weitere Periode. Ausgesprochen wurde die Zustimmung zu der Neuregelung des Vorgehens des Ministeriums für soziale Fürsorge bei der Gewährung von Bei­trägen aus dem Titel der produktiven Arbeits­losenfürsorge für die in Prag unternommenen Notstandsarbeiten., Zur Kenntnis genommen wurden die Be­richte über die Verhandlungen in den Minister­komitees für politische und wirtschaftliche Fragen. Schließlich wurde die Tagesordnung der laufen­den administrativen, wirtschaftlichen und per­sonalen Angelegenheiten durchberaten.

England vor neuer Entscheidung .In der letzten Unterhausdebatte wurde von den Sprechern des britischen Kabinetts erflärt, daß eine friedliche Vereinbarung nicht nur Ita­ lien , sondern auch den Völkerbund und Abessinien zufriedenstellen müsse. Diese Rechtslage erklärt auch die Londoner Zurückhal­tung gegenüber den italienischen Sondierungen. Weitere Meldungen aus London besagen, daß England zwar dem Aufschub der wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen beigepflichtet hat, die fe st gesetzte Frist hiefür aber aus Wahlgründen nicht verlängern werde. Außenminister Hoare wird in Genf be­reits am 31. Oktober zugegen sein. Mussolini scheint aber gerade dem Inkraft­treten der Sanktionen mit großer Besorgnis ent­gegenzusehen. Nach dem Pariser Linksblatt L'Oeuvre" wäre Italien , um den Sanktionen zu entrinnen, außer d.er Zurückziehung von Trup­pen aus Lybien noch zu folgenden Zugeständ­nissen bereit: 1. Italien wird die Feindseligkei­ten in Abessinien bis zu dem Zeitpunkte, an welchem Großbritannien seine Antwort erteilen wird, ein st ekle y. 2. Bis zu diesem Zeitpunkte wird Italien auch keine neuen Truppen nach Afrika entsenden. Diese Vorschläge werden, falls sie von England als annehmbar aner­kannt werden, dem dreizehngliedrigen Aus­schüsse des Völkerbundrates unterbreitet werden. England wird aber schwerlich ein verfrühtes Uebereinkommen treffen. Derzeit ist seine ganze Aufmerksamkeit auf den Wahlkampf konzen­triert. Dadurch gewinnt die Voraussage an Be­deutung, daß in den nächsten sechs Wochen, bis zur Konstituierung der neuen englischen Regie­rung, keine wesentliche Entscheidung über den abessinischen Konflikt erfolgen wird. Hitler stellt neue Forderungen Ein Abgesandter Lavals lernt denFriedenskanzler* kennen Paris.L'Oeuvre" meldet, daß eine Per­sönlichkeit aus der Umgebung L a v a l s, die eine Unterredung mir dem Reichskanzler Hitler hatte, von demselben sehr kühl ausgenom­men wurde. Hitler warte einstweilen ab und wolle sich z u n ä chst mit England eini­gen. Deutschland liege jetzt mehr an einer In­terpretierung des Locarno -Paktes. Deutschland stelle sich energisch gegen eine weitere Dauer der demilitarisierten Zone im Rheinlande und es sei bereits entschieden, daß es in K a r l s- r u h e und Düsseldorf Armeekorps errich­ten und sie nach der neuen Interpretierung des Locarno -Paktes dorthin entsenden werde.

Pessimismus warum! Der Mann, der so fragte, kam aus Deutsch­ land . Als wir ihm sagten, daß wir aus so und so vielen Gesprächen mit Besuchern von drüben den Eindruck gewonnen hätten, als ob sich, von den Leuten selbst unbemerkt, das System auch im Bewußtsein» im Denken und Empfinden der Men­schen stabilisiere, und daß es uns scheine, als ob auch politisch urteilsfähige und sozialistisch den­kende Arbeiter trotz scharfer kritischer Einstellung nicht an' ein Ende des braunen Systems in ab­sehbarer Zeit glaubten, sondern sich mehr oder minder resigniert mit seinem Bestände abfänden, erwiderte er bestimmt: Ganz und gar nicht! Er versicherte, daß man in Deutschland selb st viel optimistischer denke als man es im Ausland für möglich zu halten scheine. Ja, auch das hören wir oft. Wir sind immer von neuem überrascht von dem Optimismus, den die aus Deutschland kommenden Genossen mit­bringen, trotz allem, was sie zu berichten haben, und wir fragen uns jedesmal, woher sie diesen Optimismus nehmen. Nun, meinte unser Freund, da muß man sich erst darüber klar werden, worauf man hoffen will und darf. Der Mittelstand, das Kleinbür­gertum, die Bauernschaft sind nicht revolutionär, sind es nie gewesen. Der Kleinbürger schimpft und meckert und läuft im gegebenen, Falle mit dem Stärkeren. Die Schichten, die vom Kirchen­streit ünd ähnlichen Auseinandersetzungen in Mit­leidenschaft gezogen werden, sind nicht breit ge­nug: sie sind ohne revolutionäre Kraft. Trotzdem darf man die Bedeutung dieser verschiedenen Streitigkeiten nicht unterschätzen. Sie beschleuni­gen die innere Zersetzung und helfen den Boden lockern. Und die Arbeiterschaft? Die ist nicht gleichgeschaltet. Sie stellt sich schlafend. Die Arbeiter fügen sich den äußeren Formen, sie machen sie mit, weil sie nicht anders können, aber insgeheim lächeln sie einander verstehend zu. Die Arbeiterschaft wartet. Allerdings darf man, wenn man vonder" Arbeiterschaft sprechen will, einen wichtigen Um­stand nicht vergessen: sie wixd von den Maßnah­men des Regimes ünd deren Wirkungen ganz ver­schieden betroffen und reagiert verschieden dar­auf, je nachdem es sich um politisch aufgeklärte, ehemals organisierte Arbeiter handelt oder um frühere Indifferente, die dann blind im Heer­bann des braunen Regimes mitliefen. Aber auch dieses anfangs so bequem zu leitende Material ist nicht mehrzuverlässig". Es ist von den natio­nalsozialistischen Agitatoren auf eine primitive Art politisiert worden, und das beginnt jetzt viel­fach gegen den Willen des Regimes zu wirken- Auf keinen Fall kann das braune System von sich sagen, daß es die Arbeiterschaft für sich gewonnen hätte, auch wo es eine Zeit lang so scheinen mochte. Wohl hat besonders die Auf­rüstung und alles» was damit zusammenhängt vom Flugzeug bis zu den sogenannten Reichs­autostraßen, die ja in Wirklichkeit Heeresstraßen sind, manchen Arbeiter pach jahrelanger Erwerbs­losigkeit an den ersehnten Arbeitsplatz gebracht. Wenn aber dieser und jener in begreiflichem Egoismus anfänglich geneigt sein mochte, dafür manches andere mit in Kauf zu nehmen und dem Regime gegenüber sich still zu verhalten, sich ab­zufinden und einzufügen, so trifft jetzt auch das nicht mehr zu. Im Gegenteil: gerade in den Be­trieben der Rüstungsindustrie mit ihrer forcierten Prosperität beginnt die Arbeiterschaft Forderun­gen zu stellen, die da und dort schon in der Form früherer Lohnbewegungen Vertreten werden. Ge­rade das, was das Regime als Erfolg bucht und propagiert: daß esden Arbeitern Lohn und Brot gebracht" habe gerade das macht die Arbeiter, auf die es zutrifft, mutig. Es stärkt ihr Selbst- bewußtsein. Und das ist ganz natürlich, wie es umgekehrt begreiflich war, daß die,in jahrelan­ger Erwerbslosigkeit entstandene VerzweiflungS- stimmung manchen Arbeiter den national-sozia­ listischen " Versprechungen zugänglich gemacht hat. So ist alles in Fluß. Daraus erklären sich auch die mitunter einander völlig widerspre­chenden Beurteilungen der Chancen des Regimes, die man von Arbeitern, auch von früheren Funk­tionären der Arbeiterbewegung hören kann. Wichtig für die Zukunft des Regimes ist das Verhalten d e r n g e r e n G e-

Budget 8030 Millionen Kc Finanzminister referiert im Ministerrat