Einzelpreis 70 Hellar (•inechließlich 5 Heller Fortaf 1ENTRALORGAN DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRÜH. Redaktion und Verwaltung präg xil.fochova«2. TELEFON«77. HERAUSGEBER 1 SIEGFRIED TAUB. CHEFREDAKTEUR ! WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR, DR. EMIL STRAUSS, PRAG . 15 Jahrgang Dienstag, 12. November 1935 Nr. 263 Giftmischer Gestapo Zwei sensationelle Fälle— Die Seit dem Reichstagsbrandprozeß sind zwei Jahre verflossen, aber er ist noch lange nicht vergessen. Wohl das Auffallendste an ihm war das Berhalten Ban der LnbbeS. Den stets tief gesenkten Kopf hob er ein einzigesmal— als der Zeuge Graf Helldorf ihn anschrie:»So nehmen Sie doch den Kopf hoch, Mensch!,, D i e Stimme und das Kommando kannte der holländische Landstreicher— die rissen ihn sogar auS der tiefsten Lethargie. Und nur ein einzigeSmal hat er mehr gesagt, als daß er den Brand gelegt habe:.Als in Gegenwart der Nazizeugen der Vorsitzende Bänger ihm vorhielt, er könne eS doch nicht allein gemacht haben, wer denn noch mitgetan habe, da sagte Ban der Lubte:„Tas sollen die sagen..." In diesem Augenblick aber unterbrach der Präsident die Sitzung und nie mehr hat Lubbe den Satz, der ja eigentlich schon ausreichte, vervollständigen können. Die Berweigerung der Herausgabe>des Leichnams an die holländische Regierung hat jede Untersuchung verhindert, was etwa diesem Organismus eingeflößt worden sein mochte, das ihn fast willenlos gemacht hatte. Ausländische Aerzte vermuteten, eS sei daS Gift Skopolamin angewendet worden, das in geringerer Dosis solche Wirkung erzielt. Gangstermethoden der Nazi Haft in Deutschland Injektionen gemacht worden sind— womit weiß er nicht. Sein Zustand ist sehr ernst. Geistig ist er so gut wie tot. Bor einigen Monaten erkrankte unter den \ gleichen Erscheinungen wie KirinoviL der aus deutscher Haft zurückgekehrte Ingenieur Z« r o v e e. Er hatte eine Fabrik in Deutschland , ließ aber seine flugtechnischen Erfindungen in seiner tschechoslowakischen Heimat patentieren. Der AuS- bruch des Dritten Reiches veranlaßt ihn, seinen Wohnsitz wieder nach Prag zu verlegen. Bei einer Geschäftsreise nach Deutschland wurde er verhaftet und der Spionage beschuldigt. Man ließ ihn jedoch wieder frei. Der kerngesunde und urkräftige Mann erkrankte dann unter Anzeichen schwerer Welischer Depression und auf der Suche nach den Ursachen erfuhren die Aerzte, daß Zurover in der deutschen Haft Injektionen mit einem unbekannten Mittel erhalten hatte. Er ist daran gestorben. In beiden Fällen handelt es sich um Leute, von denen man wußte, daß man sie nicht dauernd in Deutschland behalten könne und daß ihr Tod iu der Haft nicht unbemerkt bleiben würde. Man wollte ihre Unterschrift auf Protokollen haben, die Geständnisse der Spionage enthalten. Beide hatten mit Spionage nicht das geringste zu tun. Ob es gelungen ist, sie zu„Geständnissen" zu bewegen, ist nicht bekannt. Wohl aber erfahren wir, daß vor einiger Zeit in einem Kreis hochgestellter Fachleute der deutschen Gegenspionage von Stechapfrlsaft gesprochen wurde, der als Mittel zur„Ueberführung" von Häftlingen gute Dienste leistet. Die medizinische Fachliteratur bezeichnet alS den wirksamen Bestandteil des Stechapfelsaftes daS D a t« r i n und dieses wieder als engen Verwandten des Skopolamins . Es führt eine gerade Linie von der Behandlung van der LubbeS zu den Injektionen an Zurovec und KirinoviL— die Straße jener Verbrecher, die sich als Retter der Menschheit vor Unkultur und Untermenschentum auSgeben. Run lenken zwei neue Fälle die samkeit wieder auf die Frage: Was geschieht mit Gefangenen in Deutschland , uuS denen man Geständnisse herauspreffen will, ohne daß sichtbare Spuren der dabei angewrndeten Mittel verbleiten? Im Militärspital zu Königgrätz befindet sich feit Wochen der Kapitän Kirinoviä. Im Frühjahr 1934 kam er bei einem Spaziergang in der Gegend von Rachod irrtümlich— oder auch durch eine Provokation— einige Schritte über die Grenze auf deutsches Gebiet. Er wurde sofort verhaftet und man hörte lange nichts mehr von ihm. Rach einiger Zeit wurde er ganz geheim wegen Spionage zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Die tschechoslowakische Regierung leitete Verhandlungen ein, die zu dem Abkommen führten, Kirinoviä gegen zwei wirkliche deutsche Spione, die hier verhaftet waren, auszutauschen. Um den Schein zu wahren, wurde Kirinoviö in einem zweiten deutschen Verfahren freigesprochen. Er kam nach Prag , wo ihn Fra « und Kind erwarteten. Am nächsten Tage fuhren sie zusammen nach Königgrätz . Alsbald zeigte der Offizier jedoch Zeichen einer schweren geistigen Depression, so daß er inS Krankenhaus gebracht werden mußte. Die Aerzte sind ratlos. Immerhin haben sie von Kirinoviä erfahren, daß ihm während der Generalstreik der englischen Bergarbeiter? London . In de« Grubenbezirken von ganz England begann gestern die Abstimmung über die Frage, ob zur Erreichung der Lohnforderungen ein Generalstreik der Bergarbeiter beschlossen werden soll. An der Abftim- tnung nehmen etwa 500.000 Mitglieder des britischen Bergarbeiter- verbandes teil. Die Abstimmung wird am Dienstag und am Mittwoch fortgesetzt. MU der Bekanntgabe des Ergebnisses wird für de« Mittwoch der kommenden Woche gerechnet. An diese« Tage wird der Vollzugsansschuß des Bergarbeiterverbandes in London zusammentreten, um Über die z« ergreifenden Maßnahmen Beschluß zu fassen. Italienische Erfolge an beiden Fronten Makalle und Gorrohai genommen- Verheerende Wirkung der Flugwaffe Der italienische Vormarsch hat im Norden und im Süden des Kriegsschauplatzes zwei wichtige Punkte erreicht. Die Nordarmee De Bono hat mit dem Korps Santini nun also wirklich M a k a l l e in Besitz genommen und ist dabei, die Höhen südlich der Stadt zu befestigen. Nach einer Meldung soll sie bis A n t a l o vorgedrun- gcn sein, nach einer anderen mit den Patrouillen 20 Kilometer südlich Makalle halten. Bon der Grenze stehen die Truppen Santinis nunmehr 100 bis 120 Kilometer entfernt, eine Strecke, die sie in etwa sechs Wochen zurückgelegt haben. Die Kolonnen des rechten Flügels der Armee De Bono hängen jetzt stark zurück und es scheint, daß die Italiener versuchen werden, sie nachzuziehen, ehe sie auf dem Hochplateau weiter in der Richtung auf Magdala vorgehen. Rach links bedürfen die Italiener einer baldigen Flankensicherung gegen die Danakilwüste, weil sie Gefahr laufen, durch einen Gewaltstoß aus dem Innern Abessiniens vom Hochland in die Wüste abgedrängt zu werden. Die Südarmee G r a z i a n i hat Gor- r o h a i genommen und damit den Schlüssel der Südprovinz Ogaden in die Hand bekommen. Gorrohai enthält wichtige Brunnen und sichert den Italienern damit einen rascheren Weitermarsch. Dagegen erwähnt der amtliche Heeresbericht nichts von der Eroberung von S a s a b e n e, die privat wiederholt gemeldet wurde, aber auf jeden Fall als unglaubhaft gelten darf. Denn Sasabene liegt ungefähr 180 Kilometer nordöstlich von Gorrohai, das seinerseits 200 Kilometer von der Grenze von Somaliland entfernt ist. Es ist ausgeschlossen, daß die Italiener in einem Tag 180 Kilometer zurückgelegt haben, wenn sie vorher zu 200 Kilometer sechs Wochen brauchten(bzw. noch weniger, da sie ja seit Jänner, seit dem Zwischenfall von Ual-Ual tief in abessinischem Gebiet standen). Auch die letzten Erfolge der Italiener bran- chen für Abessinien strategisch nicht als Niederlage aufgefatzt zu werden. Die Abessinier standen in Gorrohai angeölich mit 3000 Mann, in Makalle ebenfalls nur mit geringen Kräften, in beiden Orten also nur mit Vortruppen. Ihre Hauptkräfte versammeln sich in weiter zurücklie- grndett Räumen. Bedenllicher ist die taktische Erfahrung, daß der Widerstand der Abessinier in Gorrohai in einen panischen Zusammenbruch überging, als die Fliegerangriffe einsetzten. Die Abessinier hatten Gorrohai mit einem System von drei Grabenlirnien umgeben, die Unterstände und Maschinengewehrnrster hatten. Die Fliegerbomben aber haben in diesem System große Verheerungen angerichtet und die Abessinier, die ihre Befestigungen anscheinend als nutzlos erkannten, flohen, noch ehe die italienischen Sturmkolonnen ««rückten. Es zeigt sich also, daß die Abessinier auf Grund unzureichend verarbeiteter Lehren auS dem Weltkrieg mit einem veralteten Befestigungssystem arbeiten, das gegen Fliegerangriffe nicht schützt. Dazu kommt derMangelanAr- t i l l e r i e, insbesondere an Flugabwehrgeschützen bei den Abessiniern. Die Chancen deS Negus reduzieren sich immer mehr auf die von uns seit KriegSbeginn als einzig möglich hingestellte Strategie eines langsamen Rückzuges in das wenig wegsame gebirgige Innere, um Zeit zu gewinnen. I» dieser Zeit können sich die politischen Schwierigkeiten Ita liens auswirken, wird der Nachschub die Italiener vor ernste Probleme stellen und der Negus hat die Möglichkeit, seine Trnppen besser auszn- bilden, sich vielleicht auch Spezialwaffen in genügender Zahl zu sichern. Allerdings mutz der Negus versuchen, bis zum Beginn der Regenzeit im kommenden Frühjahr durchzuhalten. Sollte er vorher Addis Abeba verlieren so würde Abessinien wohl innerlich zusamckenbrechen. Protest an die Sanktionsstaaten Rom . Die Regierung, hat Sonntag, abends an ihre diplomatischen Vertretungen in sämtlichen Sanktionsstaaten eine sehr ausführliche Protestnote gegen die Sanktionen gerichtet, die auftragsgemäß am Montag den entsprechenden Regierungen überreicht worden ist. Der Wortlaut der Protestnote wird in Rom heute veröffentlicht. Kündigung der Handelsverträge? London . Privaten Nachrichten aus Rcm zufolge erwartet man in London , daß am Tage der Durchführung der Sanktionen Italien die Handelsverträge mit allen Ländern kündigen werde, die die Sanktionen gellend machen werden« Sinkende Lebenshaltung In Deutschland In den letzten Wochen werden von den nationalsozialistischen Ministern des Deutschen Reiches bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten Reden gehalten. Die Auslandpreffe ist nicht imstande, dieses Ansteigen der Redeflut lückenlos zu registrieren, obwohl die Kenntnis dieser ministeriellen Aeutzerungen zur Beurteilung der Entwicklung der Hitlerdiktatur beachtenswert ist. Entspringen doch diese zahlreichen Reden der jüngsten Zeit nicht ganz einer freiwilligen Initiative der Hitler, Göring , Schacht, Goebbels usw., sonder« nach dem Zwang, den durch die Entwicklung skeptisch gewordenen Volksschichten etwas sagen zu müssen. Denn darüber kann gar kein Zweifel bestehen, daß Deutschland und das deutsche Volk ganz anders in den dritten Hitlerwinter hineingehen, als die nationalsozialistischen Diktatoren es vorausgesagt haben. JmHerbstdesLah« res 19 3 3 knistert es im deutschen Wirtschaftsgebäude und es bereitet die grössten Schwierigkeiten eine Häufung von Zusammenbrüchen grosser Unternehmungen zu vermeiden.' Auch die leichtgläubigen Opfer der nationalsozialistischen Demagogen, die die Versicherung von dem dauernden gesunden Aufstieg der Wirtschaft und des.Volles ernst genommen haben, beginnen einzusehen, dass sie arg getäuscht wordyr sind. Die Staatskonjunktur, die zft einem erheblichen Teile den Zwecken der Aufrüstung diente, und verschiedenen Wirtschaftszweigen einen gewissen Auftrieb gegeben hat, geht ihrem Ende entgegen. Die Jnitialzündung, die sie auslösen sollte, ist nicht eingetreten, eine allgemeine Wirtschaftsankur- belungi st nichterfolgt. So kommt es nun, wie es kommen muhte. Da die riesigen Mittel, mit denen seinerzeit die Staatskonjunktur in Szene gesetzt und dann länger als zwei Jahre durchgehalten wurde, nicht aus einem unversiegbaren Quell fliehen, muhte der Augenblick kommen, in dem die öffentlichen Aufträge eingeschränkt oder für einzelne Industriezweige ganz eingestellt werden würden. Er ist jetzt da, obwohl das Regime versucht hat, ihn durch eine beispiellose Schuldenwirtschaft immer wieder hinauszuschieben. Und sofort zeigt sich, dass die Blüte der deutschen Wirtschaft nur eine Scheinblüte war. Mit derTextilindustrie, die infolge der Rohstoffknappheit an der Staatskonjunktur nur ganz geringen Anteil hatte, winden sich jetzt die graphische Industrie, die R a d i o i n d u st r i e» die B a u i n duft r i e in einer neuenKrise, die auch andere Zweige der Wirtschaft erfasst hat. Als Beispiel dafür sei nur angeführt, dqh das gesamte F r e m- denverkehrsgetzoerbe sich in seiner Existenzgrundlage erschüttert fühlt und dass dafür ganz offen die nationalsozialistische Fremden- Verkehrspolitik verantwortlich gemacht wird. In der letzten Nummer des Wirtschaftspolitischen Dienstes war zu lese«: „Am 12. Februar 1936 werden zwei Jahre seit dem Start der ersten„Kraft-durch- Freude"-Fahrt vergangen sein. Die kurzen zwei Jahre haben genügt, um das gesamte deutsche Fremdeuverkehrsgewerbe bis in die letzten Wurzeln zu erschüttern. Seien wir ehr lich, es ist so. Die Krise ist im Fremdenverkehrsgewerbe auf der ganzen Front ausgebrochen." Es hat im Ausland berechtigtes Aufsehen erregt, als vor einigen Tagen der Leiter eines der grössten Konzerne der deutschen Schwerindustrie, Peter K l ö ck n e r, in der Generalversammlung seines Unternehmens, der Klöckner-Werke , das bevorstehende Ende der Staatskonjunktur für die Eisen- und Stahllndustrie ankündigte. Er verwies dabei darauf, daß die Reichsbahn ihre laufenden Bestellungen bereits eingeschränkt habe, daß die in Angriff genommenen Großbauten ihrem Ende entgegengehen und dass es fraglich sei, ob im Frühjahr neue Bauten durchgeführt würden. Das Barometer für die Jnlandsbeschäf- tigung,'so sagte der Konzernbaron Klöckner, sei deshalb ständig unsicher. Wenn man auch annehmen darf, daß der Schwerindustrie noch. für eine längere Zeit Staatsaufträge für Rüstungszwecke zugehen
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15 (12.11.1935) 263
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